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EU und die Flüchtenden

Ende der “Willkommenskultur”

Jürgen Roth, Neue Internationale 203, Oktober 2015

Anders als 1992 fanden sich Mitte September 2015 tausende freiwillige HelferInnen, die sich um die Versorgung der Flüchtlinge sehr engagiert kümmerten. Erleichtert wurde dies sicher durch eine im Vergleich zu damals entspanntere Wirtschaftslage. 1992 befanden sich die neuen Bundesländer durch den Wiedereinzug des Kapitalismus in einem tiefen, krisenhaften Umbruch. Damals erreichte die Zahl der AsylbewerberInnen ein Hoch von 440.000, das aber 2015 deutlich übertroffen werden wird.

Es ist allerdings pure Heuchelei der Regierung, sich eine neue „Willkommenskultur“ zuzurechnen. Diese ist ausschließlich dem Engagement v.a. der Ehrenamtlichen zu verdanken. Die Aussetzung des Schengen-Abkommens und der Dublin-Verordnung währte nur kurz. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt werden, so zuletzt in Wertheim und Bremen-Nord. Der rassistische Mob, z.B. Pegida, erhält wieder Zulauf.

Die Flüchtlingspolitik der europäischen Staaten …

Deutschland und Österreich haben Schengen wieder in Kraft gesetzt und den Zugverkehr nach Ungarn bzw. Salzburg eingestellt. Die ungarische Grenze zu Serbien ist bis auf ein zeitweiliges Schlupfloch bei Röszke durch einen Zaun abgeriegelt. Ungarn plant ebenfalls einen Zaun an der rumänischen Grenze, die noch vorhandenen Lücken zu Kroatien sollen geschlossen werden. Hier gab es bereits Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten, ebenso zwischen Serbien und Kroatien, wo ein Handelsembargo verhängt wurde. Auch Slowenien hat seine Grenze zu Kroatien dicht gemacht.

Asylsuchende, die seit der ungarischen Grenzschließung den Weg durch Kroatien einschlagen, kommen von dort nicht weiter nach Westen. Bulgarien hat seine Grenze zur Türkei hermetisch abgeriegelt. Vergessen wir nicht die spanischen Exklaven in Marokko, die schon länger genauso befestigt sind. In einigen Staaten übt das Militär Grenzschutzaufgaben aus.

Das Programm EUNAVFOR tritt in seine 2. Phase, in der jetzt auch Schlepper bis an die libyschen Hoheitsgewässer verfolgt und gestellt werden. Die 1. Phase diente nur der Beobachtung und Seenotrettung. Ein Eindringen in die libysche Drei-Meilen-Zone bleibt EUNAVFOR Bravo 2 vorbehalten. Hierzu braucht die EU allerdings die Zustimmung seitens einer libyschen Zentralregierung, die praktisch nicht existiert, oder ein UN-Mandat.

Die EU-Innenministerkonferenz hat am 22. September die Umverteilung von 120.000 Flüchtenden auf alle EU-Länder gegen 4 Stimmen beschlossen (Rumänien, Slowakei, Tschechien, Ungarn). Gegen diese mit „qualifizierter Mehrheit“, nicht wie üblich im Konsens getroffene Entscheidung will die Slowakei klagen. Details bleiben offen: z.B. ob Länder sich von der Flüchtlingsaufnahme freikaufen können oder „Strafzahlungen“ leisten müssen, wenn sie keine Geflüchteten aufnehmen.

Der Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs hat 2 Tage später 1 Mrd. Euro für Einrichtungen wie das Welternährungsprogramm locker gemacht, die syrischen Flüchtigen zugute kommen sollen. Die EU-Kommission kritisierte einige Mitgliedsstaaten, die ausgerechnet jetzt Hilfszahlungen für das Welternährungsprogramm um bis zu 99% gekürzt haben. Die „Frontstaaten“ an den Außengrenzen sollen mehr Unterstützung bei der Registrierung und Identifizierung erhalten. So sollen bis Ende November solche „Hotspots“ in Griechenland und Italien eingerichtet werden. Härtere Grenzkontrollen sollen eingeführt und mehr Personal für die zuständigen EU-Behörden soll eingestellt werden. „Auswärtige“ Hilfe für Flüchtlinge soll auch heißen, sich verstärkt um ein Ende des Kriegs in Syrien zu kümmern - zu diesem Zweck mit Assad zu reden, wird nicht mehr ausgeschlossen.

