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Syrien

Der Krieg, seine regionalen und globalen Auswirkungen

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 19. Oktober 2015, Infomail 846, 27. Oktober 2015

1. Der Bürgerkrieg in Syrien wirkt sich von der anfangs lokalen auf regionaler und schließlich auch auf interkontinentaler Ebene aus. Millionen fliehen vor der unerträglichen Zerstörung durch die Bomben des Assad-Regimes, aber auch vor den reaktionär islamistischen Kräften des Islamischen Staates und zuletzt auch vor der direkten Einmischung von Truppen des US-amerikanischen und russischen Imperialismus. Die Schätzungen belaufen sich auf 220.000 bis 310.000 Tote und 7,6 Millionen Vertriebene, von denen 4,18 Millionen aus Syrien geflohen sind, 2,07 Millionen Menschen in die Türkei und über eine Million in den Libanon. Von den 432.761 Flüchtlingen, die bis zum 10. September über das Mittelmeer und die Ägäis ausreisten, kam die Mehrheit aus Syrien.

2. Auslöser für diese ungeheure menschliche Tragödie war das diktatorische Regime von Baschar al-Assad. Sie wurde noch verschlimmert durch das Eingreifen konterrevolutionärer Regionalmächte wie Türkei, Saudi-Arabien und Iran und zunehmend durch die rivalisierenden imperialistischen Mächte USA und Russland. Zwei reaktionäre Resultate sind möglich: eine direkte Konfrontation dieser beide Atommächte mit unvorhersehbaren Folgen oder ein Abkommen, um die Reste der syrischen Revolution zu ersticken und eine konterrevolutionäre Regelung für die ganze Region durchzusetzen. Nach anfänglicher Sympathie für Flüchtlingskinder, versinnbildlicht in dem Foto des kleines Jungen, der an der europäischen Küste ertrunken war, haben die Regierungen der Europäischen Union, allen voran Ungarn, begonnen, ihre Grenzen dicht zu machen und Metallzäune errichtet. Ihre Medien sind in der Berichterstattung auf Begrifflichkeiten wie „Schwärme”, „Flut”, „Invasion” verfallen. In Verbindung damit steht der Handel von EU und der türkischen Regierung über eine Blockierung und Verringerung der Zahl der Flüchtlinge, die über die Türkei nach Europa entkommen wollen.

3. Russland hat massiv eingegriffen, angeblich um die islamistischen Terroristen zu bekämpfen, in Wahrheit jedoch hat die Putin-Regierung eine volle Offensive im Norden um Aleppo gefahren, und nicht nur syrische, sondern auch iranische und Hisbollahtruppen mobilisiert und damit weitere 70.000 Menschen zur Flucht genötigt. Russland interveniert v.a., um Assads Diktatur aufrechtzuerhalten, die in diesem Jahr zu wanken schien, und sie zu ertüchtigen, Gegenangriffe auf die nicht-islamistischen und sogenannten gemäßigten islamistischen Rebellen, weniger den Islamischen Staat, zu lancieren. Die Westmächte USA, Frankreich und Britannien haben inzwischen mit der Planung verstärkter Luftangriffe auf syrisches Gebiet unter dem Vorwand begonnen, dass dies den Flüchtlingen helfen oder den Auszug aus Syrien und die Einwanderung nach Europa stoppen könne.

