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Vorgezogene Neuwahlen in Britannien

May nutzt reaktionären Brexit-Sieg aus

Arthur H. Milton, Neue Internationale 219, Mai 2017

Das Referendumsergebnis war ein Schock für die internationalistischen Teile der ArbeiterInnenklasse wie fürs britische Establishment, insbesondere die Londoner City, weltweit zweitgrößter Finanzplatz. In den Umfragen steigen die Werte der Tories, während Labour und UKIP Einbußen erleiden. Diesem Phänomen liegt eine weltweite Welle aus Unzufriedenheit mit der Politik des bürgerlichen Mainstreams zu Grunde, die Rechte (Trump, Le Pen, AfD…) wie Linke (Corbyn, Iglesias, Sanders, Mélenchon) nach oben spülte.

Premierministerin Theresa May nutzt die Gunst der Umfragewerte und beraumt Unterhauswahlen für den 8. Juni in der Hoffnung auf einen Erdrutschsieg an. Bevor negative Konsequenzen des Rückzugs aus der EU fühlbar werden, will sie sich bis 2022 eine ruhige Amtsperiode gönnen.

Ihr Plan droht aufzugehen. Die Tories liegen in den Umfragen weit vorn und manche spekulieren gar mit einer absoluten Mehrheit der Stimmen (nicht nur der Abgeordneten). May hofft so, ihre Verhandlungsposition zu stärken, in dem sie ihre Mehrheit so weit ausbaut, dass sie auf abweichende, rechte Brexit-BefürworterInnen im eigenen Lager nicht mehr angewiesen ist. Zweitens soll ein Wahlsieg nicht nur ihre eigene Legitimität stärken, sondern auch etwaige Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland oder Pro-EU-Kräfte in Nordirland in die Schranken weisen. Drittens soll Labour eine vernichtende Niederlage beigebracht werden.

Labours Schwächen

Deren innere Krise kommt ihr dabei zugute. Zwei Drittel der LabourwählerInnen stimmten für den Verbleib in der EU, zwei Drittel der von ihr gewonnenen Wahlbezirke jedoch für den Austritt. Diese Kluft zwischen jungen höher qualifizierten ArbeiterInnen und Angestellten in neuen Industrien und Dienstleistungssektoren von Großstädten wie London, Leeds und Manchester und der Wählerschaft in vernachlässigten, ehemals blühenden Industrieregionen versucht besonders der Mitte-Rechts-Parteiflügel durch Anpassung an die jeweilige vermeintliche Stimmung vor Ort aufzufangen. Profitiert haben jedoch von diesem opportunistischen wie gefährlichen Spiel die LiberaldemokratInnen als Brexit-GegnerInnen oder UKIP als entschiedenere NationalistInnen.

Unabhängig von Tories und LibDem trat Labour für ein „Remain“ ein, die Kampagne führte aber der rechte Flügel, alles unkritische BejublerInnen der EU-Institutionen, von deren „Güte“ griechische ArbeiterInnen und BäuerInnen ein Lied singen können. Auch Corbyn verurteilte diese nicht eindeutig - siehe seine Unterstützung für die Stahlimportregelungen der EU -, hielt sich aber sonst im Hintergrund. Nichtsdestotrotz wurde ihm die Niederlage im Referendum angelastet. Es begann wieder eine Nachfolgerdiskussion. Ein Grund für seine untergeordnete Rolle lag auch in zögerlicher Unterstützung für den EU-Verbleib als Hinterlassenschaft von Labours Anti-EU-Politik bis in die 1980er Jahre hinein. Er kritisierte zwar die Austeritätspolitik von EU-Kommission und EZB, kündigte die Zusammenarbeit mit anderen „sozialistischen“ Parteien dagegen an und gab sich auch nicht dafür her, den Bedenken „besorgter BürgerInnen“ über die Einwanderung entgegenzukommen. Doch eine klare Botschaft, in der Union zu bleiben und sich an der Seite von Lohnabhängigen aller Länder für sozialistische Politik stark zu machen, fehlte.

