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Refugees

Offene Grenzen statt rassistischer Selektion!

Jürgen Roth/Martin Suchanek, Neue Internationale 203, Oktober 2015

Wer glaubte, dass Angela Merkel, Sigmar Gabriel oder gar die ganze Regierung auf einen „humanitären“ Kurs umgeschenkt seien, sah sich rasch eines Besseren belehrt.

Von Seiten der Regierung und der Behörden war die „Willkommenskultur“ ohnedies nie ernst gemeint, allenfalls ein Mäntelchen für eine kontrollierte, selektive Zuwanderung.

Es sind vielmehr Tausende ehrenamtlicher und freiwilliger HelferInnen, die den Geflüchteten oft schneller und effektiver mit Rat und Tat zur Seite stehen als die zuständigen Ämter und denen wir großen Respekt zollen. Doch dieses humanitäre Engagement stößt früher oder später auch an Grenzen. Zum einen durch die begrenzten Mittel aus Spenden, zum anderen durch die Machtlosigkeit gegen die Diskriminierung der Asylsuchenden durch den Staat und auf dem Arbeitsmarkt und der Beschränkung ihrer demokratischen Rechte.

Humanitäre Leistungen können und dürfen kein Ersatz für die Finanzierung durch den Staat sein. Aber es steckt ein wichtiger, unterstützenswerter Impuls hinter den humanitären Aktionen. Es darf  der organisierten ArbeiterInnenbewegung nicht egal sein, wenn Menschen dazu beitragen, dass diejenigen, die hierzulande weit überwiegend ein Schicksal als Lohnabhängige, also als Mitglied unserer Klasse, erwartet, ein etwas weniger elendes Leben führen können, so wie es uns nicht egal sein darf, ob sie wieder abgeschoben und dem Verrecken in ihrer Heimat preisgegeben werden oder gemeinsam mit uns ein Bleiberecht durchsetzen können.

Staatlicher Rassismus und Selektion

Mit der Inkraftsetzung der Grenzkontrollen werden natürlich nicht die neu ankommenden Flüchtlinge unmittelbar gestoppt. Merkel, Juncker und Co., SPD, Teile der „Volksparteien“, Grüne wie letztlich auch die Europäische Linkspartei wollen weiter als VertreterInnen einer „humanitären“ Flüchtlingspolitik gelten.

Aber es darf nicht „zu viel“ und „zu unkontrolliert“ sein. Der Staat will sich sein Recht nicht nehmen lassen, zu selektieren, wer als „Flüchtling“ gilt und wer als „Betrüger“, als marodierender „Wirtschaftsflüchtling“ abgeschoben werden soll.

Daher lautet das Gebot der Stunde für die aktuelle kapitalistische Migrationspolitik in Deutschland: „regulierte Zuwanderung“, regulierte Flüchtlingspolitik. Dafür können sich auch BDI und BDA begeistern. Unter den Flüchtlingen aus Syrien haben sie schon gut ausgebildete Fachkräfte ausgemacht, deren Bildungskosten für Deutschland somit entfallen. Die „Wirtschaftsflüchtlinge“ vom Balkan braucht dagegen zur Zeit keiner, Billigjobber gibt es schließlich schon genug.

Der Mainstream der herrschenden Klasse hingegen will derzeit von den Umtrieben rassistischer und neo-faschistischer WutbürgerInnen nicht viel wissen, wiewohl das natürlich Seehofer, Steinbach und Co. nicht daran hindert, ihr „Verständnis“ für „Sorgen und Nöte der (deutschen) Menschen“ zu zeigen. Für den deutschen Imperialismus und den „weltoffenen“ Exportweltmeister sind sie ein Imageschaden. Regierung und Großkapital spekulieren darauf, durch „humanitäre Flüchtlingspolitik“, durch Selektion mit „menschlichem Antlitz“ die Mitte Europas um sich zu sammeln.

Diese Lüge hat jedoch kurze Beine. Selektion, „gezielte“ Abschiebung und ein durch und durch rassistisches Migrationsregime vertragen sich nun mal nicht mit einigermaßen ernst zu nehmenden humanitären Ansprüchen. Wer bestimmten Gruppen von Geflüchteten das Recht auf Einreise und Leben in der EU (ob nun in Deutschland oder sonst wo) vorenthalten will, kommt um Grenzkontrollen und staatliche Zwangsmaßnahmen wie Abschiebungen nicht herum.

Zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen verlassen sich das ganze politische Establishment und die bürgerlichen Medien auf den „gesunden Menschenverstand“. Auch Deutschland kann „nicht alle“ aufnehmen, „irgendwo“ ist eine Grenze zu ziehen - allein die Frage, ob sie bei 500.000, 800.000 oder einer Million Flüchtlingen liegt, bleibt dann offen.

Wer profitiert von Selektion?

Diese Argumentation leuchtet der Mehrheit (wahrscheinlich sogar der übergroßen Mehrheit) der Bevölkerung ein - so wie es in der bürgerlichen Gesellschaft eben auch als „normal“ erscheint, dass der Staat zwischen StaatsbürgerInnen und AusländerInnen mit eingeschränkten oder überhaupt keinen Bürgerrechten unterscheidet.