4. Dieses Chaos verschärfen noch die Regionalmächte wie Türkei, Saudi-Arabien und Katar, die auf Seiten der Rebellen stehen, und auf Seiten des syrischen Regimes der Iran und die Hisbollah, ein Staat im Staat Libanon, sowie die irakisch-schiitischen Truppen. In der Türkei hat Premierminister Recep Tayyip Erdogan von der Regierungspartei AKP immer ein Auge zugedrückt, wenn Kriegsmaterial und Kämpfer des Islamischen Staates türkisches Gebiet passierten, um gegen die KurdInnen in Kobanê eingesetzt zu werden. Andererseits gestattete er den USA die Nutzung des NATO-Luftstützpunkts Incirlik für Luftangriffe in Syrien. Als Gegenleistung bewahrten die USA Stillschweigen über den erneuten Krieg des türkischen Staats gegen die PKK-Guerilla und die eigene kurdische Zivilbevölkerung. Selbst die Welle von Attacken gegen die Büros und Treffen der legalen pro-kurdischen HDP-Partei im Vorwege der Wahlen im November wurden mit fast völligem Schweigen übergangen. Ebenso wurde keine Kritik von westlicher Seite laut an den Massakern durch Attentate in Suruç und Ankara, bei denen insgesamt etwa 150 Menschen ihr Leben lassen mussten, wo die Regierung nichts tat, die Attacken zu verhindern oder friedliche DemonstrantInnen zu schützen. All dies geschieht, obgleich die kurdische PYD-Streitmacht in Rojava praktisch die einzige ist, die wirkungsvoll den Terror der Verbände des Islamistischen Staates bekämpft. Diese Tatsachen entlarven den ungeheuren Betrug des „Krieges gegen den Islamischen Staat”, den die Imperialisten vermeintlich führen.

5. Israel unterstützt weiterhin die Seite, die die größte Bedrohung für den eigenen Staat oder seine Streitmacht schwächen kann, und scheint nun mit Russland ins Geschäft gekommen zu sein seit dessen Großoffensive in Syrien. Die israelische Regierung nutzt unterdessen den Krieg in Syrien vor allem als Ablenkung von der Verschärfung ihrer Angriffe auf PalästinenserInnen in Jerusalem und der West Bank und provoziert damit eine dritte Intifada-Gegenbewegung. Die Zahl der getöteten PalästinenserInnen beträgt das Fünffache der getöteten Israelis. Westliche Medien reden jedoch fast ausschließlich von „terroristischen” Messerattacken und Steinwürfen der PalästinenserInnen.

6. Der Islamische Staat (IS, ISIS, ISIL) ist eine Gräuelgeschichte für beide Lager, teils Resultat ihrer medienstrategischen Verwertung ihrer eigenen barbarischen Untaten. Natürlich werden genauso barbarische Vorgehensweisen seitens der USA, von Russland oder gar die der Assad- oder Saudi-Regierung nicht annähernd so ausgebreitet. ISIS konnte derart wachsen, weil es trotz aller gegenteiligen Bekundungen nicht Hauptzielscheibe all dieser Mächte war. Einige wie das syrische Regime und die türkische Regierung haben lange eine bestenfalls wohlwollende Ignoranz dem ISIS gegenüber an den Tag gelegt, solange deren Aktionen sich gegen ihre eigentlichen Hauptfeinde, die Freie Syrische Armee FSA und deren Verbündete, oder die KurdInnen in Rojava (PYD) richten. Ein Krieg im Namen des Kampfes gegen diesen wirklich ekelhaften Kalifat-Spuk ist für sie nichts anderes als ein Deckmantel für die weit auseinander liegenden Ziele zweier imperialistischer Lager und deren zunehmend unabhängiger und oftmals zuwider handelnden Verbündeten.

7. Keine der von außen eingreifenden Kräfte tut dies zur Unterstützung der Ziele der ursprünglichen demokratischen Erhebung von 2011. Der syrische Frühling begann am 15. März 2011 und war eine wahrhaft von der Bevölkerung getragene revolutionäre Massenerhebung, die ab Juni 2011 gezwungen war, sich gegen die Massaker und Gefangenenfolter der syrischen Regierung bewaffnet zur Wehr zu setzen. Ab Juli 2011 hatten abtrünnige Offiziere die Freie Syrische Armee formiert, und örtliche Verteidigungsverbände und demokratische Ausschüsse bildeten sich in den von der Regierung losgelösten Gegenden. Doch ausländische Einmischung ließ nicht lange auf sich warten. Die Türkei unterstützte ursprünglich die Freie Syrische Armee und half bei ihrer Organisierung. Anfang 2012 endete die Periode, in der die Massenmobilisierung der Zivilbevölkerung möglich war, und der Bürgerkrieg entbrannte voll. Saudi-Arabien und Katar, deren Regierungen Ziele und erbitterte Feinde der Aufstände des arabischen Frühlings waren, schritten in Syrien ein und förderten sunnitisch-salafistische Militärformationen, Saudi-Arabien unterstützte Ahrar al-Sham und Katar die al-Nusra-Front. Diese und andere islamistische Gruppen konnten die Vorherrschaft in den nördlichen befreiten Zonen um Idlib und Aleppo an sich bringen, während die FSA weiter den Süden um Daraa, der Wiege der syrischen Revolution, und den Streifen entlang der libanesischen Grenze beherrscht.

