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Venezuela

Hands off, Mr. President!

Hannes Hohn, Neue Internationale 199, Mai 2015

Anfang April 2015 unterzeichnete US-Präsident Obama einen Erlass über einen Ausnahmezustand gegenüber Venezuela, weil das Land eine Bedrohung für die USA darstelle. Diese Maßnahme muss vor dem Hintergrund des schwindenden Einflusses des Weltpolizisten USA gesehen werden. Selbst in seinem traditionellen „Hinterhof“ Lateinamerika mehren sich in den letzten zwei Jahrzehnten die Tendenzen, sich dem Zugriff des US-Kapitals und seiner Institutionen zu entziehen. Dafür sprechen nicht nur der, wenn auch brüchige, ökonomische Aufstieg Brasiliens im letzten Jahrzehnt oder der Widerstand Argentiniens gegen die Auflagen des IWF, sondern auch die mehr oder weniger offene Anti-US-Haltung von linksbürgerlichen Regierungen wie in Bolivien. Diese Entwicklung soll u.a. mit einer neuerlichen Offensive gegen Venezuela rückgängig gemacht werden.

Lauer Anti-Imperialismus

Nicolás Maduro, Nachfolger des verstorbenen Präsidenten Chávez, hat mehrere US-Politiker, darunter Ex-Präsident George W. Bush, dessen damaligen Vize Cheney und Ex-CIA-Chef Tenet als „Terroristen“ bezeichnet und ihnen die Einreise verboten. Zudem kündigte Maduro die Einführung einer Visapflicht für US-Bürger an. Daneben wurde eine öffentliche Kampagne gegen die Erpressungsversuche Obamas gestartet. Es sollen zehn Millionen Unterschriften gesammelt und an den US-Präsidenten übergeben werden.

Doch Maduro wäre, wie auch sein Vorgänger Chávez, kein Populist und bürgerlicher Politiker, wenn er neben seinem lautstarken „Anti-Imperialismus“ nicht auch noch eine zweite Option parat hätte. Diese präsentierte er auf dem „Amerika-Gipfel“ in Panama, wo sich am 11./12. April Regierungsvertreter aus 35 Ländern trafen. Maduro brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass der Gipfel „die Türen für einen respektvollen Dialog mit den USA öffnen“ könne. In einem TV-Interview meinte er zu seinem Treffen mit Obama: „Ich würde sogar sagen, dass das ein herzliches Treffen war“. „Respektvoller Dialog“ und „Herzlichkeit“ passen freilich nicht so gut zu den sonstigen anti-imperialistischen Posen Maduros und zeigen, dass sein „Kampf“ gegen den Imperialismus dort aufhört, wo ein Kompromiss möglich scheint.

Venezuela ist ein großes Ärgernis für den US-Imperialismus. Immerhin wurden unter Ex-Präsident Chávez einige Teile der Wirtschaft, v.a. die Ölindustrie, verstaatlicht bzw. die Verteilung der Öleinnahmen neu geregelt. Er leitete große Sozialprogramme für die ärmsten Bevölkerungsteile ein, redete viel vom Anti-Imperialismus und vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.

Krise

Obamas Vorstoß gegen Venezuela hat einen aktuellen Hintergrund. Vor wenigen Jahren wurden dort riesige Erdölvorkommen entdeckt. Das Land verfügt über die größten Ölvorkommen weltweit, was  natürlich für die USA von Interesse ist. Der Hauptgrund für Obamas Aktivitäten ist aber sicher die zunehmend prekäre Lage des Maduro-Regimes.

Die Wirtschaft befindet sich in einer äußerst dramatischen Situation. Trotz des Ölreichtums muss das Land Benzin importieren, da die Raffineriekapazitäten nicht ausreichen. Sprit wird mit Milliarden subventioniert. 2012 kostete ein Liter Wasser genauso viel wie 80 Liter Benzin - eine Subvention, die nicht nur der Masse der Bevölkerung, sondern natürlich auch den Unternehmern zugute kommt. Über 12,5 Mrd. Dollar (4% des BIP) lässt sich der Staat diese Maßnahmen kosten. Der Ölexport macht 96% aller Exporteinnahmen aus. Die vielgerühmten Sozialprogramme kosten jedoch nur 2,3% der Öleinnahmen. Bedeutender ist hingegen, dass z.B. 13% der Gesamtfördermenge dem Schuldendienst gegenüber China, Venezuelas größtem Gläubiger, dienen.

Aufgrund der sinkenden Ölpreise nehmen die Devisenreserven Venezuelas dramatisch ab. Allein  2013 sanken die Dollarreserven um ein Viertel und liegen derzeit bei nur noch 20 Mrd. US-Dollar.

Der Verfall des Ölpreises und die steigende Inflation offenbaren die inneren Widersprüche des chávistischen Wirtschaftsmodells.

