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Nationalist/inn/en machen mobil Mit Verboten gegen Erdogan? Martin Suchanek, Infomail 936, 28. März 2017 Immer bizarrer werde Erdogan, empört sich CDU-Vizevorsitzende Klöckner anlässlich von Erdogans jüngsten verbalen Attacken auf EU-PolitikerInnen. Die deutsche Kanzlerin in die Nähe von Nazis zu stellen, gehöre sich schließlich nicht. Anders als die offenen RassistInnen und RechtspopulistInnen fordere sie schließlich keinen neuen „Kulturkampf“ gegen den Islam. Das Verbot von Wahlveranstaltungen überlässt Merkel – wie auch das Gros des deutschen politischen Establishments – LokalpolitikerInnen oder VerwaltungsbeamtInnen. Den Kurs des „weltoffenen“ niederländischen Regierungschefs Rutte, der Wilders bei den Wahlen „zähmt“, indem seine Regierung selbst türkischen PolitikerInnen Einreiseverbote erteilt, will sie nicht ganz mitgehen. Schließlich werden die Türkei und Erdogan noch gebraucht, um die Interessen des deutschen Imperialismus und die Sicherung der Außengrenzen der Festung Europa durchzusetzen. Daher lautet die offizielle Linie: auf die „Provokationen“ Erdogans nicht eingehen! Nach dem Referendum in der Türkei, so die Hoffnung, ist der Spuk ohnedies vorbei, werde sich die Lage „normalisieren“. Schließlich brauche der „Partner“ Türkei „uns“ mindestens genauso dringend wie „wir“ ihn. Da ist sicher etwas dran. Die Türkei ist letztlich ein von imperialistischen Mächten, allen voran den USA beherrschtes Land, das angesichts seiner aktuellen Instabilität hofft, sich als stärkere Regionalmacht im Nahen Osten etablieren zu können. Dazu muss auch Stärke gezeigt werden, und das Regime versucht, die Spannungen zwischen USA, EU und Russland zu nutzen, um seinen Spielraum und Einfluss auszuweiten. Dass sich die Türkei vom Einfluss der USA und der EU-Führungsmächte wie Deutschland ein Stück weit frei macht und sich Russland weiter annähert – das ist der rationale Kern der Beunruhigung der führenden Kreise des deutschen Imperialismus und der EU. Zweifellos will auch Erdogan seine Karten „nur“ ausreizen, sind doch das türkische Regime und v. a. die Wirtschaft letztlich auf gute Beziehungen angewiesen. Die Ökonomie des Landes expandierte zwar im letzten Jahrzehnt – doch dies ist auf Pump gebaut. Schon heute liegt die Arbeitslosigkeit bei über 10 Prozent. Die „Erfolge“ der AKP-Politik sind von den internationalen Kapitalströmen abhängig. Der wirtschaftlich eher schwachbrüstige russische Imperialismus wird hier sicher nicht einspringen können. Umgekehrt brauchen Deutschland und die EU die Türkei für ihre rassistische Flüchtlingspolitik und die Abriegelung der Grenzen. Das Land ist außerdem ein wichtiger Investitionsstandort und Markt für deutsche Waren, nicht zuletzt für Waffen. Und es ist auch ein Tor zum Einfluss in den Nahen Osten. Das ficht natürlich die RechtspopulistInnen Europas nicht an. Sie wollen „konsequenten Rassismus“. Sie wollen auch keine ArbeitsmigrantInnen und Geflüchteten, schon gar keine „integrierten“. Allenfalls dulden sie entrechtetes Ausbeutungsmaterial, das nach getaner Arbeit das Land zu verlassen hat. Betrachten wir die „Vorschläge“ von Le Pen, Wilders, Petry, Strache oder Orban, so sind Erdogans Vergleiche gar nicht „bizarr“. Menschenunwürdige Lager für Geflüchtete und mörderische Grenzregime müssen in der „humanistischen“ EU nicht erst zugelassen werden – sie gibt es längst. Die gesellschaftliche Mitte von CDU, SPD, Grünen will darin allenfalls „Ausnahmefälle“ der europäischen Demokratie erblicken und heuchelt Sorge um die Verhältnisse in der Türkei. Die Aushebelung demokratischer Rechte, der Rede- und Meinungsfreiheit, das Herrschen per Dekret könnten nicht