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Corbyns Sieg in der Labour Party

Chance für die revolutionäre Linke

Frederik Haber/Dave Stockton, Neue Internationale 203, Oktober 2015

Für die deutsche Presse war es gerade eine Randnotiz wert. Als Zählkandidat gerade noch auf die Kandidatenliste gerutscht, gewann Jeremy Corbyn die Urwahl zum Chef der Labour-Party mit fast 60% schon im ersten Wahlgang. Seine gemäßigten und rechten Gegenkandidaten erlitten eine vernichtende Niederlage. Das seit Jahrzehnten stramm neoliberal ausgerichtete Establishment von Labour, die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten und die  Funktionäre sind geschockt. Sie fürchten um ihre einträglichen Posten und sie fürchten die Hunderttausend neuen Mitglieder, die in die verstaubte und verknöcherte Partei strömen.

Die erstaunliche Entwicklung in Britannien besteht eben nicht nur darin, dass ein als Spinner von den anderen Abgeordneten gerade noch tolerierter Hinterbänkler zum Hoffnungsträger der Linken, der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenklasse wird, sondern eben auch darin, dass Hundertausende von diesen ihn dazu machten. Sie traten der Partei bei, sie wurden „eingetragene UnterstützerInnen“, sie organisierten unzählige Versammlungen im ganzen Land (siehe dazu: „Wirbel in der Labour Party“, in: NI 202). Allein in den ersten Tagen nach Jeremys Wahlsieg am 12. September schlossen sich erneut 26.000 Labour an.

Hysterie

Anders als die deutschen Medien kannten die englischen über Monate kein anderes Thema. Sie stimmten ein Geheul über den Zusammenbruch der Nation an, keine Verdrehung war zu absurd, keine Schmähung zu ordinär und keine Lüge zu billig. Ein Beispiel: Corbyn erklärt in einer Fernseh-Diskussion, dass er die ganze Entwicklung - den 11. September, die Invasionen in Afghanistan und Irak und die kaltblütige Ermordung Bin Ladens ohne Prozess - für eine Tragödie halte. Sofort ein Aufschrei, Corbyn halte den Tod Bin Ladens für eine Tragödie. In der Folge wird er als Freund Bin Ladens beschrieben und sein Name CorBin Laden geschrieben. Ein amtierender General erklärte, dass es einen Staatsstreich des Militärs geben könnte, würde dieser Mann jemals zum Premier gewählt.

Für MarxistInnen ist das keine Überraschung. Wir haben keine Illusionen in die bürgerliche Demokratie. Wir wissen, dass das Parlament nicht „die Macht“ hat, noch nicht einmal die von ihm gewählte Regierung, sondern dass das alles letztlich Fassade ist. Der bürgerliche Staat ist wie jeder Staat dazu da, die Macht der herrschenden Klasse zu sichern. Alle höheren Militärs wissen das, auch wenn es nur einer offen ausspricht.

Revolutionäre MarxistInnen stehen also vor der Frage, wie sie sich zu dieser Bewegung und zu Corbyns Programm verhalten sollen.

Die Labour Party wird nicht plötzlich zu einer sozialistischen Partei, nur weil ihr Vorsitzender linke Ideen hat. Aber es gibt Zehntausende im ganzen Land, die genau dafür kämpfen wollen. Ihnen jetzt zu erklären, dass ihr Kampf aussichtslos sei, wird sie nicht überzeugen, weil das Projekt Corbyn das vielversprechendste der letzten Jahrzehnte ist und die radikalen Linken leider ihre Projekte einer Alternative links von der Labour Party allesamt an die Wand gefahren haben.

Sich aber nur der Partei anzuschließen und in der Bewegung mitzuschwimmen, ist genauso falsch. Viele „sozialistische“ Strömungen vertreten seit Jahrzehnten, dass „Breite“, also die Verbindung mit solchen Kräften, die frisch und mit allerlei Illusionen die politische Bühne betreten, nur auf Kosten der „Klarheit“ möglich wäre, also auf Kosten eines revolutionären Programms. Mit der Anpassung an die Massen, „die noch nicht so weit sind“, erleben sie zwar ständig Schiffbruch, z.B. bei der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich oder bei Rifondazione Comunista in Italien, aber ihr Glaube ist unerschütterlich.

