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Strategische “Flüchtlingsabwehr “ Der EU

Abschottung nach außen, Angriff nach innen

Christian Gebhardt, Neue Internationale 218, April 2017

Der Arabische Frühling, welcher im Dezember 2010 in Tunesien begann und sich wie ein Lauffeuer über Nordafrika und den Nahen Osten ausbreitete, findet in den bürgerlichen Medien mit Ausnahme der Ereignisse in Syrien nur noch wenig Beachtung. Länder wie Tunesien, Libyen und Ägypten schaffen es hier und da noch in Bezug auf ihre brüchige Stabilität in die Öffentlichkeit, aber ansonsten scheinen diese Massenaufstände Geschichte zu sein.

Vergegenwärtigen wir uns jedoch die Anzahl an Geflohenen in die EU, so wird deutlich, dass ab 2010 die Zahlen der Refugees sowie die an gestellten Asylanträgen nach oben schnellten. Beliefen sie sich für Deutschland in den Jahren 2005-2009 noch auf ca. 40.000 Anträge pro Jahr, stiegen diese nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings von 48.000 (2010) über 127.000 (2013) auf ca. 500.000 (2015).

Nach einer anfänglichen Willkommenskultur und der spontanen Bildung von SupporterInnenstrukturen, um die direkten humanitären Bedürfnisse der ankommenden Refugees zu befriedigen, schwenkte diese Stimmung jedoch schnell um und wir finden uns in einer Situation wieder, in der Alltagsrassismus, rechte Angriffe auf Geflüchtete und MigrantInnen sowie antimuslimischer Rassismus verstärkt auf dem Vormarsch sind.

Aber hat der Arabische Frühling überhaupt etwas mit der „Flüchtlingswelle“ in Europa zu tun? Die Frage kann allein schon durch die syrische Revolution und die Hunderttausende Menschen, die vor dem BürgerInnenkrieg in ihrem Land flüchten mussten, beantwortet werden. Ist dieser BürgerInnenkrieg nur die deutlichste Verbindung zum Anstieg der nach Europa Geflüchteten, so spielte auch der Zusammenbruch der nordafrikanischen Regimes eine wichtige Rolle.

Das wohl bekannteste Beispiel stellen Libyen und sein früherer Machthaber Muammar al-Gaddafi dar, war doch dieser für die „Flüchtlingsabwehr“ der EU und vor allem Italiens ein zentraler Partner. Diese PartnerInnenschaft ließ sich Italien auch viel kosten. Ein bilaterales Abkommen sprach Libyen 2008 Zahlungen in Höhe von 5 Milliarden Euro zu. Deklariert wurden sie als Reparationszahlungen, der Geldfluss war aber verknüpft mit der Bedingung, Flüchtlinge am Übersetzen nach Europa zu hindern. Nicht nur für Italien war Gaddafi ein strategisch wichtiger Partner. 2007 traf sich der Despot mit dem damaligen Präsidenten Frankreichs, Nicolas Sarkozy, der britische Premierminister Tony Blair nannte ihn einen „Freund“ und auch nach Brüssel wurde er eingeladen und dort hofiert. Nicht verwunderlich, schließlich stellt Libyen geographisch ein wichtiges Land für diejenigen Flüchtenden dar, die über das Mittelmeer die tödliche Überfahrt auf sich nehmen.

Damals wie heute: Zusammenarbeit mit Diktatoren

Die Zusammenarbeit mit Gaddafi ist aber nur ein Beispiel von vielen. Alle nordafrikanischen Regime, welche durch den Arabischen Frühling hinweggefegt wurden, hegten unterschiedliche bilaterale Beziehungen mit europäischen Staaten und ließen sich für ihre unmenschliche „Flüchtlingsabwehr“ bezahlen. All dies brach mit der „Arabellion“ zusammen und damit auch die über Jahre hinweg aufgebauten „stabilen Verhältnisse“. Die Zahl der Flüchtlinge stieg somit nicht nur durch die ausbrechenden BürgerInnenkriege an, sondern auch dadurch, dass das Machtvakuum zur Flucht genutzt werden konnte.

Aber nicht nur der Weg über das Mittelmeer stand dadurch „offen“, auch die Landwege wurden frei. Die Schwierigkeiten der dortigen Regierungen produzierten bewaffnete Aufstände und Auseinandersetzungen, damit auch mehr Refugees. 2015 kamen somit über den türkischen Landweg ca. 725.000 Menschen nach Europa und rund 145.000 Menschen über das Mittelmeer. Eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder es wird der gefährliche Seeweg genommen oder der Weg durch von Bürgerkriegen und Auseinandersetzungen mit dem sog. Islamischen Staat gebeutelte Länder.

