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Einheit und Perspective

Für eine anti-rassistische Massenbewegung!

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 204, November 2015

Kein Tag vergeht mehr ohne rassistische Demonstrationen und Übergriffe. Allein im August zählte das Bundesinnenministerium mehr als 50 rechte Straftaten täglich. Die Zahl an Angriffen auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte ist mittlerweile über das Zwanzigfache gestiegen im Vergleich zu 2012, auf über 600 bis September.

Aktuell befinden sich so viele Menschen weltweit auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die Schätzungen, wie viele in diesem Jahr nach Deutschland kommen könnten, um Zuflucht zu suchen, schwanken mittlerweile zwischen 800.000 und 1,5 Millionen Menschen.

Parallel dazu nehmen die Stimmen in Teilen des Kapitals zu, diese Zuspitzung auszunutzen. So fordert der Präsident des Münchener IFO-Instituts Hans Werner Sinn die Aussetzung des Mindestlohns, die Anhebung des Rentenalters und eine neue Agenda 2010, um die „geringqualifizierten“ Arbeitskräfte der Geflüchteten „anzulernen und zu integrieren“ wie auch die „Kosten für die Integration der Flüchtlinge stemmen zu können“. Gleichzeitig nehmen die Rufe nach einer Ausweitung der gemeinsamen Grenzsicherung durch die Staaten Europas zu.

Diese Rufe treffen bei der Bundesregierung weitestgehend auf offene Ohren. Dabei hat sie doch erst kürzlich ein neues rassistisches Asylgesetzpaket verabschiedet (siehe Artikel in dieser Ausgabe). Bald sollen auch Afghanistan und die Türkei schnellstmöglich als sicher eingestuft werden. Jugendlichen Geflüchteten über 16 Jahren wird das Recht auf Bildung aberkannt. Sollten sie sich dagegen wehren, erleichtert dies die baldige Abschiebung. Um nur zusätzliche Punkte der Gesetzesverschärfung anzureißen.

All das passiert nicht zufällig. Wir befinden uns seit 2007 in einer tiefen internationalen Krise des kapitalistischen Systems. Dabei versuchen die unterschiedlichen Kapitalfraktionen so gut wie möglich, die Lasten dieser Überakkumulationskrise von sich abzuwälzen: entweder auf die abhängigen Halbkolonien, in aggressiver Auseinandersetzung mit konkurierenden imperialistischen Kräften, oder auf dem Rücken der eigenen ArbeiterInnenklasse. Aus dieser Notwendigkeit heraus sind die Angriffe und Spaltungsversuche auf die internationale ArbeiterInnenklasse zu verstehen.

Doch bleibt die entscheidende Frage offen: Wo ist der Widerstand gegen diese Politik?

Die Gewerkschaften halten erst mal weitestgehend schön die Fresse oder versuchen dort, wo aus dem Druck der Basis heraus Aktivität erzwungen wird, bestmöglich politischen vom ökonomischem Kampf zu trennen. So organisieren sie lieber antirassistische Konzerte oder vereinzelte Kundgebungen als Vollversammlungen und Aufklärungskampagnen im Betrieb. Von der Umsetzung der Forderung „Geflüchtete in die Gewerkschaften! Eine Klasse, ein Kampf!“ ganz zu schweigen - im Übrigen das einzige Mittel, um die weiteren Angriffe der Bourgeoisie und die tiefe Spaltung innerhalb der Klasse aufzuhalten, Angriffe die das verängstige Kleinbürgertum und die verelendetsten Teile des Proletariats schnurstracks in die Arme der faschistischen und rassistischen RattenfängerInnen treiben.

Gleichzeitig können sie sich durch diese Passivität nicht der entstehenden rassistischen Bewegung und ihrer Sprengkraft entziehen. So wurde in der Nacht zum 22. Oktober ein Gewerkschaftshaus in Schwenningen in Baden-Württemberg angegriffen, nachdem ver.di „mehr Personal für die Aufnahme, Versorgung und Integration von Flüchtlingen“ forderte.

Die radikale Linke sieht dabei auch nicht rosiger aus. Zwei nur allzu oft auftretende Fehler möchten wir an dieser Stelle aufzeigen.

