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Ägypten

Der 18. Brumaire des Mohammed Mursi – und wie er gestoppt werden kann

Dave Stockton, Neue Internationale 175, Dezember 2012/Januar 2013

Journalisten habe gemutmaßt, dass dem ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi das Lob aus dem Mund von US-Außenministerin Clinton für seine Vermittlerrolle beim Waffenstillstand im Gaza zu Kopf gestiegen sei. Es hat ihn ermutigt, nach fast diktatorischen Vollmachten zu greifen. Wenn dem so war, hat die massive Antwort der ArbeiterInnen und Jugendlichen auf dem Tahrir-Platz für ein unsanftes Erwachen gesorgt.

Die ägyptische Revolution ist nicht tot, sie hat nur vorübergehend „geschlummert“. Seither ist  klar, dass eine Entscheidungsschlacht eröffnet worden ist zwischen der Massenbasis der Revolution in Jugend und Arbeiterklasse und Mursis Massenanhang. Vom Ausgang dieses Kampfes hängt das Schicksal der ägyptischen Revolution ab, ihrer demokratischen Bestrebungen und ihres Potenzials zu einer gesellschaftlichen Umwälzung für die ausgebeuteten und unterdrückten Massen.

Mursis Griff nach der alleinigen Macht

Natürlich war dies kein Anfall von Größenwahn bei Mursi, er hatte ernst zu nehmende und strategische Gründe für die Ankündigung einer Verfassung mit autoritären präsidialen Befugnissen.

Sein Erlass ist Teil eines anhaltenden Zwists auf zwei Fronten. Zum einen richtet sich Mursi gegen die Parteigänger der alten Regierung, die sich immer noch innerhalb des Staatsapparats widersetzen. Der Erlass sieht vor, dass die Entscheidungen des Präsidenten nicht vom obersten Gericht angefochten werden können, das noch vom Mubarak-Regime ernannt worden war. V.a. will er verhindern, dass das Gericht seine sorgsam ausgewählte Verfassunggebende Versammlung auflösen kann.

Mursi hat noch einen weiteren Grund für die Stärkung seiner Macht. Die ägyptische Regierung hat als Gegenleistung für ihre Mithilfe, die Lage im Gaza-Streifen für den US-Imperialismus zu entschärfen, ein schnelles Darlehen vom IWF in Höhe von 4,8 Mrd. US-Dollar erwirkt. Dies ist wie stets mit der Auflage ökonomischer Liberalisierung und Kürzung der Regierungsausgaben verbunden und wird unausweichlich soziale Unruhen und organisierten Widerstand seitens der Gewerkschaften u.a. Kräfte hervorrufen.

Die Wirtschaftsprobleme für Ägyptens ArbeiterInnen spitzen sich zu. Die Arbeitslosigkeit bei den 15-28jähigen beträgt bereits 75%. Während der vergangenen drei Monate hat eine Streikwelle etliche Teile der Arbeiterschaft erfasst: Luftfahrtpersonal, HafenarbeiterInnen, Universitätsangestellte, LehrerInnen, BusfahrerInnen und GelegenheitsarbeiterInnen in der Landwirtschaft. Die ArbeiterInnen der Kairoer U-Bahn haben dabei einen bedeutenden Sieg errungen.

Natürlich stoßen solche Mobilisierungen mit der Mursi-Regierung und deren AnhängerInnen zusammen. Am 27. November demonstrierten über 5.000 ArbeiterInnen der Misr-Textilwerke in Mahalilaal-Kubra und die Bevölkerung gegen Mursis Verfassungserlass. Als die Protestierenden den Schoun-Platz im Stadtkern erreichten, wurden sie von UnterstützerInnen der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“, der politischen Vertretung der Moslembruderschaft, mit Feuerwerkskörpern attackiert. Die DemonstrantInnen antworteten mit Steinen und Molotow-Cocktails.

Ziel der Präsidialdiktatur

Das ist Mursis zweite Front. Hier stellt sein Erlass einen Präventivschlag gegen Linke und die Arbeiterbewegung dar. Das ist die wirkliche gesellschaftliche Kraft, die er fürchtet und gegen die er die Konterrevolution führen will.