Nichtsdestotrotz erklären diese Zahlen den strategischen Umgang damit seitens der EU. Nachdem kurzzeitig ein Machtkampf innerhalb der EU ausgetragen wurde, wer nun wie viele Flüchtlinge aufzunehmen habe, waren sich die Herrschenden schnell einig, dass die Außengrenzen besser abgeriegelt werden müssen. Hier stand auf der Prioritätenliste die Schließung des Landweges an oberster Stelle, wirkt das Mittelmeer auf Fluchtwillige schon ohne äußeres Zutun bedrohlicher und dadurch abschreckender.

Nach nur kurzer Vorlaufzeit trat dann der EU-Türkei-Deal am 20. März 2016 in Kraft. Trotz Menschenrechtsverletzungen gegen die KurdInnen und der Begünstigung, wenn nicht Unterstützung des Islamischen Staates im Kampf gegen Rojava durch die Türkei ließ sich die EU den Handel mit dem Erdogan-Regime insgesamt 6 Milliarden Euro kosten. 3 Milliarden Euro wurden sofort ausbezahlt, weitere 3 Milliarden sollen bis 2018 fließen. Im Gegenzug soll sich die Türkei um die „Abwicklung“ der Refugees kümmern und darauf achten, dass nur ausgewählte, für den Arbeitsmarkt verwertbare Menschen nach Europa gelangen. Der Rest soll in Auffanglagern stationiert und von der Türkei aus wieder in das jeweilige Heimatland zurückgeführt werden.

Nächste Station - Afrika

Nachdem das EU-Türkei-Abkommen ausgearbeitet und in die Praxis umgesetzt worden war, verschob sich der Fokus nun darauf, „stabilere Verhältnisse“ in den Schlüsselländern des afrikanischen Kontinents zu etablieren. Hierbei spielt der Charakter des Regimes keine Rolle. Schlussendlich sollen primär die Migrationsströme „kontrolliert“ und Fliehende vom Erreichen des EU-Festlandes abgehalten werden. Es ist damit nicht verwunderlich, dass nach dem Abschluss des EU-Türkei-Deals nicht nur die Berichterstattung über gestrandete Flüchtlinge im Mittelmeer wieder zunimmt, sondern auch Gespräche mit afrikanischen Ländern die Nachrichten prägen.

Hier ist neben den Rabat- und Khartumprozessen, über welche wir schon in unserer Juli/August-Ausgabe 2016 berichteten (www.arbeitermacht.de/ni/ ni211/sudan.htm), auch der vor kurzem stattgefundene EU-Afrika-Gipfel zu nennen. Bei diesem Gipfel trafen sich die Staats- und RegierungsvertreterInnen der EU-Staaten sowie 30 afrikanische Staatsoberhäupter auf Malta. Dieser Gipfel hatte zum Ziel, einen 9-Punkte-Plan zu erarbeiten, um der Flüchtlingsströme Herr zu werden und vor allem die Zuwanderung über das Mittelmeer zu stoppen.

Wie schon damals mit Gaddafi spielt auch dieses Mal Libyen eine zentrale Rolle. Es soll erneut Geld fließen, um stabile Verhältnisse zu schaffen und den Exodus einzudämmen. Dass Libyen immer noch unter einem Bürgerkrieg leidet und jede Fraktion, die das Land kontrollieren will, jedes demokratische Recht mit Füßen tritt, ficht die EU nicht an. Die Schlepperbanden werden zu Hauptgegnerinnen stilisiert und gegen diese müsse auf dem Meer vorgegangen werden. Der libyschen Küstenwache wird hierfür Unterstützung zugesprochen, um effektiver gegen diese „kriminellen und mafiösen Banden“ vorgehen zu können. Gleichzeitig sollen Flüchtlingslager aufgebaut werden, in welchen die Geflüchteten abgefertigt und in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können.

Ob beim EU-Türkei-Deal oder den nun eingegangenen Vereinbarungen mit Libyen und anderen afrikanischen Staaten, die Strategie ist immer die gleiche. Unter dem Deckmantel der Entwicklungshilfe und Kriminalitätsbekämpfung werden repressive bis hin zu diktatorischen Regimes finanziell unterstützt, um die EU vor weiteren „Flüchtlingsproblemen“ zu bewahren. Da schrecken die EU und vor allem Deutschland auch nicht zurück, in Kriegsländer abzuschieben und Vereinbarungen mit Ländern wie Afghanistan abzuschließen (www.arbeitermacht.de/ni/ni216/ afghanistan.htm).