Die soziale Lage der Bevölkerung, nicht nur der ArbeiterInnen und armen Bauern, sondern auch großer Teile der Mittelschichten, hat sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Das größte Problem ist die absolut mangelhafte Versorgungslage. Nahrungsmittel und Waren des täglichen Bedarfs sind nur schwer und oft gar nicht zu bekommen. Selbst Benzin ist knapp. Die sozialen Verbesserungen unter Chávez werden zunehmend von diesen Problemen aufgefressen.

Hinzu kommt die Inflation, die die Kaufkraft der Massen entwertet. Dieses Problem ist keineswegs neu, sondern hat den venezolanischen Kapitalismus schon vor Chávez geplagt. So lag diese in den 1990ern sogar bei über 100 Prozent (was natürlich heute von der imperialistischen Propaganda verschwiegen wird).

Heute liegt die Inflation bei ca. 60%. Trotz der fünfmaligen (!) Anhebung des Mindestlohns, von dem die Hälfte aller Familien lebt, innerhalb eines Jahres sinkt das durchschnittliche Realeinkommen deutlich. Selbst das regierungstreue Nationale Statistikinstitut hat eine Zunahme der Armut konstatiert: zwischen 2012 und 2013 ist sie von 21,2 auf 27,3% gestiegen.

Die bürgerliche, reaktionäre Opposition nutzt diese Misere, wo sie kann. Hinter den Protesten stehen, ähnlich wie bei den aktuellen Mobilisierungen in Brasilien, oft die reaktionärsten Teile der Gesellschaft, die sich sozial auf die Ober- und Mittelschichten stützen. Sofern sie soziale Forderungen erheben, dienen sie der Täuschung.

Ein „halber Kapitalismus“?

Doch die Ursachen dafür, dass die Wirtschaft Venezuelas so tief in der Krise steckt, sind weder mit dem fallenden Ölpreis noch mit der zweifellos vorhandenen Sabotage durch die Bourgeoisie erklärbar. Vielmehr sind diese in der Strategie des „Chávismus“ selbst begründet. Weit entfernt von einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, für den auch viele Linke das Projekt von Chávez halten, ist diese Politik nichts anderes als bürgerlicher Links-Populismus, der einen reformierten, sozial gebändigten und vom Imperialismus unabhängigen Kapitalismus anstrebt. Grundlage dieser Gesellschaftskonzeption ist a) ein starker staatlicher Sektor - v.a. die Ölindustrie - und b) ein bonapartistischer, scheinbar über den Klassen stehender Staat.

Bisher gelang es dem Regime, mittels linker und anti-imperialistischer Rhetorik sowie einigen Sozialprogrammen, die ArbeiterInnenklasse und die Armen hinter sich zu bringen. Nicht zuletzt wurden mit der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und den „bolivarischen“ Basisorganen politische Formationen geschaffen, die eng mit dem Staatsapparat verwoben sind und quasi Volksfrontorgane darstellen, also proletarische und bürgerliche Kräfte auf einem linksbürgerlichen Programm vereinen. Diese Organe sind - obwohl tw. Basisorgane - keine Räte, keine wirklichen Machtorgane der Unterdrückten.

Die ökonomische Grundlage Venezuelas ist kapitalistisch. Es dominiert das Privateigentum an Produktionsmitteln und es herrschen marktwirtschaftliche Beziehungen - allerdings stark durch den Staat reguliert.

Venezuelas Dilemma besteht nun darin, dass der Kapitalismus nicht abgeschafft wurde und auch nicht überwunden, sondern nur „modifiziert“ werden soll. Die normalen ökonomischen Mechanismen des Kapitalismus - Konkurrenz, Gewinnstreben, Preisbildung usw. - werden zwar eingeschränkt, bleiben aber insgesamt intakt. So werden die Triebfedern des Kapitalismus begrenzt, ohne dass aber die neuen, ganz anderen Kraftquellen des Sozialismus - die Bedürfnisse und die direkte Entscheidungsgewalt von ProduzentInnen und KonsumentInnen über  Produktion und Verteilung - zur Geltung kommen können.

Als halbkoloniales kapitalistisches Land ist auch die Wirtschaftsstruktur Venezuelas von der imperialistischen Arbeitsteilung bestimmt. Sie war und ist wesentlich vom Ölexport abhängig. Die Verhältnisse zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren sind durch enorme Disproportionen gekennzeichnet. Ein Großteil der Konsumgüter muss importiert werden.

Die bürgerlichen Oppositionellen versprechen, wie alle Apologeten der „freien Marktwirtschaft“, dass es nur an den Subventionen, an der „Entstellung der wirklichen Preise“ läge, welche die ökonomischen Probleme verursachten. Könnte sich der Markt „frei“ entfalten, würde sich die Wirtschaft selbstständig ins „Gleichgewicht“ bringen.