Das Meiste dient also der Fluchtabschreckung. Die Schutzsuchenden werden weiter auf Schleuser angewiesen sein, denn sichere Fluchtwege sind unerwünscht. Keine einzige deutsche Botschaft in Nahost stellt z.B. für Flüchtige Visa oder Asylanträge aus!

… und der BRD

Merkels „Einladung“ an die syrischen Flüchtlinge Ende August mobilisierte Hunderttausende, ohne dass die Bundesregierung Rücksprache mit den Verantwortlichen in jenen Ländern genommen hätte, die auf dem Weg ins gelobte Deutschland durchquert werden müssen. Ebenso selbstherrlich wurde dann auch gleich das Ende der Freizügigkeit und die Einführung von Grenzkontrollen verordnet.

In Griechenland, Mazedonien, Österreich, Serbien und Ungarn spüren PolitikerInnen, Bevölkerung und FlüchtlingshelferInnen, wer in Europa das Sagen hat. Dublin-Verordnungen, deren Außerkraftsetzung und Wiedereinführung gehen vom Zentrum aus, die Peripherie muss die Folgen ausbaden. Gegen das rechtspopulistische, rassistische Orban-Regime in Ungarn den moralischen Zeigefinger zu erheben, steht der Merkel-Regierung als letzter zu. Damit wollte sie nur ihr humanitäres Image aufpolieren.

Der Bau des 175 km langen Grenzzauns war und ist so rassistisch wie EU-konform. So tritt die ganze Heuchelei der EU-Flüchtlingspolitik offen zutage, wenn sich Deutschland als Wohltäter feiern lässt, aber jeden einzelnen Flüchtigen im Schengen-Gebiet, der aufgegriffen wird, ins Land des EU-Ersteintritts abschieben darf, z.B. nach Ungarn.

Die ganze Diskussion um eine gerechte  Verteilung von Geflüchteten in Europa, wie sie in Brüssel monatelang auf Druck Deutschlands und Österreichs geführt wurde, ist ein weiteres Beispiel für Heuchelei. Sie geht deshalb am Kern des Problems vorbei, weil sie die sozialökonomischen Verhältnisse außer Acht lässt. Denn das Zielland der meisten Flüchtigen ist Deutschland, weil hier Löhne, Sozialleistungen und die Grundversorgung bei der Ankunft höher sind als in Osteuropa. Flüchtlinge lassen sich von einer freundlichen Behandlung in Serbien ebenso wenig zu einem Aufenthalt verlocken, wie sie sich vom rassistischen Mob in Deutschland abschrecken lassen. In diesem Sinn hat Orban Recht, wenn er vom Flüchtlingsproblem als einem „deutschen Problem“ redet, dem Länder wie Ungarn Abhilfe verschaffen sollen. Das entschuldigt natürlich seine rabiate rassistische Politik überhaupt nicht, zeigt aber in der Flüchtlingsfrage (wie schon bei der griechischen Schuldenkrise), wer die Peitsche schwingt und wer sich vor ihr ducken muss.

Eine nüchterne Betrachtungsweise der jüngsten Flüchtlingsbewegungen legt die OECD in einer Migrationsstudie an den Tag. Sie schätzt die diesjährige Zuwanderung durch Asylsuchende in die EU-Länder auf 1 Promille der Bevölkerung, was eigentlich niemanden „überfordern“ sollte. Die Schweiz verzeichnete über Jahre eine viel größere Zuwanderung. Allerdings konzentriert sich diese in der EU auf wenige Länder: Deutschland, Österreich, Schweden.