Unsere GenossInnen von Workers Power in Britannien haben sich jetzt der Partei angeschlossen. Sie wollen in der direkten Auseinandersetzung mit den rechten und linken ReformistInnen in dieser Partei Andere davon überzeugen, dass nur mit revolutionären Methoden die Ziele erreicht werden können, für die sie sich organisiert haben. Unsere GenossInnen rufen dazu auf, dass sich RevolutionärInnen in der Labour Party um die Zeitung RED FLAG (Rote Fahne) sammeln sollen, um für diese Ziele und mit dieser Taktik in der Labour-Party zu kämpfen.

Corbyns Programm

Das Programm von Jeremy Corbyn für eine zukünftige Labour-Regierung hebt sich drastisch von der „Sparpolitik light“ ab, mit der Ed Miliband und Ed Balls die Wahlen verloren haben.

Es ist um Meilen radikaler und zusammenhängender als der Misch-Masch, den Jeremys Konkurrenten in der Führungswahl von Labour angeboten haben. Sie sind so radikal wie das Radikalste, was je von den Führern der Labour Party in den linken Zeiten der 1930er Jahre oder 80er Jahren angeboten wurde.

2015, zu einer Zeit also, in der wir gewohnt sind, dass alle Politiker dasselbe konservative Mantra wiederholen, dass Härte unvermeidlich sei, klingt der bescheidene Aufruf von Jeremy für ein Ende der Kürzungen und für ‚eine öffentlich organisierte Vergrößerung und Rekonstruktion der Wirtschaft' ultraradikal.

Für revolutionäre SozialistInnen ist der Zweck eines Programms, die unmittelbaren Bedürfnisse der Masse der Arbeitenden anzusprechen, eine Massenbewegung zu mobilisieren, um den Angriffen der herrschenden Klasse zu widerstehen und diese Kämpfe für die täglichen Bedürfnisse mit dem Kampf für die Revolution zu verbinden.

Aus diesen Gründen unterstützt Workers Power Schlüsselelemente des Programms von Jeremy Corbyn. Wir glauben, dass sich alle SozialistInnen Labour anschließen, die progressiven Forderungen von Jeremy fördern und verteidigen und dafür kämpfen sollten, diese Politik in eine revolutionäre, sozialistische Richtung zu erweitern und zu vertiefen.

Wir werden insgesamt in der Labour Party, Hand in der Hand mit Anderen arbeiten, um dieses Ziel vorzubringen. Die Gelegenheiten für den revolutionären Sozialismus, im Einfluss zu wachsen, sind riesig. Entscheidend für den Erfolg ist eine offene, faire und genaue Bewertung des Programms von Jeremy Corbyn.

Wachstum

Das Programm von Jeremy stellt die Erhöhung öffentlicher Ausgaben in den Mittelpunkt, Investitionen in die Industrie, in Dienstleistungen und die Bauwirtschaft. Das Ziel ist, den Abschwung zu beenden, welcher der Krise von 2008-10 gefolgt ist, und mit der Sparpolitik aufzuhören, die sowohl Labour- wie Tory-Regierungen aufgelegt haben, um die Bankenrettung zu finanzieren.

Die Bank von England, sagt er, solle weiterhin Geld drucken - er nennt es „Quantitative Easing“ für die Bevölkerung - um „neue groß angelegte Wohnungsbauprojekte zu finanzieren, ebenso für Energie-, Transport- und Digitalprojekte”. Corbyn sagt, dass das „eine Million Facharbeits- und Ausbildungsplätze mit einem Schlag geschaffen würde - plus weitere in der Zulieferkette”.

Seine Versprechungen von Wiederverstaatlichung beschränkt er auf die öffentlichen Dienste: Eisenbahn, Wasser, Elektrizitätsversorgung. Er will eine nationale Investitionsbank schaffen, aber fordert nicht explizit die Verstaatlichung der Banken, obwohl er immerhin eine Steuer auf ihre Überprofite ins Spiel bringt. Ein durchweg sozialistisches Programm würde den enteigneten Eigentümern von Großunternehmen keine Entschädigung gewähren und würde darauf bestehen, dass diese unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt und nicht von hoch bezahlten Staatsbeamten und Betriebsleitern geführt werden. Stattdessen sagt Corbyns Programm, dass eine verstaatlichte Eisenbahngesellschaft durch ein Gremium geführt werden sollte, das “Passagiere, Beschäftigte und Regierung” vertritt.