Das liegt daran, dass der bürgerliche Staat nicht unmittelbar als Klassenstaat erscheint, als Staat des Kapitals, der er ist. Er erscheint vielmehr als „Gemeinsames“, wenn auch falsches Gemeinsames, aller Staatsbürger. Wenn wir nur die Oberfläche der Gesellschaft betrachten, wo die Menschen nicht als Klassensubjekte, sondern als BürgerInnen und WarenbesitzerInnen (und sei es als BesitzerInnen der Ware Arbeitskraft) zueinander in Beziehung treten, so ist nur folgerichtig, dass ein Mehr an Bevölkerung, also ein Mehr an Zuwanderung als ein Abzug vom Anteil des gesellschaftlichen Reichtums oder an Möglichkeiten für den Einzelnen erscheint. So „bedrohen“ die „AusländerInnen“ „unsere“ Arbeitsplätze, „unsere“ Geschäfte und auch so immaterielle Güter wie „unsere“ Kultur.

Für die herrschende Klasse ist die Notwendigkeit der Selektion, des Rassismus letztlich unabweisbar - und im Unterschied zu allen anderen hat sie davon reale kurz- wie langfristige Vorteile. Die Spaltung der Lohnabhängigen nach verschiedenen Kategorien hat einen offensichtlichen Nutzen für jedes Ausbeutungssystem in Form unterschiedlicher Löhne und Arbeitsbedingungen, also größerer Konkurrenz unter den Lohnabhängigen. Zugleich dienen Rassismus und Nationalismus auch immer dazu, die eigenen Untertanen gegen einen gemeinsamen „Feind“ in Stellung zu bringen - und so die Spaltung zu vertiefen und gleichzeitig vom Klassenkampf abzulenken.

Der gemeinsame Kampf von Lohnabhängigen für ihre Interessen, die Erfahrung der Notwendigkeit kollektiver Organisation erleichtert es oft, dass ArbeiterInnen dazu gedrängt werden, sich über nationale und ethnische Grenzen hinweg zu organisieren und zu kämpfen.

Aber das ist kein Selbstläufer, kein spontaner Prozess - zumal in einem imperialistischen Land wie Deutschland, wo nicht nur die Ärmsten gegeneinander in Stellung gebracht werden, sondern wo die rassistische Spaltung der ArbeiterInnenklasse auch eingebettet ist in ein System, wo die „besser gestellten“ ArbeiterInnen kurzfristig aus der Weltmarktstellung des deutschen Kapitals in Form von Extraprofiten als „ArbeiterInnenaristokratie“ einen Vorteil haben. Der Kampf um die Gewinnung der Lohnabhängigen erfordert daher sowohl Propaganda, Aufklärung über die eigenen Interessen wie auch entschlossenen Kampf gegen alle Formen des Rassismus in der Klasse und ihren Organisationen.

Die organisierten ArbeiterInnen müssen also alle Hindernisse aus dem Weg räumen, die der Einheit der Klasse im Weg stehen. Die Asylsuchenden werden mehrheitlich Lohnabhängige in diesem Lande sein, die legalen und illegalen ArbeitsmigrantInnen sind es schon. Die Herstellung der Klasseneinheit zwischen inländischen ArbeiterInnen und denen ausländischer Herkunft würde den internationalistischen politischen Horizont der Gesamtklasse erweitern helfen. Gemeinsam mit allen ehrlichen DemokratInnen muss das klassenbewusste Proletariat für die völlige rechtliche und staatsbürgerliche Gleichstellung eintreten.

Flüchtlingsfrage = Klassenfrage

Das erleichtert die Integration der Unterdrückten in die Reihen der Klassenorganisationen - Gewerkschaften, ArbeiterInnenparteien, Vertrauensleutekörper und Betriebsräte - und stärkt das Kampfpotenzial für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen aller. Es ist aber auch im Kampf für demokratische Forderungen eine ArbeiterInneneinheitsfront über die Gemeinsamkeit mit fortschrittlichen DemokratInnen hinaus notwendig, weil nur jene über wirksame Kampfmethoden zu deren Durchsetzung verfügt: politischer Streik bis hin zum Generalstreik, Selbstschutzeinheiten gegen rassistische und faschistische Überfälle statt auf die Polizei zu vertrauen usw.

Hier kommt die wichtige Forderung der Ablehnung jeglicher staatlichen Einwanderungskontrolle ins Spiel. Wir sind auch deshalb für offene Grenzen, weil nur so verhindert werden kann, dass eine besonders prekäre Form von Beschäftigung illegaler MigrantInnenarbeit in Gestalt eines informellen Schattensektors der Wirtschaft entsteht. Auch der „regulierte“ legale Zugang zum Arbeitsmarkt, den die SPD und der Bundesverband der Deutschen Industrie (!) in Gestalt eines Einwanderungsgesetzes fordern, knüpft die Arbeitserlaubnis für meist höher qualifizierte Arbeitskräfte an Beschränkungen und folgt dem Auf und Ab der Konjunktur. Er soll die Kosten für den Unterhalt einer industriellen Reservearmee drücken, weil diese Arbeitskräfte nicht „Deutschland“ auf der Tasche liegen, sondern das Land bei Entlassung und Arbeitslosigkeit nach kurzer Zeit verlassen müssen (Befristung). Schließlich fallen auch die Ausbildungskosten nicht hier an. Die Forderung nach offenen Grenzen geht auch weit über die nach „Bleiberecht für alle“ hinaus, diese ist zwar in linksradikalen Kreisen oft die ultima ratio, umfasst aber nur diejenigen, die es geschafft haben, in die BRD zu gelangen.

Die Verschärfung des europäischen Asylrechts macht es überfällig, an die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung einschließlich Gewerkschaften, LINKE und SPD mit dem Vorschlag für eine bundesweite Großdemonstration heranzutreten. Alle revolutionär gesinnten Kräfte sollten sich dafür ernsthaft einsetzen. Denn es ist keine Alternative, in seinem Kiez zu verharren und sich im linksradikalen Milieu wie in einem Schneckenhaus einzuigeln.

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Nr. 203, Oktober 2015
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