Das eigentliche Ziel besteht hierbei nicht darin, Stabilität und Wohlstand nach Afrika oder in asiatische Staaten zu bringen oder gar die Fluchtursachen zu bekämpfen. Als Hauptziel steht die Stabilisierung der EU selbst im Mittelpunkt. Auch wenn sich die Zahlen an Flüchtlingen, die in den letzten Jahren die EU erreichten, beeindruckend anhören, sind sie doch relativ gesehen verschwindend gering. Allein in Afrika befinden sich 30 Millionen Menschen auf der Flucht und davon die Mehrheit innerhalb afrikanischer Länder. Doch schon die vergleichsweise geringe Zahl an Flüchtlingen hat ausgereicht, um die EU - als wichtiges Projekt für die europäischen Imperialismen - gehörig ins Wanken zu bringen. Da ist es nicht verwunderlich, dass den KapitalistInnen und ihren Regierungen der Angstschweiß auf der Herrscherstirn steht.

Linke Alternative

Wie fragil solche Übereinkünfte aber im Zeitalter zunehmender innerimperialistischer Auseinandersetzungen sind, zeigen die neuesten Ereignisse rund um das Referendum in der Türkei. Erdogan versucht, den EU-Türkei-Vertrag dazu zu nutzen, Druck auf die EU-Länder aufzubauen. Sie sollen ihm nicht in seine innenpolitischen Angelegenheiten reinreden, wollen sie keine erneute „Flüchtlingskrise“ heraufbeschwören. Gleiche Töne waren damals von Gaddafi zu hören, als dieser 2010 nach mehr Geld verlangte und damit drohte, dass die EU sich bewegen müsse, sonst werde der „christliche, weiße“ Kontinent Europa „schwarz“.

Die inneren Gegensätze in der EU, das Erstarken von rechten und rassistischen Kräften, die Instabilität von Ländern wie der Türkei sind nur eine Ursache dafür, dass wir in Zukunft verstärkt den Kampf gegen Rassismus, Abschiebungen, Gesetzesverschärfungen und rechte Angriffe führen müssen. Der zweite besteht darin, dass die kapitalistische Ausbeutung und die imperialistische Konkurrenz weitere Millionen zu Flucht vor Kriegen, Reaktion, Hunger und Armut treiben werden.

Der Rechtsruck in ganz Europa und das Anwachsen des Rassismus sind aber auch durch das Versagen der Linken und ArbeiterInnenbewegung mitverursacht. Die SPD und die Gewerkschaften, aber auch bedeutende Teile der Linkspartei stehen für „kontrollierte“, also von Staat und EU begrenzte „Zuwanderung“. Sie wollen allenfalls eine humanitärere „Abschottung“.

Genau diese Politik steht dem Aufbau eines antirassistischen Bündnisses aus ArbeiterInnenbewegung, Geflüchteten, MigrantInnenorganisationen und der radikalen Linken entgegen. Zugleich ergreift aber auch die letztere keine Initiative zum Aufbau eines koordinierten, bundesweiten Aktionsbündnisses, das im Gegensatz zu einzelnen Gruppierungen Gewerkschaften oder wenigstens Teile reformistischer Massenparteien zur gemeinsamen anti-rassistischen Aktion zwingen könnte.

Neben den mörderischen Abschiebeabkommen, durch die die europäischen Regierungen die meisten Flüchtlinge wieder loswerden wollen, müssen auch die oben beschriebenen Abkommen abgelehnt und soll für deren Rücknahme eingetreten werden, sei es ein „Zehn-Punkte-Plan“ mit Libyen oder einer mit Afghanistan. Das Ziel ist immer das gleiche. Imperialistische Staaten kämpfen darum, einerseits ihr eigenes imperialistisches Konstrukt EU nach innen zu stabilisieren und zum anderen nach außen durch bilaterale Verträge bessere Zugänge zu Märkten zu erlangen. Einer solchen Antwort des Kapitals muss eine Alternative entgegengesetzt werden. Daher schlagen wir eine bundesweite Kampagne um folgende Hauptforderungen vor:

Schluss mit jeglicher Art unmenschlicher Abkommen, egal ob mit der Türkei, Libyen oder Afghanistan! Nein zu allen Abschiebungen!

Offene Grenzen und sichere Fluchtwege, anstatt Menschen dazu zu zwingen, über das Mittelmeer oder durch Kriegsgebiete fliehen zu müssen!

Volle StaatsbürgerInnenrechte für alle! Für die Aufnahme aller Refugees und MigrantInnen in die Organisationen der ArbeiterInnenklasse! Lasst uns nicht entlang nationaler Grenzen und Interessen spalten!

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Nr. 218, April 2017
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*  Strategische "Flüchtingswehr" der EU: Abschottung nach innen, Angriff nach außen
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