geduldet werden. Dabei hat Frankreich gerade den Ausnahmezustand verlängert, Polen die demokratischen Rechte weiter beschnitten. Der Überwachungsstaat wird europaweit ausgebaut und Theresa May will Schottland eine Abstimmung über den Verbleib im „Vereinten Königreich“ verbieten. Diese HeuchlerInnen maßen sich an, über die „Demokratie“ in der Türkei, in einem Land außerhalb der EU zu richten. Während sie sich über die nationalistische Hetze Erdogans empören, werden jene zur „Besonnenheit“ gemahnt, die den RechtspopulistInnen, den HetzerInnen in der EU entgegentreten wollen. Während die Einschränkung der Demokratie in der Türkei beklagt wird, werden die kurdische Widerstandsbewegung und die radikale Linke aus der Türkei weiter kriminalisiert und verboten. Eine Aufhebung des PKK-Verbots? Sicher nicht, so das Innenministerium, schließlich führe man ja den Kampf gegen den „Terrorismus“. Ganz im Sinne dieser Verlogenheit wurde Anfang März das Zeigen der Symbole der syrisch-kurdischen PYD und der Selbstverteidigungskräfte von Rojava, von YPG/YPJ, auf Demonstrationen verboten. All das zeigt, wie falsch all jene liegen – einschließlich von Politikerinnen der Linkspartei wie Wagenknecht –, die sich in den Chor derer einreihen, die das Verbot der Auftritte türkischer PolitikerInnen in Deutschland fordern. Sie bekämpfen damit nicht Erdogan und die weitere Festigung seiner Macht, sondern fordern den deutschen Staat und die EU auf, sich als Schiedsrichterin, als Wahrerin der „Demokratie“ zu betätigen. Ein Verbot von Veranstaltungen der Ja-Kampagne kann sich dann rasch genauso als Mittel zum Verbot der Nein-Kampagne entpuppen, von Aktionen und Versammlungen linker und demokratischer Kräfte, als politisches Eigentor also. Staat und EU sind keine neutralen Instanzen in dieser Auseinandersetzung, schon gar nicht die HüterInnen „der Demokratie“, sondern verfolgen in der Türkei, im Nahen Osten global ihre eigenen ökonomischen und geo-strategischen Interessen. Daher ist nicht nur die Forderung nach Auftrittsverboten, sondern erst recht die nach Sanktionen gegen die Türkei abzulehnen, die mit größter Wahrscheinlichkeit zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung um eine Neuaufteilung des Nahen Ostens beitragen würden. Erdogan und die Verbote Trotz aller Empörung der türkischen Regierung spielen die Verbote von AKP-Veranstaltungen Erdogan in die Hände. Zur Zeit ist er an einer verbalen Eskalation interessiert, weil so die Abstimmung über den eigentlichen Inhalt der Verfassungsänderungen, die diktatorischen Vollmachten des Präsidenten als Volksentscheid über „die Türkei“, „den Islam“ und die rassistischen Zumutungen des Westens dargestellt werden kann. Dass viele TürkInnen auf Erdogans Demagogie und „Opferposing“ reinfallen, ist selbst Resultat der tagtäglichen rassistischen Unterdrückung, die Millionen Menschen in Europa erfahren, und der imperialistischen Ausbeutung. Erdogan braucht diese demagogische Zuspitzung, weil er trotz Kontrolle über die Medien, Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, Entlassung Hunderttausender nicht sicher sein kann, ob er das Referendum gewinnt. Die nationalistische, ultra-reaktionäre Hetze, die Beschwörung des „Osmanischen Reiches“, die Terrorisierung der Opposition durch Polizei und eigene Banden verdeutlichen, dass es bei der Abstimmung darum geht, den Kurs auf eine parlamentarisch verhüllte Diktatur plebiszitär zu festigen. Die AKP ist zwar keine faschistische Partei (und das Regime auch nicht faschistisch). Aber sie ist auch keine „normale,“ religiös geprägte, konservative bürgerliche Partei. Sie ist eine rechts-populistische Partei, die als Verlängerung des Regimes in die Gesellschaft