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Pflegenotstand

Vor einem Flächenbrand oder einer Bauchlandung?

Jürgen Roth, Neue Internationale 218, April 2017

Bundesgesundheitsminister Gröhe (CDU) zog gemeinsam mit VertreterInnen der Koalitionsfraktionen und der Länder am 7. März 2017 Schlussfolgerungen aus den Beratungen der Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“: Künftig sollen in Akutkrankenhäusern, wo es aus Gründen der Patientensicherheit notwendig ist, wie auf Intensivstationen und im Nachtdienst, Personaluntergrenzen festgelegt werden, die nicht unterschritten werden dürfen. Laut Zeitplan sollen Krankenkassen und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) bis zum 30. Juni 2018 konkrete Vereinbarungen ausarbeiten, die dann zum 1. Januar 2019 in Kraft zu treten hätten. Das Bundesgesundheitsministerium wird alternativ bis zum 31. Dezember eine Entscheidung treffen, sollte bis Mitte nächsten Jahres besagte Vereinbarung nicht zustande kommen.

Die DKG lehnt nach wie vor Untergrenzen strikt als Eingriff in ihre unternehmerische Freiheit ab. Ver.di will die „Tarifbewegung Entlastung“ (Motto: „Der Druck muss raus!“) weiterführen. Die Gewerkschaft fordert seit langem eine gesetzliche Personalbemessung. Nach eigenen Berechnungen fehlen 162.000 Stellen an deutschen Kliniken, davon 70.000 in der Pflege.

Mit der Abkehr vom Kostendeckungsprinzip und der Einführung der Fallpauschalen vor über 10 Jahren bedeutet natürlich für die nach dem Profitprinzip wirtschaftenden Kliniken wie für jede andere x-beliebige Firma mehr Personal Mehrkosten, also weniger Gewinn. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass mit Zustimmung der ÖTV, einer Vorläuferorganisation ver.dis, das Krankenhauspersonal die Arbeitsaufwände für die Falldiagnosegruppen in den 90er Jahren selbst ermittelt hat. Die im Gegenzug für die in die Ermittlung der Durchschnittswerte für die verschiedenen Diagnosefälle (Fallpauschalen, DRG) gesteckte Arbeit eingeführte Personalregelung wurde schnell wieder außer Kraft gesetzt, errechnete sich doch danach ein Personalmehrbedarf. An dieser Pflegepersonalregelung (PPR) orientiert sich die jetzige Forderung ver.dis!

Ver.dis Doppelstrategie, Teil 1: Der politische „Kampf“

Der konsequent neoliberale Umbau des Krankenhaussektors zu einer „weißen“ Industriebranche stieß also bei der Gewerkschaft nicht nur nicht auf Widerstand, sondern diese leistete ihm gewissermaßen noch Geburtshilfe. Recht bald wieder um den Lohn für ihre Bütteldienste betrogen, sann die mittlerweile gegründete DGB-Gewerkschaft ver.di seit Beginn dieses Jahrzehntes auf Abhilfe: die PPR sollte über eine Tarifkampagne wieder zum Leben erweckt werden.

Als Tarifziel war sie aber ein Novum, zudem für die Arbeit„geber“seite doppelt giftig. Die Marktwirtschaft regierte auch in der Klinikbranche, Personal musste der Profitabilität halber eingespart, nicht aufgestockt werden. Zusätzlich mussten die Aufwendungen für Investitionen in Sachmittel wie Bauten und Ausrüstungen immer mehr aus dem laufenden Geschäft finanziert werden, denn der Staat leistete seinem gesetzlichen Auftrag dieses Teils der Krankenhausfinanzierung immer weniger Folge - aus den gleichen neoliberalen Sparzwängen heraus!

Die Tarifkampagne Entlastung entfaltete zu Beginn keine Dynamik und stieß bis zum elftägigen Streik bei der Berliner Charité 2015 auf taube Ohren. Die Kampagne resultierte in einer Petition an den Bundestag für ein Gesetz zur Personalbemessung im Krankenhaus im Oktober 2015 mit über 120.000 Unterschriften. Der dadurch lediglich zur Anhörung verpflichtete Bundestag beschloss natürlich keine Maßnahmen. Ver.di laviert nun mit einer Doppelstrategie.

Lobbyismus statt politischer Streik

Deren politischer Teil besteht nicht etwa in der Anerkennung der Notwendigkeit eines politischen Massenstreiks für eine gesetzliche PPR durch ver.di, für den auch daran gedacht werden muss, die Kraft aller Gewerkschaften in die Waagschale zu werfen, nicht nur derjenigen des Gesundheitssektors. Nein, die tarifpolitische Arbeit„geber“schwerhörigkeit soll mittels leerer Appelle kuriert werden. So formuliert der „Hamburger Appell für mehr Krankenhauspersonal“: „Hamburger fordern gute Versorgung und mehr Personal in Hamburgs Krankenhäusern. (…) Nach ver.di-Berechnungen fehlen in Hamburgs Krankenhäusern über 4.200 Stellen, das bedeutet jeder fünfte Arbeitsplatz. (…) Eine gesetzliche Personalbemessung ist die richtige Herangehensweise. Ein Tarifvertrag Entlastung kann der Anfang sein.“ (www.labournet.de/branchen/dienstleistungen/gesund/gesund-…-gute-versorgung-und-mehr-personal-in-hamburgs-krankenhaeusern)

Ver.di-Fachleiterin Hilke Stein legt eins drauf: „Frau Senatorin Prüfer-Storcks ist in der Expertenkommission immer eine engagierte Vertreterin für verbindliche Personalvorgaben gewesen.“ (www.gesundheit-soziales-hamburg.verdi.de/ branchen/krankenhaeuser/++co++5e59e15c-02ab-11e7-b0d4-525400b665de)