Sein Ziel ist die Errichtung eines Präsidialregimes, in dem keine verfassungsmäßige Kraft, weder gesetzgeberisch noch vor Gericht, ihn behindern kann, und mit dem er sich auf Polizei und Militär stützen kann, welche die Linke zerschlagen und die Arbeiterschaft und ihre unabhängigen Gewerkschaften einschüchtern können. Zugleich versucht er, die offiziellen Gewerkschaften in die Hand der Moslembruderschaft zu bekommen.

Das Ergebnis wäre das, was Marxisten als bonapartistisches Regime (1) bezeichnen und würde den gesamten Arabischen Frühling im Frost erstarren lassen. Es würde die Hoffnungen aller Jugendlichen, die in den letzten beiden Jahren für Demokratie gekämpft haben und oft dafür gestorben sind, zunichte machen. Es würde die neuen Gewerkschaften unterdrücken und die Ausbeutung der ägyptischen ArbeiterInnen zu Gunsten der Millionäre und Geschäftsleute des Landes wie auch für die imperialistischen Banken und Konzerne verschärfen.

Eine solche Regierung, unterstützt von den Banden der Moslembruderschaft und den Salafisten als Mursis Verbündete, hätte zweifellos sehr reaktionäre Merkmale, die den Islamismus prägen: Beschneidung der Rechte von Frauen, Verfolgung von Homosexuellen, Zensur gegen journalistische und künstlerische Freiheiten.

Ägypten steht in den nächsten Wochen an einem Wendepunkt. Kann Mursis ‚imperiale Präsidentschaft' zu Fall gebracht werden? Kann seine verfälschte Verfassung in Stücke gerissen werden? Kann die Revolution sich erneuern und eine breite gesellschaftliche Perspektive für die Ausgebeuteten und Armen eröffnen?

Ja, das ist möglich, wenn sich die ArbeiterInnen und Jugendlichen nicht nur in Massendemonstrationen und Platzbesetzungen, sondern in einem Generalstreik mobilisieren, der die Wirtschaft lähmt und Mursi und die Moslembruderschaft zur Kapitulation zwingt. Das Ziel muss eine Arbeiter- und Bauernregierung sein, die auf örtlichen Räten von ArbeiterInnen, BäuerInnen und einfachen Soldaten beruht. Gegen Mursis handverlesene Versammlung sollten die ArbeiterInnen und ihre BundesgenossInnen für eine demokratisch gewählte und souveräne Verfassunggebende Versammlung eintreten.

Putsche gegen die Verfassung oder deren Versuch begleiten Mursis Weg, seit er vor gerade einmal fünf Monaten Präsident wurde. Dies rührt daher, dass die Haupteinrichtungen der herrschenden Klasse, Armee, Justiz und die alte Staatsbürokratie, zusätzlich zu den islamistischen und liberalen Parteien zerstritten sind und sich gegenseitig bekriegen.

Mursis Umstürze

Schritt für Schritt haben die Moslembruderschaft und ihre politische Front, die „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“, welche die vorgezogenen Parlamentswahlen im November 2011 und die Präsidentschaftswahlen im Juni 2012 gewonnen hat, ihre Macht gefestigt und aus der Zerstrittenheit ihrer Gegner Nutzen gezogen.

Am 15. Juni hat der Oberste Militärrat unter Feldmarschall Mohammed Tantawi gegen die Moslembruderschaft und die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei losgeschlagen, als er das Parlament auflöste und eine zwischenzeitliche Verfassung verkündete, die alle gesetzgeberischen Rechte des Militärrats wieder herstellte, bis Neuwahlen im Unterhaus abgehalten sein würden. Dies war ein Manöver mit der Absicht, Präsident Mursis Bewegungsfreiheit einzuengen.