8. Die FSA wird beschränkt auch von den USA und anderen westlichen Staaten begünstigt, aber nicht in dem Maße, wie die radikal-islamistischen Gruppen Unterstützung durch die Saudis und Kataris erfahren, was auch der Hauptgrund für deren zunehmendes Gewicht innerhalb der rebellierenden Kräfte ist. Viele Kämpfer oder ganze Einheiten haben sich auf diese Seite geschlagen, v. a. um Waffen in die Hand zu bekommen, weniger aus ideologischen Gründen. Sie und andere weltlichere Teile der Rebellen, die Illusionen in die demokratische Glaubwürdigkeit der USA und der EU hegen, haben wiederholt diese Mächte aufgerufen, entschlossener auf ihrer Seite einzugreifen. Doch die Obama-Regierung fordert zwar scheinbar kriegerisch die Entfernung von Assad aus dem Amt, will aber um jeden Preis die bestehende Staatsmaschinerie der ba’athistischen Diktatur erhalten, denn sie fürchtet die Wiederholung der Zerstörung des Saddam-Regimes im Irak und deren Folgen. Derselben Logik folgt die Stützung von Präsident und Feldmarschall Abd al-Fattah as-Sisis militärisch-polizeilicher Diktatur in Ägypten und des höchst unterdrückerischen Saudi-Clans, der weiter massenhaft Grausamkeiten im Jemen begeht.

9. Wladimir Putins autoritäres Regime in Russland wird von einigen, die sich als links verorten, gelobt für dessen „Widerstand gegen den US-Imperialismus”. Das ist der Gipfel der Narrheit. Es ist zwar wahr, dass Russland militärisch und wirtschaftlich weit schwächer ist als die USA und deren NATO-Partner, und dass die USA die NATO-Mitgliedschaft aggressiv in Osteuropa vorangetrieben haben durch die Installierung einer rechtsnationalistischen Regierung in Kiew mittels eines Putsches, dessen Kampfeinheiten von faschistischen Milizen angeführt wurden, aber das macht Putin keineswegs zu einer Galionsfigur des Antiimperialismus.

10. Putins Motive in Syrien sind genauso imperialistisch wie die der USA, nur etwas bescheidener und konservativer, auch wenn die westlichen Medien daraus eine neue Kalte-Kriegs-Hysterie machen wollen. Als langfristiger Verbündeter ist das Assad-Regime eine von wenigen verbliebenen Stellungen, und in Syrien liegt mit Tartus der einzige Flottenstützpunkt außerhalb russischer Grenzen. Außerdem hat Russland auch Grund zur Furcht, dass die US-Politik demokratisch etikettierte Revolutionen (der Farben- oder Blumenbezeichnungen) schürt, genau wie vor dem Alptraum einer wirklichen Revolution in Russland selbst, die sich an Putins korrupter und repressiver Herrschaft entzünden könnte. Stabilität im Nahen Osten ist deswegen hoch angesiedelt in Putins Politik, und darum sucht er auch gute Beziehungen zu Ägypten und Israel, nicht ohne Erfolg.