Internationalismus

Das Programm von Corbyn ruft nach einer „radikal anderen internationalen Politik”, gestützt auf „politische und nicht militärische Lösungen”. Er ist weiterhin strikt gegen Luftangriffe im Irak und Syrien und gegen jede Militärintervention in diesem Gebiet. Er sagt, dass er dafür arbeiten würde, um Großbritannien aus der NATO zurückzuziehen.

Bezüglich der EU war Corbyn, wie der größte Teil der Labour Party, einst für einen Austritt. Er sagt jetzt, dass er dafür sei, dass Britannien in der EU bleibt, aber er will Reformen in der entgegengesetzten Richtung von Cameron, weg von den marktgerechten und den Privatisierungs-Direktiven, die so viel Leid in Südeuropa verursacht haben. Er will die Neuverhandlung von Großbritanniens Rolle in der EU dazu nutzen, um die Rechte der Arbeitenden zu stärken. Er ist klar gegen TTIP.

Jeremy hat sich verpflichtet, die Ausgaben für Waffen zu kürzen und die Verpflichtung, der NATO zwei Prozent des BIP zu geben, nicht mehr zu erfüllen. Er würde das Trident-Raketensystem stoppen. Um Jobs zu retten, würde es einen Konversionsplan geben.

Er spricht sich auch dafür aus, die Körperschaftssteuererleichterung von 93 Mrd. Pfund und Subventionen für die Großindustrie rückgängig zu machen. Diese Fonds sollen verwendet werden, um eine Nationale Investitionsbank zu gründen, um ein Milliarden-Programm zum Infrastrukturausbau und zur Unterstützung für hochtechnologische und innovative Industrien zu schaffen.

Um das Steuersystem progressiv zu machen, würde eine Corbyn-geführte Labourregierung die Steuersenkungen der Tories für die Reichen annullieren und 119 Mrd. Pfund an umgangenen Unternehmenssteuern einsammeln, die 2013/14 angefallen sind.

Wer setzt das um?

So weit Corbyns Vorstellungen. Sicher sollten wir seine vielen positiven Absichten gegen die Rechten in Labour und die Torys verteidigen. Zugleich müssen wir eine Debatte über die Mängel des Programms in Gang bringen und insbesondere darüber, welche Kräfte wir mobilisieren müssen, um es durchzuführen. Die große wirtschaftliche Macht der Kapitalisten-Klasse und die repressive Macht ihres Staates kann nicht durch einen Wählerauftrag allein gebrochen werden.

Nur die Massen und die Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend können der Macht des Kapitals und des Staates etwas entgegensetzen und sie bezwingen. Die ArbeiterInnenklasse kann so die Kontrolle über die Produktion und die Verteilung gewinnen und über die Banken und das Finanzsystem. Wir müssen massenhafte Selbstverteidigung gegen die staatlichen Repressionskräfte organisieren, wenn sie Streiks und Demonstrationen unterdrücken, ganz zu schweigen davon, wenn sie mit einem Staatsstreich drohen, den sie zweifellos gegen eine radikale Labour-Regierung durchführen würden.

Aber zu solcher Massenmobilmachung kann nicht in der letzten Minute aufgerufen werden - dann, wenn eine linke Regierung in Schwierigkeiten gekommen ist. Der Prozess, unsere Gegenmacht aufzubauen, muss jetzt anfangen: mit dem Widerstand gegen die Kürzungen und die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze. Indem wir demokratische Organe für die Mobilisierung, Widerstands-Räte, schaffen, indem wir Instrumente der Arbeiterkontrolle schaffen, können wir nicht nur das Leben dieser Tory-Regierung verkürzen. Wir können die Basis für einen neuen Typ von Regierung schaffen: Nicht nur eine parlamentarische Labour-Regierung, die von den Institutionen des Kapitals umzingelt ist, sondern eine Arbeiterregierung, die entschlossen ist, die Macht der Bosse, der Banker und Generäle für immer zu brechen.

Ein ausführliche Kritik und Bewertung von Corbyns Programm findet sich auf:

www.workerspower.co.uk

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Nr. 203, Oktober 2015
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*  Rechte in Deutschland: Viele Führerlein kämpfen um den Mob
*  Gewerkschaftstag: IG Metall auf dem Prüfstand
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*  Corbyns Sieg in der Labour Party: Chance für die revolutionäre Linke
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