Doch bald wurde klar, dass Tantawi sich übernommen hatte und damit eine Reihe von Massenmobilisierungen hervorrief und sich die jüngeren Befehlshaber der Militärkaste entfremdete, die schnell angezogen wurden durch Beförderungsangebote auf höhere Posten von Seiten Mursis und der Bruderschaft. Der Präsident startete einen Palastputsch gegen den betagten Tantawi. Am 12.8. erzwang er dessen Rücktritt und widerrief die Beschränkungen seiner verfassungsmäßigen Befugnisse.

Er berief das jüngste Mitglied des obersten Militärrats, General Abdul Fattah-al-Sisi, den früheren Chef der militärischen Spionageabwehr, zum Verteidigungsminister und schickte 70 Generäle in den Ruhestand. Selbst danach blieb jedoch der oberste Militärrat eine fortbestehende Festung der alten Ordnung, der einen rücksichtslosen Kampf führte und Mursis Erlässe abschwächte.

Es scheint, dass dieses Gremium Ende November wieder plante, die Verfassunggebende Versammlung aufzulösen und obendrein die verbliebene Parlamentskammer, den Schora-Rat. Der Oberste Gerichtshof und der Oberste Militärrat hatten am 15. Juni 2012 schon das Unterhaus, die Volksversammlung, kurz vor Mursis Amtseinführung am 30. Juni aufgelöst.

Der Gerichtshof hatte bereits eine frühere Verfassunggebende Versammlung für ungültig erklärt und aufgelöst, v.a. weil sie indirekt durch das (aufgelöste) Unterhausparlament einberufen worden war. Deren Ersetzung mit nur 100 Delegierten wurde ebenfalls von oben bestimmt und nicht durch die Bevölkerung gewählt. Auch sie war mit einer starken islamistischen Mehrheit besetzt, dominiert von der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ und der noch radikaler islamistischen, d.h. reaktionären Salafisten-Partei „Al Nour“.

Während der letzten Monate haben Liberale, Kopten und Linke die Versammlung verlassen, weil sie in den meisten Fragen von den Islamisten übergangen und niedergewalzt worden waren. Da sich die Versammlung am Rande des Zusammenbruchs befand, sah der Oberste Gerichtshof die Gelegenheit, erneut einzuschreiten. Deswegen hat Mursi schnell gehandelt, um ihnen zuvor zu kommen. Daher wurde in einer einzigen Sitzung von ganzen 15 Minuten und ohne Anwesenheit der Opposition die neue Verfassung durchgewinkt, bevor der Gerichtshof eingreifen konnte. Die Entscheidung wurde Mursi zur Unterschrift vorgelegt - vor einer Volksabstimmung innerhalb von 15 Tagen.

Die neue Verfassung setzt fest, dass der Islam Staatsreligion ist und die Prinzipien der Scharia, das islamische Recht, die Hauptquelle der Gesetzgebung ist. Während die Verfassung die Bedeutung der Förderung von „Familienwerten“ hervorhebt, verkündet sie nirgendwo die Gleichstellung von Mann und Frau. Befragt nach den Rechten der Frauen jenseits von Heim und Familie, entgegnete Mursi, Frauen seien Bürger wie alle ÄgypterInnen.

Zudem enthält die Verfassung eine potenzielle Allzweckwaffe, da es die ‚Beleidigung einer Person' verbietet. Damit könnte auch Kritik am Präsidenten unter Strafe gestellt werden. Die Verfassung beschränkt die Religionsfreiheit auf Judentum, Christentum und sunnitische Moslems. Die Stellung der Schiiten und anderer ‚ketzerischer Sekten' ist nicht ausdrücklich geschützt.

Die Schlacht um die Verfassung ist immer noch nicht vorüber. Die Justiz muss jede Volksabstimmung kontrollieren. Die ägyptische Richterschaft hat zum Streik an allen Gerichten aufgerufen. Die wirkliche Schlacht wird allerdings nicht vor Gericht, sondern auf den Straßen und in den Betrieben geschlagen.

Der Inhalt von Mursis Erlass

In klassisch bonapartistischer Manier ist Mursis Verfassungserklärung ein Schlag gegen die Revolution, getarnt als Abwehr der alten Kräfte der Mubarak-Ära, die natürlich bei der Jugend und der Arbeiterschaft Ägyptens verhasst sind.

