Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

VW-Skandal

Grenzwerte und Systemgrenzen

Frederik Haber, Neue Internationale 204, November 2015

Allgemeines Entsetzen hat die Nachricht in Medien, Politik und der Autobranche ausgelöst, dass VW seine Dieselmodelle mit einer speziellen Software ausgerüstet hat. Dieses Produkt deutscher Ingenieurskunst erkennt, wenn ein Auto auf dem Rollenprüfstand steht und versetzt dann den Motor in einen Modus, der die schärfsten Grenzwerte einhält.

Milliardenverluste werden für den Konzern vorhergesagt, unbezahlbarer Imageverlust für VW und die deutsche Autoindustrie, dem Herz der deutschen Wirtschaft. Interessanterweise gab es bislang keine Hochrechnungen, wie viel Stickoxide dadurch „illegal“ zusätzlich in die Atmosphäre gepustet wurden und wieviel VW kranken Opfern zu zahlen hätte. Was schon mal ein klares Indiz dafür ist, dass die Grenzwerte und die Prüfverfahren eher die Aufgabe haben, die Konkurrenzbedingungen in diesem für den Kapitalismus so wichtigen Markt zu regeln und weniger, die Umwelt zu schützen.

Das technische Dilemma

Auch wenn der Verbrennungsmotor weit über hundert Jahre alt ist, gab es doch in den letzten beiden Jahrzehnten Weiterentwicklungen. Stichworte dazu sind Kraftstoffeinspritzung, Ventilsteuerung, Ladeluftkühlung, Aufladung und Abgasrückführung. Deutlich wird dies an der Leistung. 1976 holte ein Golf GTI 110 PS aus 1,6 l Hubraum, heute 150 PS aus dem 1,9 l Motor. Eigentlich wurde durch diese technische Entwicklung auch der Kraftstoffverbrauch gesenkt. Dieser Fortschritt wurde aber dadurch aufgehoben, dass die Fahrzeuge schwerer wurden, der erste Golf wog noch 750 kg, heute mindestens 1.200. So hat sich der Verbrauch auf 100 km nicht wesentlich verändert. Dazu trägt auch bei, dass bei höheren Durchschnittsgeschwindigkeiten der Verbrauch steigt.

Die Entwicklung der Motoren führte dazu, dass der Kraftstoff bei immer höheren Temperaturen verbrannt wird. Das steigert zwar die Effizienz, v.a. wenn es gelingt, die Verbrennungswärme nachträglich zu nutzen. Der daraus folgende Verbrauch führt logischerweise auch zu einem geringeren CO2-Ausstoß. Allerdings verbinden sich bei höheren Temperaturen Stickstoff und Sauerstoff zu Stickoxiden (NOx), was sie bei Normaltemperatur nicht tun. Diese Stickoxide gelten als krebserregend. Durch Harnstoffzusetzung im Nachgang kann dies allerdings - aus heutiger Sicht - umweltunkritisch behoben werden. Es kostet nur was.

Die Betrugssoftware zeigt auch, dass ein gemäßigtes Fahren im niedrigen Drehzahlbereich die NOx-Bildung drastisch verringert, selbst wenn die simulierten Fahrweisen unrealistisch waren.

Das Dilemma ist politisch

Eine wirklich drastische Senkung der Stickoxidbildung könnte also durch Harnstoffbeigabe und zugleich starker Beschränkung der Motoren bei der Leistung erreicht werden. Gegen beides steht aber der „Markt“, also die Profitbedingungen eines kapitalistischen Systems, das seinen Niedergang auch auf diesem Gebiet zeigt: Der technisch mögliche Fortschritt wird nicht zugunsten der Menschen genutzt und eine mögliche Umweltschonung aus Kostengründen verhindert oder minimiert. Wenig ist bisher bei der Aufklärung innerhalb des VW-Konzerns herausgekommen - außer der lapidaren Aussage eines Technikers, dass die Alternativen zur Betrugssoftware halt zu teuer waren.