Schließlich litt Labours Bleibekampagne daran, die wirklichen Ursachen für die Entfremdung ihrer ArbeiterwählerInnen in den ehemaligen Industrieregionen nicht anzugehen, wo einstmals ordentlich bezahlte Stellen im verarbeitenden Gewerbe durch prekäre, Teilzeit- und Mindestlohnjobs ersetzt worden waren. Rechte (und Zentrums-) Labour-Abgeordnete und Stadträte hatten diese (einstigen) Hochburgen der Partei jahrelang vernachlässigt und oft selbst Sparmaßnahmen im Stil der Konservativen und Liberalen durchgeführt. Ein klares Bekenntnis dagegen hätte geheißen, es mit diesen „VerantwortungsträgerInnen“ aufzunehmen. Genau dies scheut aber Corbyn!

Nach der Niederlage bekannte er sich zum Artikel 50, der den EU-Austritt einleitet, und sprach dagegen, UnterhausrepräsentantInnen anzuhalten, gegen den Brexit zu stimmen: der „Wille des britischen Volks“ müsse respektiert werden. Im Januar gab er sein Eintreten fürs Prinzip der „ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit“ auf. Sein Schattenkabinettsmitglied Starmer erklärte, dieses gehöre nicht zu Labours „roten Linien“, der Zugang zum Gemeinsamen Binnenmarkt dagegen wohl: Freizügigkeit nur fürs Kapital, aber nicht für die Lohn- und GehaltsempfängerInnen?

Corbyn gab die dreiteilige Marschroute für einen modifizierten Brexit aus: Zustimmung zum European Union Act 2017 (Ankündigung des Rückzugs), obwohl sämtliche Änderungsanträge seiner MPs (Unterhausabgeordnete) abgelehnt worden waren. Nur 47 von 229 Labour-ParlamentarierInnen stimmten dagegen. Bald wird der Great Repeal Act das Parlament passieren, ohne dass man die genauen Ausstiegsklauseln schon kennen würde. Er wird alle EU-Gesetze in britisches Recht verwandeln als Voraussetzung dafür, dass sie dann im dritten Schritt entweder von der Legislative oder der Regierung kassiert werden können.

Reaktionäre Triumphe

Die Welt durchläuft einen tiefgründigen Wandel, seien es z. B. die Spannungen in der EU, der Brexit, das türkische Referendum, Trumps Wahl und sein Konflikt mit China, der EU, Nordkorea, Syrien und Mexiko. Der ideologische Klammergriff der großen kapitalistischen Parteien auf ihre Wählerschaft aus LohnarbeiterInnen, Mittelschichten und Kleinbürgertum hält nicht mehr fest.

Entgegen den Traumtänzereien manch linker Brexit-ApologetInnen hat dies den politischen Anziehungsschwerpunkt jedoch nach rechts verschoben. Der Brexit wird die Fragen der schottischen Unabhängigkeit und irischen Einheit wieder auf die Tagesordnung stellen. Gibraltar könnte sich im Verhältnis zwischen Großbritannien und Spanien zu einem ähnlichen Zankapfel entwickeln wie die Malvinas (Falklandinseln) mit Argentinien.

Unsere GenossInnen von „Red Flag“ warnten vor dem Referendum vor den reaktionären Konsequenzen eines Brexit als Karneval von Rassismus und Sozialchauvinismus.

Beleidigungen und Übergriffe gegen europäische ArbeiterInnen sind im heutigen Großbritannien ebenso an der Tagesordnung wie physische Attacken auf Geflüchtete wie jüngst in Croydon. Wie von „Red Flag“ vorhergesagt, ging die reaktionäre Saat der BrexitbefürworterInnen auf - mit unfreiwilliger Hilfestellung einiger nützlicher linken IdiotInnen, die ins gleiche Horn tuteten und sich und anderen dies mit linken Phrasen verzierten (Lexit).