Artikel 1 des Entwurfs fordert weitere Prozesse gegen Mubarak u.a. frühere Regierungsmitglieder und Sicherheitsbeamte, die für den Mord an hunderten von Protestierenden während der Aufstände von 2011 verantwortlich waren. Der Präsident hat auch den obersten Staatsanwalt, Abdel Maguid Mahmoud, einen Vertrauten  Mubaraks, ersetzt, der nur milde Haftstrafen gegen das frühere Regierungsoberhaupt, seine Gefolgsleute und mörderische Polizeichefs verhängt hatte.

Artikel 2 besagt, dass alle Verfassungserklärungen, Gesetze und Erlasse seit Mursis Amtsantritt „endgültig und unanfechtbar durch eine Einzelperson oder eine Körperschaft sind, bevor eine neue Verfassung rechtskräftig geworden und ein neues Parlament gewählt worden ist.“

Artikel 6 ist der wichtigste, denn er gewährt dem Präsidenten die „Macht, alle notwendigen Maßnahmen und Vorgangsweisen“ gegen jede potenzielle „Bedrohung der Revolution oder der nationalen Einheit“ zu ergreifen.

Eine wichtige Ergänzung zu Mursis Putsch war der Erlass 97/2012, der vorgeblich den Ägyptischen Gewerkschaftsverband ETUF aus der Zeit der alten Mubarak-Bürokratie säubern wollte. In Wahrheit war dies ein Präventivschlag gegen jede Arbeiterdemokratie. Der Erlass begrenzt das Höchstalter von Gewerkschaftsfunktionären auf 60 Jahre, und da 80% der Spitzenfunktionäre über diesem Alter liegen und ehemalige Mitglieder von Mubaraks Partei, der NDP, sind, wird ihr automatischer Rücktritt erzwungen. Eine gute Sache, könnte man denken.

Aber statt der Öffnung für demokratische Neuwahlen durch die Mitgliedschaft, ermächtigt das neue Gesetz den Arbeitsminister, einen treuen Gefolgsmann der Moslembruderschaft, Leute für die verwaisten Führungspositionen zu ernennen. Die ETUF ist der am längsten etablierte Gewerkschaftsverband und hat 2,5 Millionen Mitglieder, aufgeteilt auf 23 Einzelgewerkschaften, und verfügt über große Mittel, z.B. eine Arbeiteruniversität. Die ETUF wäre somit ein mächtiges Werkzeug in Händen der Moslembruderschaft.

Reaktionäre Vereinnahmung

Der Verband hatte die Gewerkschaftsbewegung seit Nassers nationalistischer Militärdiktatur aus den 50er Jahren monopolisiert. Aber er geriet 2006 unter Druck durch eine militante Streikwelle, die besonders durch die Aktionen der 24.000 TextilarbeiterInnen in Mahalla-al-Kubra im Nildelta berühmt wurde. Solche inoffiziellen Streiks führten zur Gründung erster unabhängiger Gewerkschaften im Dezember 2008. Die Schlüsselrolle der ArbeiterInnen und ihrer unabhängigen Gewerkschaften brachten viele ArbeiterInnen dazu, sich im Zuge der Revolution diesen Gewerkschaften anzuschließen. Der Ägyptische Verband unabhängiger Gewerkschaften EFITU zählt aktuell nach eigenen Angaben 2,5 Millionen Mitglieder.

In den Monaten nach Mubaraks Sturz saßen in der provisorischen Regierung auch ein paar radikalere Minister. Einer davon war der Arbeitsminister Achmed Hassan al-Borai, der den Vorsitz über einen Ausschuss innehatte, der sich mit dem Gesetzesentwurf zur Freiheit von Gewerkschaften befasste. Dieses Gesetz wurde aber nie in Kraft gesetzt und stattdessen durch die eindeutig pro-kapitalistische und für den freien Markt eintretende Mursi-Regierung fallen gelassen.