Der „VW-Skandal“ beschränkt sich also keineswegs auf einen Konzern. Die dort eingesetzte Software wirft nur ein Schlaglicht auf die ganze Branche und das Wirtschaftssystems als solches. Schon die Festlegung der Grenzwerte ist ein heftig umkämpftes Terrain, auf dem die Lobbyisten der Konzerne und ihre VertreterInnen in den Regierungen heftig für günstige Bedingungen streiten. Auch die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, mischen da auf Seiten der Auto-Lobby mit.

Wenn es um die Einhaltung der Grenzwerte geht, gibt es Prüfvorschriften, die mit der Realität nichts zu tun haben. Lt. Umweltbundesamt überschreiten die Realemissionen bei Fahrzeugen mit der Abgasnorm „Euro 3“ die Grenzwerte um ca 20%, bei „Euro 5“-Fahrzeugen um mehr als das Doppelte. Anders gesagt, die Grenzwerte sind gesunken, die Realemissionen sind praktisch konstant. Erst die Fahrzeuge nach der „Euro 6“-Norm senken ihren NOx-Ausstoß deutlich, liegen aber weiterhin mehr als 100% über dem Grenzwert.

Diese Grenzwerte und ihre dubiosen Prüfvorschriften dienen aber andererseits den Auto-Konzernen dazu, sich ein grünes Mäntelchen umzuhängen. Gerade der Dieselmotor ist ein „deutsches“ Produkt. 74 % aller in Deutschland verkauften BMW sind Dieselfahrzeuge, 67% aller Audi, 58% aller Mercedes und 53% bei VW. 52,5% aller verkauften PKW in Westeuropa sind Dieselautos, nur 1,3% in Nordamerika.

Um in den nordamerikanischen Markt auch mit Dieselfahrzeugen einzudringen, hatte VW seine Werbekampagnen v.a. auf die angebliche Umweltfreundlichkeit ausgerichtet. Allein für den TDI wurden 2010 18 Millionen eingesetzt. Es dürfte also kein Zufall sein, dass der Betrug von einem US-amerikanischen Umweltinstitut aufgedeckt wird und nicht vom Umweltbundesamt. Auch wenn dessen veröffentlichte Zahlen genauso einen Betrug nahelegen, nach denen die reale Emission nicht sinkt, aber ständig niedrigere Grenzwerte prima eingehalten werden.

Das macht deutlich, dass ein „grüner“ Kapitalismus auch nicht von staatlicher Seite gegen die Macht des Kapitals und die Logik des Profits durchgesetzt werden kann. Das Umweltbundesamt ist Teil des Staatsapparats, der dieses System schützt.

Forderungen und Lösungen

So richtig es ist, jetzt Aufklärung zu fordern - es reicht nicht, dies der Staatsanwaltschaft oder gar der Konzernrevision zu überlassen. Die Beschäftigten wissen viel besser Bescheid, aber sie haben natürlich Angst, zu Sündenböcken gemacht zu werden. Letztlich läuft die ganze interne Untersuchung bei VW darauf hinaus, Personen zu identifizieren, die zu Hauptschuldigen gemacht werden können, um die großen Täter und das Gesamtsystem zu schützen. Die Belegschaft müsste die Aufklärung selbst in die Hand nehmen, Aufklärungsausschüsse bilden und alle Informationen und Dateien offenlegen.

Es wäre die Aufgabe von Betriebsrat und IG Metall, das zu fordern und praktisch anzugehen. Die Realität sieht leider anders aus: Der Betriebsratschef stellt auch noch nach Winterkorns Rücktritt Freibriefe für dessen Unschuld aus und fordert die „VW-Familie“ zum Zusammenstehen auf. Zur Betriebsversammlung werden 10.000 T-Shirts bedruckt, die die Verbundenheit zum Unternehmen bekunden. Das ist keine Überraschung bei einem Betriebsrat, der schon von der ekelhaften Korruption seines früheren Vorsitzenden Volkert nichts mitbekommen haben will und die ständigen Sparprogramme gutheißt, solange sie zu Lasten der LeiharbeiterInnen und der Beschäftigten in der Zulieferindustrie gehen.

