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Pflegenotstand

Lehren aus dem Charité-Streik

Jürgen Roth, Neue Internationale 219, Mai 2017

Insgesamt 11 Tage streikte im Jahr 2015 das Pflegepersonal an der Berliner Uniklinik Charité. Im April 2015 stimmten 89,2 % der Gewerkschaftsmitglieder per Urabstimmung und der ver.di-Vorstand zu. Der Tarifvertrag Gesundheitsschutz und Mindestbesetzung (TV) befindet sich seitdem in einem einjährigen Testlauf. Noch ist unklar, ob die Gewerkschaft einer Verlängerung über Juni 2017 hinaus zustimmen wird. Der TV gilt als Vorbild z. B. für die Tarifkampagne Entlastung („Der Druck muss raus!“) im Saarland.

Ergebnis

Viele reden von einem „historischen“ Ergebnis. Feste Mindestbesetzungen gibt es aber nur auf Intensivstationen und in der Kinderklinik. Für die stationäre Normalpflege wurde die Pflegepersonalregelung (PPR) als Grundlage genommen, die Anfang der 1990er Jahre für kurze Zeit flächendeckend in der BRD galt (wir berichteten in NI 218). Der durchschnittliche Personaleinsatz wird bundesweit auf 10-15 % darunter liegend geschätzt, im TV wurden 90 % festgelegt. Für Funktionsbereiche (z. B. OPs, Anästhesie) wurden nur Orientierungswerte vereinbart.

Für den Fall der Unterschreitung des Tarifstandards wurde eine sog. Interventionskaskade in den TV geschrieben. Dies ist ein abgestuftes Kommunikationsverfahren, das im ersten Schritt auf die „Selbstregelungskompetenz“ der Beschäftigten setzt. Diese sollen eine einvernehmliche Lösung mit ihrem/r Vorgesetzten finden. Kommt diese nicht zustande, kann der „Gesundheitsausschuss“, eine weitere, paritätisch zusammengesetzte „Schöpfung“ des TV, eine solche versuchen. Schlägt auch das fehl, wird an die nächsthöhere Leitungsebene appelliert. Außerdem können „ExpertInnen“ herangezogen und ein „Gesundheitszirkel“ eingerichtet werden - wenn du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis! Der Gesundheitsausschuss verfügt über einen „Gesundheitsfonds“ in Höhe von 600.000 Euro, die er für einen „Belastungsausgleich“ einsetzen kann. Genaueres dazu musste nach Tarifabschluss noch ausgehandelt werden.

Der Vorstandsvorsitzende des Klinikums Einhäupl machte gegenüber der Presse klar, dass die Personaleinsatzhoheit weiter beim Management bleibe, die benötigten 200 Zusatzstellen jährlich Kosten von 10-13 Millionen Euro verursachen, die an anderer Stelle durch Effizienzsteigerung wieder hereingeholt werden sollten.

Fazit: „historisch“ ist der TV sicher nicht. Die erzwungenen Neueinstellungen, wenn sie denn tatsächlich erfolgen, sind überschaubar. Das bürokratische Interventionsmonster hilft akut am Krankenbett so viel wie Kaiser Heinrich IV. der Gang nach Canossa. In der Kaskade erfolgt zunächst bei akuter oder absehbarer Unterbesetzung Ersatz aus dem Springerpersonalpool, dann durch Leiharbeit(!). Bettensperrungen und Aufnahmestopp stünden erst am Schluss an. Vorgesetzte werden bei „absehbarer“ Minderbesetzung gar nichts unternehmen und bei akuter zu Ausflüchten greifen wie: „Kein Ersatz zu bekommen!“. Beweise das Gegenteil! Alle Maßnahmen hängen schließlich von der Bereitschaft der Führungskräfte ab, die für die Geschäftsführung arbeiten.

Ein weiteres Dilemma bringt Grit Wolf, Gesundheits- und Krankenpflegerin an der Charité und Mitglied der ver.di-Tarifkommission, im Interview mit marx 21 eher unfreiwillig auf den Punkt: „Momentan schulen wir die Kolleginnen und Kollegen im Umgang mit dem Tarifvertrag. Erst, wenn jede und jeder ihn kennt und auch anwenden kann, kann er als Instrument gegen Überlastung funktionieren.“ (Pflegestreik: Ein heißer Herbst im Krankenhaus - marx21)

Wenn man schon die Tarifschulbank drücken muss, um das bürokratische Machwerk auch nur zu begreifen, um wie viel leichter haben es die Managementprofis, wenn Verstöße gegen den TV nicht einmal sofort und für alle sichtbar sind. Oben beschriebene umständliche Prozeduren, die schon leicht genug zum Abwimmeln zweckentfremdet werden können, treten ja erst dann in Kraft, wenn sie das Personal einfordert. Oder kennt jemand eine Pflegedienstleitung, die sich unaufgefordert für die Interessen und Nöte ihrer Angestellten einsetzt?

Was hatte der TV im September 2016, dem Zeitpunkt des erwähnten Interviews, real gebracht? Dazu Grit Wolf: „Nein, spürbare Entlastungen gab es bisher nicht. Mit Abschluss des Tarifvertrags ist die Auseinandersetzung auch noch nicht beendet. Jetzt gilt es den Tarifvertrag mit Leben zu füllen, denn Papier ist auch an der Charité geduldig.“ Eben, so sind auch GewerkschaftsbürokratInnen!

Teilerfolg

Wir bewerten das Ergebnis als mageren Kompromiss, errungen nach 11-tägigen Streiks und insgesamt 4 Jahren harter Arbeit und Auseinandersetzung. Unsere ausführliche Kritik soll die positiven Seiten des Abschlusses nicht schmälern.

Den größten Erfolg stellt allerdings die Streikstrategie dar. Mittels Notdienstvereinbarungen konnte das Konzept des Betten- und Stationsschließungsstreiks umgesetzt werden. Früher nahm Pflegepersonal gar nicht oder symbolisch als Delegation an Klinikstreiks teil, nicht aktiv. Der Stationsbetrieb lief fast ungestört weiter. In die Hände gespielt hat diesem radikaleren, neuen Konzept paradoxerweise die Ökonomisierung der Krankenhäuser. Diesen„weißenFabriken“ kosten leere Betten richtig Geld, weil sie keine Fallpauschalen kassieren können.

Dazu beigetragen hat aber v. a. die Etablierung neuer gewerkschaftlicher Strukturen in Gestalt der sog. TarifberaterInnen. Das sind „MultiplikatorInnen“, die die Basis informieren und aktiv einzubeziehen versuchen, damit aber auch den Organisationsgrad erhöhen konnten. Jahre zuvor präsentierte die Schlichtung ein Ergebnis, bei dessen Zustandekommen die Belegschaft nicht einbezogen werden konnte. Warum? Einmal, weil während des Schlichtungsverfahrens die Tarifkommission nicht mit der Belegschaft kommunizieren durfte, dann aber auch, weil die Last der Gewerkschaftsarbeit auf den Schultern eines kleinen Grüppchens ruhte. Dies geändert zu haben, verspricht viel für zukünftige Arbeitskonflikte, aber auch für die Demokratisierung ver.dis. Stichwort: Aufbau eines Vertrauensleutekörpers. Erwähnt werden soll auch die positive Rolle des Solidaritätsbündnisses „Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus“. Es hat dazu beigetragen, im Tandem mit Betriebsangehörigen Informationsveranstaltungen (z. B. zum Fallpauschalensystem) für kleine Gruppen aus 4-6 StationskollegInnen durchzuführen, den sog. MultiplikatorInnen.

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Nr. 219, Mai 2017
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