Mittlerweile hat die ETUF, die nun z.T. von von der Regierung eingesetzten Verwaltern geführt wird, einige von Fabriken wie der Misr Spinnerei- und Weberei Gesellschaft in Mahalla al Kubra, verkündet, sie wolle Kundgebungen, Märsche und Sitzblockaden gegen die Übernahme durch die Moslembruderschaft organisieren. Die EFITU hat ebenfalls den Erlass 97 zurückgewiesen. Fatma Ramadan, ein sozialistisches Mitglied ihres Vollzugsausschusses sagte: „Mursi bereitet eindeutig eine systematische Zerschlagung von Ägyptens Gewerkschaftsbewegung vor, er will gegen das Streikrecht, das Organisationsrecht und die gegen die gewerkschaftliche Vielfalt vorgehen.“ Sie fuhr fort: „Das ist eine krasse und unbefugte Einmischung in Gewerkschaftsangelegenheiten durch den Staat. (…) Bei der EFITU stehen wir gegen Mursis Übernahme des Staates und gegen die Vereinnahmung der ETUF durch das Arbeitsministerium.“

Sie fügte hinzu: „Wenn Mursi wirklich besorgt über die Demokratie in der ETUF wäre, würde er zu Gewerkschaftswahlen aufrufen, so dass ArbeiterInnen demokratisch über ihre Vertretungen abstimmen könnten. Stattdessen hat er diese Wahlen weiter verschoben und versucht, seine eigenen Repräsentanten auszuwählen.“

Laut Saber ist die Moslembruderschaft heftig bemüht, ihren Zugriff über die ständischen Syndikate wie die der Anwälte, Ärzte oder Ingenieure, wo sie schon stark sind, hinaus auszuweiten und die Arbeitergewerkschaften zu übernehmen: „Ich glaube, dass die Bruderschaft an der Übernahme der ETUF interessiert ist und damit auch deren Einrichtungen Arbeiterbank, Ferienheime, Arbeiteruniversität und den Kulturzentren im ganzen Land.“

Am 27. November haben die beiden unabhängigen Gewerkschaftsverbände, die EFITU und der Ägyptische Demokratische Arbeiterkongress EDLC gemeinsam mit linken politischen Parteien zur „Nationalen Front zur Verteidigung von Arbeiterrechten und Gewerkschaftsfreiheiten“ zusammen geschlossen. Ihre Forderungen beinhalten:

Streichung des einschränkenden Gewerkschaftsgesetzes 35/1976;

Verabschiedung des Entwurfs zum Gesetz über Gewerkschaftsfreiheit, Förderung von Arbeiterrechten zur Organisationsfreiheit, Schutz gegen Strafverfolgung für gewerkschaftliche Betätigung, Bestrafung für Verletzung der Arbeitsschutzgesetze durch Unternehmer oder Staat;

Etablierung einer gleitenden Lohnskala bei gesetzlichem Mindest- und Höchstlohn (nicht mehr als 15fach über Mindestlohn).

Politische Schlussfolgerungen

Die aktuellen Ereignisse zeigen, wie gefährlich und falsch die Taktik der „kritischen Wahlunterstützung“ für die Bruderschaft und Präsident Mursi durch die „Revolutionären Sozialisten Ägyptens“ (Teil der International Socialist Tendency, in der BRD Marx 21) war. Ihre Rechtfertigung, dass Mursi das „kleinere Übel“ wäre oder sogar das „konservative Gesicht der Revolution“ waren ein fundamentaler Bruch revolutionärer Prinzipien, welcher sich nicht durch die Politik Mursis gegenüber dem Militär und Tantawi rechtfertigen lässt. Die Taten von Mursi und der Bruderschaft repräsentieren nichts, wofür die ägyptische Revolution stand, wenn auch die Jugend der Bruderschaft in der Revolution gegen Mubarak aufopferungsvoll kämpfte, so repräsentiert die Führung der Partei heute das Gesicht der Konterrevolution. Diese sind eben nicht das „kleinere Übel“ gegenüber Tantawi und den alten Eliten, im Gegenteil: Während die alten Eliten keine soziale Basis mehr hatten, sind jetzt die Bruderschaft und die Salafisten mit ihrer Basis die Spitze der Konterrevolution.