Gegen eine solche Posse auf die tragische KPD-Politik zum Roten Volksentscheid Anfang der 1930er Jahre betonten unsere britischen GenossInnen, ihre Aufforderung mit „Remain“ abzustimmen, sei weder für die Union, so wie sie ist, noch aus Furcht vor den bitteren wirtschaftlichen Folgen eines EU-Ausstiegs erfolgt. Entscheidend war der dominierende reaktionäre Hintergrund, vor dem sich der Volksentscheid abspielte. Die Stärkung der Grenzen, Errichtung neuer Zollschranken und Handelshemmnisse, der Widerruf einiger in den europäischen Verträgen verankerten Arbeitsrechte wie v. a. des auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit werde den Chauvinismus anheizen und die Uneinigkeit zwischen britischen und EU-Klassengeschwistern verschlimmern. Sie stellten darum Forderungen nach internationaler ArbeiterInneneinheit und Internationalismus der britischen ArbeiterInnen und Angestellten in den Mittelpunkt ihrer Propaganda, nicht die Einheit mit den Bossen unterm Union Jack!

Dies ist die richtige Strategie, nicht die Versöhnung zwischen zerstrittenen Labour-Fraktionen oder die Erstellung von Manifesten auf dem kleinsten gemeinsamen Parteinenner. Labours aktuelle Politik lässt den LiberaldemokratInnen, Grünen, walisischen und schottischen NationalistInnen Spielraum, als RepräsentantInnen des Internationalismus aufzutreten wie bei den riesigen Demonstrationen von „Frauen gegen Trump“ und „Vereint für Europa“.

Der Großteil der britischen Linken - SWP, SP und CPB - unterstützt dagegen den Brexit und die Labourparty passt sich den Stimmungen in vielen ihrer (ehemaligen) Hochburgen an, ohne an deren verzweifelter Lage in Stadt- und Gemeinderäten substanziell etwas ändern zu wollen.

Internationalismus darf nicht obigen unkritischen, offen bürgerlichen EU-BefürworterInnen überlassen werden oder sich auf die Verteidigung gewonnener gewerkschaftlicher Rechte (Arbeitsplätze, Löhne usw.) beschränken: Wir kämpfen unmissverständlich für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa auf Grundlage entschädigungsloser Enteignung des Kapitals und einer demokratisch-sozialistischen Planwirtschaft auf dem ganzen Kontinent.

Das Referendum kann die Stimme der Minderheit nicht ersticken, die morgen bereits zur Mehrheit werden kann, wenn der Inhalt der Abmachungen klarer zu Tage treten wird. Um eine solche Mehrheit für unsere Ziele durch Überzeugung zu erlangen, müssen wir mit offenen, demokratischen Mitteln v. a. in der ArbeiterInnenschaft ringen. Jede reaktionäre Vertragsklausel, besonders die Aufhebung oder Einschränkung der Freizügigkeit, muss mit allen Mitteln einschließlich Arbeitskampfmaßnahmen erwidert werden. Labour soll gegen die gesamten Brexit-Gesetze stimmen einschließlich der Great Repeal Bill und fordern bzw. durch direkte Massenaktionen erzwingen, dass das endgültige Vertragswerk dem Wahlvolk in einer Abstimmung oder Unterhauswahl vorgelegt wird. Es muss die Zustimmung in Nordirland, Schottland und Wales erhalten. Ihnen muss das Recht auf einen Unabhängigkeitsentscheid ohne Westminsters Veto zugestanden werden.

Am 8. Juni: wählt Labour, aber organisiert den Kampf!

Angesichts dieser Wirrungen der Labour-Politik, dem Zurückweichen Corbyns vor der Parteirechten und der Partei vor der Regierung, droht nun ihre Niederlage bei den Wahlen. Mag die Chance zu gewinnen auch gering sein, so ist es für die weitere Entwicklung des Klassenkampfes in Britannien von großer Bedeutung, wie die Wahl ausgeht. Ein Erdrutschsieg von May könnte zu weiterer Demoralisierung führen und wird sicherlich ein günstigeres Terrain für Angriffe auf die Lohnabhängigen schaffen.