Sie vergessen dabei, dass all die „Eingriffe“ in den freien Markt, die sie beklagen, selbst schon vor Chávez notwendig wurden und auf der Basis des halbkolonialen venezolanischen Kapitalismus unvermeidlich sind. Die drohende Streichung der Subventionen für Öl 1989 hatte zum Aufstand, dem „Caracazo“, geführt, einer der Wurzeln der chávistischen Bewegung. Die Erinnerung an diesen Angriff und der Widerstand dagegen sind bis heute lebendig und auch der Hauptgrund, warum Maduro bisher mit drastischen Subventionskürzungen zögert.

Bürgerlicher Charakter des Chavismus

Es zeigt freilich den bürgerlichen Charakter des Chavismus und seiner Feigheit vor der Bourgeoisie, dass ein großer Teil der Subventionen für Güter nicht an die Armen geht, sondern eben auch an Unternehmen, an alle Klassen. Das entspricht dem Programm, die „produktiven“ Kapitalisten zu fördern, um so „gemeinsam“ das Land voranzubringen - in Wirklichkeit wird so nur ein Teil der Kapitalistenklasse gefördert.

In einem halbkolonialen Kapitalismus wie in Venezuela führt der „freie Markt“ unweigerlich zu sozialer Verwerfung und Verelendung. Doch die „Reparatur“ durch Umverteilung, Subventionen von Lebensmitteln usw. kann letztlich auch zu keiner dauerhaften Verbesserung führen, weil sie nicht nur den Zweck der Produktion, die Profitmacherei, unangetastet lässt, sondern auch die ganze Wirtschaftsstruktur.

Die Marktbeziehungen werden allenfalls modifiziert, doch eine demokratische, auf Räten beruhende Planwirtschaft gibt es nicht. Selbst punktuelle Versuche der ArbeiterInnen, die Produktion unter eigener Regie zu führen oder zu streiken, wurden vom „fortschrittlichen“ Regime teils mit Gewalt unterbunden. Zudem ist es geradezu aberwitzig, zu glauben, eine moderne Ökonomie mehr oder weniger unter Kontrolle einer Staatsbürokratie zu organisieren - als hätte es das historische Scheitern des Stalinismus nicht gegeben!

So führt Chávez' „halber Kapitalismus“ ganz und gar ins Desaster.

Obamas Appetit

Der neuerliche Druck durch Obama soll der bürgerlichen, ultrareaktionären Opposition in Venezuela Rückhalt geben. Eine weitere Zuspitzung der Situation im Lande könnte schnell als Anlass für ein direktes Eingreifen der USA genommen werden. Das Ergebnis wäre natürlich ausnahmslos reaktionär. Nicht die Ausweitung oder Verteidigung der sozialen Reformen, geschweige denn weitere antikapitalistische Umwälzungen, sondern ein neoliberales Schockprogramm, stärkere Abhängigkeit und Ausplünderung Venezuelas wären die Folgen.

Auch wenn viele Linke und fortschrittliche Kräfte in Lateinamerika und international zu Unrecht  große oder gar „sozialistische“ Hoffnungen in Maduro haben, so wäre eine Niederlage Venezuelas gegen den US-Imperialismus auch eine Niederlage für jede progressive Alternative und jeden  Widerstand. Die Alternative heißt nicht Obama oder die CIA, sondern sozialistische Revolution!  Diese aber ist objektiv leichter machbar, wenn nur das chávistische Regime und nicht auch noch eine US-Besatzungsmacht oder deren Stellvertreterregime geschlagen werden muss.

Daher: Schluss mit der US-Kanonenboot-Politik! Verteidigung Venezuelas und seiner sozialen Errungenschaften gegen alle imperialistischen Attacken!

Um diese Ziele umsetzen und das Tor zu einer wirklich sozialistischen Umwälzung aufstoßen zu können, ist es v.a. notwendig, die Illusionen in Maduro und das „chávistische Projekt“ zu überwinden. Die reale Entwicklung der letzten Monate und Jahre offenbart immer mehr, dass dieses in eine Sackgasse führt. Die ArbeiterInnenklasse, die städtische und ländliche Armut müssen sich aus der politischen Fesselung des Chávismus befreien, eigene Machtorgane (Räte, Fabrikkomitees, Milizen, Verteilungskomitees usw.), die nicht unter Kontrolle des chávistischen Staates oder seiner  politischen Agenturen stehen, aufbauen.

Zugleich muss eine Kampagne zur Schaffung einer neuen, revolutionär-sozialistischen Arbeiterpartei geführt werden. Dazu ist es auch notwendig, für volle demokratische Rechte für linke und Arbeiterorganisationen und -strukturen ausserhalb und innerhalb der Gewerkschaften und der PSUV zu kämpfen!

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Nr. 199, Mai 2015
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