Wenn die reaktionären Kräfte in der Lage sind, ihre Macht zu festigen, d.h. Kontrolle über den Repressionsapparat herzustellen und „ihr Gesetz“ durchsetzen, dann droht eine Herrschaft vergleichbar mit der Mubaraks. Gerade wenn sich die Bruderschaft und die Salafisten jetzt gegen die demokratischen Kräfte, die Linke und die Arbeiterklasse durchsetzen, droht eine schlimmere Herrschaft als die der Generäle. Wenn nun die alten Eliten aus Armee, Judikative und Bürokratie von Mursi angegriffen werden, dürfen sie nicht die Möglichkeit bekommen, sich als die Verteidiger der „Demokratie“ oder des „Rechtsstaats“ aufzuspielen, das gilt auch für die bürgerlichen Kräfte und Parteien, die als Ziel die Unterordnung unter den US-Imperialismus anstreben.

Verbindung mit der Arbeiterklasse

Linke Revolutionäre und alle jungen FreiheitskämpferInnen aus Ägypten dürfen sich bei diesen Kräften keine Verbündeten suchen. Sie müssen sich zuallererst mit den ArbeiterInnen aus den Betrieben, Industriegebieten und dem Öffentlichen Dienst verbinden, müssen Kontakte zu den ausgebeuteten Bauern und Bäuerinnen und zu den Arbeitslosen und prekär Beschäftigten der Vororte und Slums der Großstädte herstellen. Die Avantgarde der Arbeiterklasse muss versuchen, diese Schichten in Stadt und Land vom Einfluss der Netzwerke und Strukturen der Bruderschaft und der Salafisten zu brechen.

Die revolutionären Kräfte brauchen dazu Forderungen, um die ökonomischen und sozialen Bedürfnisse von Millionen aufzugreifen, inklusive der Enteignung der Großgrundbesitzer und der Entmachtung des Militärs. Es ist wichtig, dabei den Beschäftigten, den Armen und der Bauernschaft  zu helfen, demokratische und unabhängige Gewerkschaften bzw. gemeinsame Delegiertenräte aufzubauen, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nur dann wird es gelingen, die sozialen Versprechungen der Islamisten, ihre „Wohlfahrtseinrichtungen“ und ihr „Opium fürs Volk“ zu entzaubern. Natürlich müssen dabei die Religion und der Glaube der Unterdrückten und Ausgebeuteten respektiert werden, in einigen Fällen kann es auch möglich sein, mit fortschrittlichen Kräften der islamistischen Jugend zusammen zu arbeiten - was aber nicht geschehen darf, sind strategische Blöcke mit der Bruderschaft oder salafistischen Gruppen.

Jetzt müssen Massenmobilisierungen organisiert werden, um Mursis Verfassungspläne zu stoppen. Ebenfalls sollten die Forderungen nach einem Generalstreik in jeder Gewerkschaft, in jedem Betrieb und in den beiden großen Dachverbänden erhoben werden. Dazu sollten die revolutionären Kräfte aufrufen, lokale Arbeiterräte zu wählen, um den Generalstreik durchzusetzen, wie auch Taktiken gegen das Verfassungsreferendum zu entwickeln.

Welche Verfassunggebende Versammlung?

Gegen die bisherige Verfassunggebende Versammlung, welche von Mursi und Co. ausgewählt wurde, braucht die Bewegung eine unabhängige, frei und geheim gewählte Verfassunggebende Versammlung mit direktem Wahlrecht für alle ÄgypterInnen ab dem 16. Lebensjahr, ohne Beschränkung oder „Vormundschaft“ der Frauen durch ihre Ehemänner, Väter oder die Imame. Alle Einschränkungen und Verbote der Aktivitäten von Parteien und Organisationen müssen aufgehoben werden.