Auch die IG Metall, die mit ihrem Ex-Chef Berthold Huber als Vize-Aufsichtsratschef direkt  in diesen Skandal verwickelt ist, konzentriert sich auf ein „Weiter so“: „Der Dieselantrieb darf (...) nicht in Misskredit geraten. Das ist nicht nur technologisch falsch, sondern gefährdet tausende Arbeitsplätze in Deutschland.“

Die VW-Belegschaften und die Gewerkschaftsmitglieder müssen dafür kämpfen, dass IG Metall und Betriebsrat mit einer solchen Politik an der Seite des Kapitals brechen. Wir brauchen auch da eine Basis-Opposition. Und wir brauchen eine Partei und Bewegung, die Konsequenzen daraus zieht, dass dieses System offenkundig seine Grenzwerte überschreitet.

Der „VW-Skandal“ ist nur Ausdruck verschärfter Konkurrenz in einer der monopolisiertesten Branchen des Kapitalismus. Um die immer weniger verbliebenen anderen Anbieter aus dem Feld zu schlagen, müssen die Kosten drastisch gesenkt werden durch immer neue „Produktivitätsprogramme“. Die Beschäftigten spüren das durch mehr und mehr Arbeitsintensität und Rationalisierung und enormen Druck, der durch ein ganzes System von Zulieferfirmen, durch Leiharbeit usw. noch verschärft und „abgestuft“ wird. Zum anderen wird natürlich betrogen und gespart. Dass sich in den letzten Jahren die Rückholaktionen häufen, ist auch so ein Resultat verschärfter Konkurrenz und enormer Überkapazitäten.

Irrationalität und Konkurrenz

Das verschärft jedoch noch die Irrationalität des Konzepts des Individualverkehrs, wie es heute existiert. Es ist insgesamt nicht nur umweltschädlich, sondern auch höchst ineffektiv. Dabei sind für uns nicht die real existierenden öffentlichen oder gar privaten Massentransportsysteme der Vergleichsmaßstab, die ihrerseits nach Profitinteresse zugerichtet werden.

Gleichwohl zeigen diese sogar heute schon in den Großstädten ihre Überlegenheit, die in einer sozialistischen Planwirtschaft noch deutlich gesteigert werden könnte. Vor allem könnte dann auch der ständig wachsende kommerzielle LKW-Verkehr minimiert werden.

Die Frage der Lösung des VW-Skandals hängt daher direkt an der Frage des gesellschaftlichen und ökonomischen Systems. Es geht nicht nur um „Aufklärung“. Es geht auch darum, was und wie produziert wird. Die Frage der Öffnung aller Geschäftsunterlagen, der Untersuchung durch ArbeiterInneninspektionen muss daher mit der Frage der entschädigungslosen Enteignung des gesamten Transportsektors und dessen Reorganisation gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft unter ArbeiterInnenkontrolle verbunden werden!

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 204, November 2015
*  Einheit und Perspektive: Für eine anti-rassistische Massenbewegung
*  Verschärfung des Asylrechts: Refugees welcome, aber nicht in Europa
*  Massendemonstration gegen TTIP: Wie weiter gegen die Wirtschafts-NATO?
*  Konferenz zu Streikrecht und Union-Busting: Was tun gegen neue Angriffe?
*  VW-Skandal: Grenzwerte und Systemgrenzen
*  Syrien: Der Krieg, seine regionalen und globalen Auswirkungen
*  Neuwahlen in der Türkei: AKP bombt sich zurück zur Alleinregierung
*  Vorwahlen zur US-Präsidentschaft: Bernie Sanders for President?
*  60 Jahre Bundeswehr: Alter Zopf und neuer Zoff
*  Veranstaltungsreihe: Griechenland nach den Wahlen
*  Marxistisches Forum in Berlin: Ideen unter Feuer
*  Politische Perspektive: Krise der EU - Krise der Linken?!