Man muss wissen, dass Frau Prüfer-Storcks die für Hamburgs Krankenhäuser verantwortliche Landesministerin ist und ebenfalls eine „Doppelstrategie“ verfolgt: „engagierte“ Reden in einer Expertenkommission einerseits, die Verantwortung für jeden fünften unbesetzten Arbeitsplatz in der harschen Wirklichkeit am Krankenbett. Wenn andererseits dann noch eine sogenannte Expertenkommission für die „Leistung“ gelobt wird, einen Zusammenhang zwischen Personalausstattung und Patientensicherheit „entdeckt“ zu haben, den seit Jahr und Tag die Spatzen von den Dächern pfeifen, dann spätestens wissen wir, was GewerkschaftsbürokratInnen so unter „Druck auf die Politik ausüben“ verstehen: Worte statt Taten zu zählen, den Feind zum Freund zu machen, sanfte Mahnungen und Schulterklopfen für die SPD-Parteispitzen übrig zu haben. Bliebe nur noch zu beantworten, warum es bei so viel Verständnis von und für alle Seiten überhaupt einen Pflegenotstand gibt.

Teil 2: Tarifbewegung Entlastung im Saarland

Ausgerechnet das kleinste Flächenland der BRD wagte es, in die Fußstapfen der besagten Charité zu treten. Am 14. November 2016 forderte ver.di alle 21 Akutkrankenhäuser des Bundeslandes auf, gleichzeitig in Verhandlungen über einen Tarifvertrag Entlastung einzutreten, verlangte mehr Personal, verlässliche Arbeitszeiten (z. B. bestimmte freie Wochenenden) und einen Belastungsausgleich (z. B. nach Bereitschaftsdiensten). Dies sollte den Auftakt für eine bundesweite Tarifbewegung bilden, die alle Träger umfasse: öffentliche, freigemeinnützige, konfessionelle und private. Letztere ließen ver.di jedoch bis auf 2 Ausnahmen abblitzen.

Am 23. Januar 2017 tagte in Saarbrücken-Dudweiler eine Streikdelegiertenkonferenz mit 184 Delegierten, die 3.749 Beschäftigte vertraten. Obwohl die KlinikeignerInnen die Frist zur Gesprächsaufnahme hatten verstreichen lassen, beauftragte die Konferenz lediglich ver.di, die Unterredung mit deren VertreterInnen zu führen. Eine ursprünglich geplante Urabstimmung wurde ausgesetzt und bloß zu einem Aktionstag aufgerufen. Die Begründung, warum alle KrankenhausträgerInnen zu einem TV für mehr Personal bewegt werden sollen, enthielt einen Pferdefuß: man wolle verhindern, dass Kliniken, die ihn abschließen, einen Nachteil erleiden und umgekehrt Häuser mit einem schlechteren Personalschlüssel belohnt werden. Was aber ist mit den Interessen aller Beschäftigten und PatientInnen? Stehen nicht diese, sondern die betriebswirtschaftliche Lage der „weißen Fabriken“ im Vordergrund? Dürfen Streiks erst dann vom Zaun gebrochen werden, wenn sie alle im Boot sind?

Schlingerkurs als Strategie?

Statt zur Urabstimmung im Saarland durften die Beschäftigten bundesweit zum Krankenhausaktionstag am 21. Februar 2017 antreten. Unter dem Motto „Mach' mal Pause!“ durften sie darauf hinweisen, dass 70,6 % im Nachtdienst keine Pause machen können. Auf dem landesweiten Treffen der TarifberaterInnen am 15.2.2017 wurde die Politik des ausgesetzten Arbeitskampfs bekräftigt. Nur 9 von 21 Krankenhäusern seien streikfähig und damit die selbst gesetzte Schwelle von 11 noch nicht erreicht. Man wolle abwarten, ob die neue Landesregierung - die Landtagswahl fand am 26. März 2017 statt - Vorhaben zur Bekämpfung des Pflegenotstandes festlege, und im Mai „erneut“ zu einem Streik aufrufen, falls das nicht der Fall sei.

Für den Internationalen Frauentag am 8. März rief die Konferenz zu einer Demonstration auf, die von immerhin 4500 Menschen befolgt wurde und damit wohl die zweitgrößte nach Berlin gewesen sein dürfte. Doch diese Manifestation erfolgte im Schulterschluss mit der Saarländischen Krankenhausgesellschaft und der Landesgesundheitsministerin und trat für mehr Pflegepersonal ein, sofern (!) dessen Refinanzierung gewährleistet sei, im Klartext: die Unternehmen also nichts koste!

Am 13. März trafen sich die TarifberaterInnen der saarländischen Kliniken erneut, um festzustellen, dass die Landesregierung zwar im Bundesrat eine gemeinsame (!) Initiative eingebracht habe, aber zum Frühlingsbeginn am 20. März 9 Kliniken zwecks Umzingelung des Landtags und die Uniklinik Homburg am 21.3. zur „Diskussion weitergehender strategischer Fragen“ in den Ausstand gerufen würden. Als daraufhin 4 Krankenhäuser Gesprächsbereitschaft signalisierten, wurde der Streikbeschluss für diese zurückgenommen. Für die anderen liefen die Streikvorbereitungen weiter, hieß es. (http://labournet.de/branchen/dienstleistungen/gesund/gesund-…astung-damit-arbeit-im-krankenhaus-wieder-freude-macht/?cat=7726) Wir werden weiter berichten, ob die Kotaus vor der Arbeit„geber“riege eine Wiederholung der Ereignisse an der Charité gestattet haben, aber auch den Streik und das Ergebnis dort unter die Lupe nehmen.

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Nr. 218, April 2017
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