Die Wahlen und die Auszählung der Stimmen müssen von den Kräften der Januar-Revolution, der Jugend, der Arbeiterklasse, den AktivistInnen für Demokratie und Freiheit beobachtet und kontrolliert werden. Allen Parteien und unabhängigen KandidatInnen muss  ein wirklich gleicher und freier Zugang zu den Medien gewährt werden.

Alle Ausgaben und Finanzmittel für Wahlen müssen offengelegt werden und allen KandidatInnen auch die Mittel zustehen, zu den WählerInnen zu reisen und mit ihnen zu sprechen. Bestechung und Korruption von WählerInnen muss aufgedeckt und die beteiligten KandidatInnen müssen von den Wahlen ausgeschlossen werden.

Alle Parteien müssen ihre programmatischen Grundsätze und Vorstellungen für die Verfassung offen legen, öffentliche Debatten der KandidatInnen sollen gewährleisten, dass alle Beschäftigten, alle Slum- und DorfbewohnerInnen die Möglichkeit haben zu hören, wofür die verschiedenen Parteien stehen. Alle Wahlbezirke sollen demokratische Räte wählen, um „ihre“ Abgeordneten kontrollieren zu können, ihre Finanzmittel einzusehen - und wenn nötig sie abzuwählen.

Nur wenn diese Dinge von den Massenorganisationen der ArbeiterInnen, Bauern, der Jugend erzwungen werden, können die Zusammensetzung und Entscheidungen einer Verfassunggebenden Versammlung überhaupt den Willen der Bevölkerung widerspiegeln.

Hinzu kommt, dass die aktuelle Zuspitzung auch die Frage von Arbeiter- und Volksmilizen auf die Tagesordnung stellt - nur so können sich die linken und fortschrittlichen Kräfte gegen die Angriffe der Polizei oder islamistischer Banden verteidigen und auch die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung absichern.

Doch selbst wenn eine solche demokratisch gewählte Verfassunggebende Versammlung zustande kommt, müssen sich die revolutionären Kräfte bewusst sein, dass dies noch nicht die Lösung der Krise der ägyptischen Gesellschaft ist. Auch die Verfassunggebende Versammlung wäre vielmehr nur der Ort, an dem die verschiedenen Programme gegensätzlicher Klassen aufgestellt und aufeinander prallen würden, damit zumindest die ganze Nation sehen kann, welche Wahl sie hat.

Die zentrale Losung für RevolutionärInnen muss daher die Forderung nach einer Arbeiter- und Bauernregierung sein, gestützt auf Arbeiter- und Bauernräte und verteidigt von eigenen Milizen. Was auch immer das Ergebnis der Kämpfe gegen Mursi in den nächsten Wochen sein wird, es wird wichtig sein, dass all jene, die für einen revolutionären Weg eintreten, sich dazu entschließen, eine gemeinsame revolutionäre Arbeiterpartei aufzubauen, die die Massen führen kann. Das ist der einzige Weg, um die demokratischen Ziele des 25. Januars zu erreichen - indem die ägyptische Revolution permanent wird, die demokratische Revolution verbunden wird mit einer sozialen Revolution gegen Kapitalismus, Großgrundbesitzer und Imperialismus.

Fußnote:

(1) Die Bezeichnung „Bonapartismus“ ist abgeleitet von den monarchistischen Konterrevolutionen gegen die französische Revolution. Der erste napoleonische Staatsstreich von 1799 war am 18. Brumaire des revolutionären Kalenders (9. November 1799) und wurde von Marx gebraucht, um den Putsch seines Neffen (Napoleon III.) am 2. Dezember 1851 zu beschreiben.

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Nr. 175, Dez. 2012/Jan. 2013
*  Nach dem europäischen Aktionstag vom 14. November: Was nun?
*  Firenze 10+10: Treffen der Totengräber?
*  Generalstreik in Spanien: Ein Signal an Europa
*  Heile Welt
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*  Streik bei Neupack: Gemeinsam gegen Krüger
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*  Ägypten: Der 18. Brumaire des Mohammed Mursi