11. Wie sollte die Politik von revolutionären SozialistInnen und die aller Teile der ArbeiterInnenbewegung in der syrischen Krise, zu den imperialistischen Interventionen, den aktuellen wie kommenden, und deren Folgen wie der Flüchtlingskrise in Nahost und Europa aussehen? Zuallererst dürfen wir weder Russlands, US-Interventionen oder solche europäischer Mächte oder Kriegstreibereien im Land unterstützen. Wir sollten zum Rückzug all ihrer Truppen aus der gesamten Region aufrufen. Zweitens sollten wir ebenso die Einmischung von Seiten der Türkei, des Iran, von Saudi-Arabien, Katar, Irak und Jordanien usw. und deren Hilfstruppen verurteilen und ihren sofortigen Rückzug fordern. Wir sollten aber weiterhin jene unterstützen, die die Assad-Regierung stürzen wollen und sie durch ein demokratisches Regime ersetzen wollen, das die Rechte aller ethnischen und religiösen Minderheiten schützt und der ArbeiterInnenklasse Spielraum lässt, ihre Parteien und Gewerkschaften zu organisieren, um für ein sozialistisches Syrien und einen sozialistischen Nahen Osten zu kämpfen.

12. Die Tragödie des ersten Stadiums der syrischen Revolution war, dass die RevolutionärInnen außerstande waren, die Vorherrschaft der ba’athistischen Organisationen über die Masse der ArbeiterInnenklasse bzw. ihre Kontrolle über ihre soziale Basis unter den ethnischen Minderheiten zu brechen. Wäre ihnen dies gelungen, hätten sie rascher und lückenloser Assads Streitkräfte untergraben können. Die syrische Revolution erlebte dieselben Schwierigkeiten wie der gesamte arabische Frühling. Ein echter Massenaufstand der Jugend und militanter Teile der ArbeiterInnenklasse traf auf eine scharfe Krise der proletarischen Führung. Die winzigen Gruppen von mutigen revolutionären SozialistInnen, die überlebt hatten und sich unter der vom Imperialismus gestützten Diktatur neu zu formieren anfingen, waren unfähig, Masseneinfluss zu erlangen für ein Programm, das die ArbeiterInnenklasse in den Mittelpunkt stellte und sozialistische wie auch demokratische Ziele verfocht. Der arabische Frühling bedurfte, und das gilt auch für den Widerstand gegen die platzgreifende Konterrevolution, einer revolutionären Partei, die diese Aufgabe erfüllen kann. Die Kader dafür sind zweifelsfrei unter den KämpferInnen und widerständischen Gemeinden in Syrien und in der befreiten Zone der KurdInnen vorhanden, ebenso wie unter der riesigen neu geschaffenen syrischen Diaspora.

13. Da Syriens Freiheit nur in einem Nahen Osten gesichert sein kann, der von den gegenwärtigen Herrschern wie auch von ihren imperialistischen Beschützern befreit wird, müssen Linke überall den Kampf der KurdInnen in Syrien und der Türkei um das Recht auf Selbstbestimmung, frei von allen Zwängen, in den Blickpunkt rücken. Wir müssen weiter den Widerstand gegen alle Interventions- und Okkupationsarmeen unterstützen, z. B. im Jemen. Wir müssen den Widerstand gegen die as-Sisi-Diktatur in Ägypten unterstützen, angespornt durch den massiven Boykott gegen den Wahlbetrug, der anzeigt, dass die Illusionen in seine Regierung schnell schwinden. Wir müssen die türkischen und kurdischen ArbeiterInnen und Jugendlichen gegen die zunehmend repressive AKP-Regierung verteidigen. Sollte es ihm nicht gelingen, die WählerInnen einzuschüchtern, damit sie ihm eine Mehrheit verschaffen, droht wirklich ein Notstand oder ein „präsidialer Putsch”. Dagegen muss Widerstand geleistet werden. Außerdem müssen wir auch den PalästinenserInnen in ihrem Kampf gegen die jüngste Phase zionistischer Repression und des Landraubs beistehen.

14. In Europa, wo eine Million Flüchtlinge bis Jahresende ankommen könnten, müssen wir offen und unzweideutig sagen: öffnet die Grenzen für all jene, die Asyl suchen, versorgt sie mit Wohnungen und Arbeit und begrüßt sie herzlich in der ArbeiterInnenbewegung überall in Europa. Alle Kämpfe des Nahen Ostens sind miteinander verzahnt und zeigen die Notwendigkeit, aus ihnen die Kräfte einer neuen Fünften Internationale, einer Weltpartei der ArbeiterInnenklasse, zu schaffen.

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