Umgekehrt könnte eine entschlossene Wahlkampagne auch jene hunderttausende Labour-Mitglieder, die wegen Corbyn und wegen ihrer Suche nach einer linken Alternative eingetreten sind, mobilisieren und aktivieren - sowohl im Wahlkampf, in der innerparteilichen Auseinandersetzung wie für die Klassenkämpfe nach der Wahl.

Eine breite linke Wahlkampagne, bei der „Red Flag“ für eine sozialistische Politik eintritt und diese von der Partei einfordert, aber keine Illusionen in die Führung sät, kann auch nach einer Wahlniederlage zur Stärkung kommunistischer Politik führen. Statt langweiliger Routine muss die Kampagne Demonstrationen, öffentliche und Veranstaltungen am Arbeitsplatz, Werbung an Haustüren und Ständen organisieren und die einfachen Gewerkschaftsmitglieder aktivieren, nicht nur Beiträge für Labour zahlen lassen. Die Agitation soll klar die Reichen für die Krise ihres Systems verantwortlich machen und die Lügen und Heuchelei der Milliardärsmedien offenlegen. Eine massive Mehrheit für Mays Konservative bedeutet: Privatisierung des staatlichen Gesundheitswesens NHS, weiteres Schleifen des sog. Sozialstaats, Großbritannien würde ein Niedriglohn- und Steuerparadies für die Superreichen werden. Statt abzustreiten, dass es bei der Wahl zum House of Commons um den Brexit geht, soll eine zukünftige Labourregierung mindestens die Mitgliedschaft im Gemeinsamen Markt anstreben, das Recht auf Bewegungsfreiheit verteidigen und die Ausnahmeklauseln und Schlupflöcher abschaffen, mittels derer britische Konzernchefs einheimische und zugewanderte Arbeitskräfte ausbeuten. Stattdessen drohen die Annahme einer aufgewärmten Wahlplattform wie unter Miliband und faule Kompromisse in all diesen Fragen. Zusätzlich zu Corbyns 10-Punkte-Versprechen fordern unsere GenossInnen u. a.:

Schluss mit der Flickschusterei am Brexit! Freizügigkeit und gemeinsamer Kampf - für ein demokratisch-sozialistisches Europa!

Gegen Militarismus der NATO, Chinas und Russlands sowie ihrer Verbündeten! Großbritannien raus aus der NATO! Schließung aller britischen Auslandsstützpunkte!

Öffentliches Wohnungsbauprogramm, Mietpreiskontrollen, Regulierung privaten Wohnungsbaus! Aufbau eines Nationalen Bildungsdienstes, ausreichende Finanzierung des NHS!

Rücknahme aller Antigewerkschaftsgesetze unter Thatcher und Cameron, für ein neues Arbeitsrecht!

Wirkliche Macht für die Gemeinderäte und volle kommunale Demokratie! Labour muss sich Sparpaketen für ArbeiterInnen, RentnerInnen und Arme verweigern!

Volle demokratische Rechte für Frauen, LGBT-Menschen, Nationalitäten und ethnische Minderheiten!

Progressive Besteuerung von Unternehmen und VermögensbesitzerInnen, Verstaatlichung der Banken und Konzerne unter Kontrolle der arbeitenden Mehrheit, nicht der MillionärInnen! Bruch mit dem kapitalistischen System, dessen Reichtum, Inventar und Macht in ArbeiterInnenhand gehört!

Auch wenn die Labourparty keine Regierung bilden kann, muss diese Kampagne die Bemühungen um Demokratisierung der Partei, die Verbreitung sozialistischer Politik und die Widerstandskraft der organisierten ArbeiterInnenbewegung beflügeln, um einen ernsten Kampf gegen die Tories mit Streiks, direkten Aktionen und Massenbewegungen auf Straßen und Plätzen aufzunehmen. Die Parteirechte hofft, dass Corbyn die Nachwahlen im Mai und die Stimmabgabe fürs Unterhaus im Juni deutlich verliert, um sich seiner zu entledigen. Die Linke sollte die Verantwortlichen für solche Sabotage und krasse Parteiuntreue zur Rechenschaft ziehen.

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Nr. 219, Mai 2017
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