hinein dient, v. a. in die ländliche Bevölkerung und ins KleinbürgerInnentum, diese organisiert und eine Struktur für Massenmobilisierungen darstellt, einschließlich von Abteilungen zur Einschüchterung der Opposition, der Linken und ArbeiterInnenbewegung. Ein „Ja“ beim Referendum würde zweifellos einen weiteren Schritt zur Konsolidierung dieses Regimes bedeuten, an dessen Spitze ein „starker Mann“, ein „Bonaparte“ stehen muss, der sich scheinbar über die Klassen und deren „Sonderinteressen“ erhebt – und so das Geschäft der türkischen Bourgeoisie und v. a. der Fraktionen besorgt, die ihm besonders nahestehen. Um seine Herrschaft zu sichern, würde auch nach einem Sieg keine „Ruhe“ einkehren, sondern Erdogan würde seine Strategie der Spannung fortsetzen, die Ursache aller Probleme auf einen inneren oder äußeren Feind projizieren (die KurdInnen, Verschwörungen Gülens usw.), gegen den der „demokratisch“ legitimierte Präsident mit aller Härte vorgehen würde. Ein „Nein“ wäre ein Schlag gegen diese Absichten. Zugleich würde es die politische Auseinandersetzung in der Türkei verschärfen, da nicht damit zu rechnen ist, dass die AKP ein solches „Nein“ akzeptieren würde. Was tun? Die ArbeiterInnenbewegung und die Linke sollten daher folgende politische Linie verfolgen: Erstens sollten wir, statt Verbote für türkische PolitikerInnen zu fordern, die NEIN-Kampagne der kurdischen und türkischen Linken unterstützen. Es ist wichtig und richtig, dass diese nicht mit den Kampagnen der Nationalisten oder von Reaktionären vermengt, sondern eigenständig geführt wird. Diese Unterstützung sollte zugleich eine kritische sein, also ohne Kritik an der Politik der türkischen und kurdischen Linken und Befreiungsbewegung zu verschweigen. Zur Unterstützung diese Kampagne gehört natürlich auch, lautstarke Protestkundgebungen und Demonstrationen gegen die AKP-Kampagne zu organisieren und zu unterstützen. Zweitens sollte diese Aktivität verbunden werden mit der Forderung nach Aufhebung des Verbotes der PKK und aller anderen kurdischen und türkischen Organisationen in Deutschland und der EU. Drittens fordern wir das Ende des EU-Türkei-Deals und die Öffnung der Grenzen für die Geflüchteten, deren Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes in der EU und volle StaatsbürgerInnenrechte. Wir fordern außerdem die Aufhebung aller Einreisebeschränkungen für Menschen aus der Türkei, insbesondere die Einführung der Visafreiheit. Viertens treten wir für den Stopp von Waffenlieferungen an die Türkei und für den Abzug aller Bundeswehr-Soldaten aus diesem Land ein. Die Regierung und RassistInnen wollen die Auseinandersetzung in der Türkei nicht „in unserem Land“ haben und unterstützen zugleich die türkische Regierung, nicht zuletzt durch Unterdrückung der Opposition in Deutschland. Ihre Verbote richten sich nur vordergründig gegen Erdogan, in Wirklichkeit jedoch mit doppelter Härte gegen linke und demokratische Kräfte, die sich hierzulande auch nicht politisch betätigen sollen. Diese Heuchelei ist uns fremd. Der Kampf gegen die Diktatur, für demokratische Rechte und nationale Selbstbestimmung der KurdInnen geht auch uns, die Linke und ArbeiterInnenbewegung in Deutschland und anderen Ländern, etwas an. Wir sind parteiisch. Wir unterstützen den Kampf der Linken und der ArbeiterInnenklasse in der Türkei. Daher lautet unser Antwort auf Erdogan, Merkel und Rutte: Volle demokratische Rechte für alle MigrantInnen und Geflüchteten! Unterstützung der NEIN-Kampagne! Aufbau einer Solidaritätsbewegung mit der kurdischen Bewegung, der demokratischen Opposition und der ArbeiterInnenbewegung in der Türkei! |
Nr. 218, April 2017
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