Feuerwehrpolitik zwischen Sektierertum und Opportunismus

Ein Teil versucht, nur vereinzelte szenepolitische Events zu organisieren, ohne eine reelle Basis für eine Bewegung aufzubauen. Aus Angst, dabei ihre eigene „politische Identität“ und ihr kleines Umfeld zu verlieren, oder aus übereiltem Ultimatismus verschließen sie sich vor der gemeinsamen Aktion oder wollen diese auf die „radikale Linke“ beschränken. Dabei suchen sie ihre BündnispartnerInnen nicht gemäß dem objektiven Klassenwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit und versuchen, ihre Praxis mit dieser Frage zu verbinden, sondern setzen dem eine vermeintlich „revolutionäre Einheit“ voraus und entgegen. Wie dadurch die Illusion der ArbeiterInnen in den Reformismus verschwinden soll, verschweigt diese Politik. Vor allem aber verfehlt sie, einen Beitrag zum nächsten Ziel für die ArbeiterInnenklasse und die rassistisch Unterdrückten zu leisten - nämlich ausreichende Kräfte zu mobilisieren, die sich rechten Angriffen und staatlichem Rassismus effektiv entgegenstellen und siegen können.

Die Kehrseite dieser Politik besteht darin, einfache Aktionsabsprachen durch Appelle an die Zivilgesellschaft zu ersetzen und jede Kritik an den „Bündnispartnern“ zu verschweigen. So werden für kurzfristige, in der Regel meist auch nur symbolische Erfolge, konkrete Maßnahmenvorschläge für die gemeinsame Aktion (z.B. organisierte Selbstverteidigung) wie auch die längerfristigen, strategischen Perspektiven geopfert. Diese Politik trennt den antirassistischen Kampf von dem gegen seine Ursachen und kann deshalb nur oberflächlich Widerstand leisten.

Perspektive

Uns als RevolutionärInnen ist klar: Die Wahrheit ist immer konkret.

Wir brauchen eine breite antirassistische ArbeiterInneneinheitsfront, die den Kampf gegen die neue rassistische Bewegung und die Politik der Bundesregierung organisiert. Dazu müssen wir uns auf jene Klasse, auf jene gesellschaftliche Kraft stützen, welche objektiv ein Interesse an der Verteidigung des Mindestlohns und der Überwindung der Spaltung der Lohnabhängigen zwischen Flüchtlingen und „Einheimischen” hegt.

Entschlossener Schutz der Betroffenen, die Bildung von Selbstverteidigungsgruppen gegen Überfälle, die Flüchtlinge wie AnwohnerInnen organisieren und organisiert werden, sind kein Gegensatz zum Aufbau einer Massenbewegung, sondern vielmehr deren Ergänzung.

In allen Städten, Bezirken, an Schulen und Unis, vor allem aber in Betrieben sollten antirassistische Aktionskomitees gebildet werden. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den zahlreichen UnterstützerInnen-Initiativen zu, die solcherart ihre Basis erweitern können.

Dabei gilt es, die Entscheidungen der Mehrheit umzusetzen, jedoch muss jede Kraft die Möglichkeit der Kritik- und Propagandafreiheit haben, um zu ermöglichen, in der Einheitsfront eine Diskussion über das weitere Vorgehen zu führen. Dieses Mittel ermöglicht ebenfalls transparente Verhandlungen und zieht somit den Kampf vom Hinterzimmer auf die Straße. Diese Strukturen müssen allen Mitgliedern der jeweiligen Organisationen und auch unorganisierten AktivistInnen offen stehen. Uns ist klar, dass diese gemeinsamen Absprachestrukturen die Einheit unter der organisierten ArbeiterInnenklasse herstellen helfen sollen, gemeinsame Abkommen für die Dauer der Aktionen gelten und nicht den Kampf für den Aufbau einer revolutionären Partei ersetzen können und dürfen.

Eine entscheidende Bedeutung für die Mobilisierung kommt den Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse, den Gewerkschaften mit ihren sechs Millionen Mitgliedern wie auch den AnhängerInnen und UnterstützerInnen von SPD und Linkspartei zu.