Von den rund 800.000 geschätzten AsylbewerberInnen haben laut Studie 300.000 bis 350.000 eine dauerhafte Perspektive in Deutschland. 600 Stunden Sprachunterricht reichen aber nicht für eine dauerhafte Integration. Komplexe Integrationskurse in Skandinavien dauern zwei bis drei Jahre oder länger, je nach Qualifikation. Im Durchschnitt hat es in europäischen Ländern fünf bis sechs Jahre gebraucht, bis die Mehrheit der Flüchtlinge in Beschäftigung war. ZuwandererInnen sollten sich überdies dort ansiedeln, wo es Beschäftigung gebe, nicht dort, wo der Wohnraum günstig sei. Ein weiteres Beispiel für Einseitigkeit und Heuchelei in der bundesdeutschen Immigrationsdebatte ist die oft verschwiegene Tatsache, dass es allein im letzten Jahr rund eine halbe Million ZuwandererInnen aus anderen EU-Ländern im Rahmen der Arbeit„nehmer“freizügigkeit gab. Diese Entwicklung wird auch in diesem Jahr anhalten, ist aber kein Gegenstand des Anstoßes. Auf diese Weise kommen also dauerhaft weit mehr Menschen in die BRD als Geflüchtete.

Bund-Ländergipfel: reaktionärer Flüchtlingsdeal

Am 24. September einigten sich Bund und Länder auf ihrem Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt auf ein Maßnahmepaket. Albanien, Kosovo und Montenegro zählen jetzt zu sicheren Herkunftsländern. Der Zugang zum Arbeitsmarkt soll allerdings für diese Gruppe erleichtert werden. Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrichtungen sollen „soweit möglich“ kein Bargeld mehr erhalten. Ausreisepflichtige müssen mit erheblichen Leistungsminderungen rechnen. Die Gesetzesänderungen sollen im Eiltempo durch Bundestag und Bundesrat gejagt werden und zum 1. November in Kraft treten.

Die in neun Landesregierungen sitzenden Grünen werden aller Wahrscheinlichkeit nach das Paket in der Länderkammer nicht blockieren, so eine gemeinsame Erklärung grüner SpitzenpolitikerInnen zum Gipfel. Der Bund will nämlich ab 2016 670 Euro pro AsylbewerberIn und Monat an die Länder vom Tag der Registrierung bis zum endgültigen Bescheid überweisen. Man geht von einer durchschnittlichen Verfahrensdauer von 5 Monaten aus. Die Summe soll sich auf 4,1 Mrd. Euro belaufen, für das laufende Jahr soll es 2 Milliarden extra geben. Gerechnet wird mit 800.000 Asylanträgen. Zudem gibt der Bund 2016 350 Mill. Euro für minderjährige Geflüchtete und 500 Millionen für den sozialen Wohnungsbau aus - ein Tropfen auf den heißen Stein, denn derzeit schrumpft die Zahl der Sozialwohnungen um 100.000 jährlich, weil bei ihnen die Sozialbindung ausläuft.

Statt „Willkommenskultur“ lautet das Motto „kontrollierte Zuwanderung“, die den „Flüchtlingsstrom“ gemäß den Bedürfnissen des Kapitals regulieren soll: die Fratze von  Imperialismus und Rassismus mit „menschlichem Antlitz“.

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Nr. 203, Oktober 2015
*  Refugees: Offene Grenzen statt rassistischer Selektion
*  Aktionseinheit: Antirassistisches Bündnis aufbauen!
*  EU und die Geflüchteten: Ende der "Willkommenskultur"
*  Rechte in Deutschland: Viele Führerlein kämpfen um den Mob
*  Gewerkschaftstag: IG Metall auf dem Prüfstand
*  Griechenland: Tsipras' Sieg - Niederlage für die ArbeiterInnenklasse
*  Brasilien: Putsch gegen die ArbeiterInnenklasse
*  Corbyns Sieg in der Labour Party: Chance für die revolutionäre Linke
*  Pakistan: Frauen in der Hausindustrie
*  TTIP: Wirtschafts-NATO stoppen!