Antirassismus ist eine Klassenfrage

Auch wenn wir kein Vertrauen in die Politik von SPD und sozialdemokratischen Gewerkschaftsführungen hegen dürfen, die letztlich immer Verschärfungen der „Ausländergesetze” zugestimmt haben, auch wenn die Praxis der Linkspartei an den Regierungen davon wenig unterscheidbar ist, so ist es auch kaum vorstellbar, wie eine Massenbewegung gegen Rassismus ohne die Mitglieder und AnhängerInnen dieser Kräfte aufgebaut werden kann. Daher fordern wir die Gewerkschaften und die Parteien, die sich sozial auf die Lohnabhängigen stützen, auf, aktiv gegen die rassistische Gefahr zu kämpfen. Wo Sozialdemokraten eine Besteuerung der Reichen fordern oder ein Milliarden-Programm für Geflüchtete, sagen wir: „Taten wollen wir sehen, nicht bloß Worte - und zur Durchsetzung dieser Versprechen sind wir gerne bereit, mit Euch zu kämpfen!“

Die handelnde, aktive Einheitsfront ist aber auch der Ort, an dem der Reformismus vor Millionen Augen seiner UnterstützerInnen beispielsweise in den Fragen der Verteidigung von Geflüchteten und ihren Unterkünften oder in der bedingungslosen staatlichen Ausfinanzierung für massiven sozialen Wohnungsbau, kontrolliert durch Organe der ArbeiterInnen, Jugendlichen und Geflüchteten, beweisen muss, was seine Worte wert sind und RevolutionärInnen beweisen können, dass sie besser als die verräterischen, überlebten Führungen selbst deren Mindestziele kompromisslos und energisch verfechten, ohne Verrat zu begehen.

Ein wichtiger erster Schritt hin zu einer solchen Kampfformation sind bundesweite antirassistische Mobilisierungen, die die unterschiedlichen SupporterInnen und Geflüchteten mobilisieren und ihren Kampf mit anderen sozialen Protesten verbinden. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung stellen dabei die antirassistischen Schul- und Unistreiks dar, die am 19. November in Frankfurt am Main und in Berlin stattfinden werden. In Kassel und hoffentlich auch anderen Städten wird es Solidaritätsaktionen geben.

Um andere Kräfte für diese Schritte zu gewinnen, haben wir im September einen Einheitsfrontaufruf veröffentlicht und an zahlreiche Organisationen verschickt  (http://www.arbeitermacht.de/ni/ni203/aktionseinheit.htm). Davon erhoffen wir uns kein Wunder, das automatisch sofort massenhafte Aktivität anderer Strukturen herbeiführen wird, aber doch von ihnen mindestens Stellungnahmen zu erhalten.

Im Kampf gegen Rassismus und Spaltung schlagen wir folgende Losungen vor:

Volle Staatsbürgerrechte für Alle! Kein Mensch ist illegal!

Keine Grenzkontrollen, volle Bewegungsfreiheit für alle Geflüchteten!

Nein zur Festung Europa! Abschaffung des Grenzregimes und aller Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen! Für offene Grenzen!

Nein zu den menschenunwürdigen Lagern! Enteignung leerstehenden Wohnraums zur Unterbringung von Geflüchteten! Öffentlicher sozialer Wohnungsbau statt Privatisierung - finanziert aus Unternehmensprofiten und durch Besteuerung der Reichen, kontrolliert von Gewerkschaften und MieterInnenkomitees!

Für das Recht auf Arbeit für alle Geflüchteten! Für die Verteidigung des Mindestlohns! Aufteilung der Arbeit auf alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich!

Recht auf Selbstverteidigung gegen Polizeigewalt, rassistische und faschistische Angriffe!

Massenmobilisierungen, um faschistische und rassistische Kräfte (Hogesa, Pegida, AfD etc.) zu stoppen!

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Nr. 204, November 2015
*  Einheit und Perspektive: Für eine anti-rassistische Massenbewegung
*  Verschärfung des Asylrechts: Refugees welcome, aber nicht in Europa
*  Massendemonstration gegen TTIP: Wie weiter gegen die Wirtschafts-NATO?
*  Konferenz zu Streikrecht und Union-Busting: Was tun gegen neue Angriffe?
*  VW-Skandal: Grenzwerte und Systemgrenzen
*  Syrien: Der Krieg, seine regionalen und globalen Auswirkungen
*  Neuwahlen in der Türkei: AKP bombt sich zurück zur Alleinregierung
*  Vorwahlen zur US-Präsidentschaft: Bernie Sanders for President?
*  60 Jahre Bundeswehr: Alter Zopf und neuer Zoff
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*  Politische Perspektive: Krise der EU - Krise der Linken?!