Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Wahlen in Venezuela

Chavez wählen?

Rico Rodriguez, Neue Internationale 173. Oktober 2012

Am 7. Oktober finden in Venezuela Präsidentschaftswahlen statt. Die Hauptkandidaten sind der seit 1998 amtierende Präsident Hugo Chávez, Kandidat der PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) und Henrique Capriles Radonski, Kandidat des bürgerlichen Lagers und des rechten Parteienbündnisses MUD (Tisch der demokratischen Einheit). Daneben stehen weitere „kleine“ Kandidaten zur Wahl, darunter der Gewerkschaftsführer Chirino, Kandidat der PSL (Partei des Sozialismus und der Freiheit, venezolanische Sektion der UIT, einer internationalen morenistischen Tendenz).

Eine Bilanz der Regierung

Die Wahlen sind für ganz Lateinamerika sehr wichtig. Zur Wahl steht immerhin Hugo Chávez, der  für Fortschritt, Antiimperialismus und Antikapitalismus steht und viel Ansehen genießt. So ist es für das Gros der Linken auch in Europa keine Frage, zu Chavez´ Wiederwahl aufzurufen.

In den 13 Jahren der Regierung Chávez sind bedeutende Reformen und Fortschritte im sozialen wie politischen Bereich erreicht worden. Chávez hat die staatliche Erdölfirma PdVSA wieder unter staatliche Kontrolle gebracht und die Öl-Einnahmen genutzt, um Hilfsprogramme (sog. Misiones) zu finanzieren, die v.a. den Armen zugute kam. Die bekanntesten sind die Programme zur Alphabetisierung, Bildung und Gesundheitsversorgung sowie der Aufbau kommunaler alternativer Medien. Ebenfalls sehr positiv sind die kommunalen Supermärkte in armen Stadtteilen, die subventionierte Lebensmittel verkaufen. Viele VenezolanerInnen aus der Arbeiterklasse und der armen Schichten haben zum ersten Mal in ihrem Leben von solchen Maßnahmen der Regierung profitiert. Wirtschaftspolitisch hat Chávez international bei der Linken v.a. mit einigen Verstaatlichungen im Banken- und Kommunikationssektor gepunktet, die darauf abzielten, die Kontrolle des Staates über die Wirtschaft nach zwei Jahrzehnten Neoliberalismus wieder auszubauen.

Doch auf der anderen Seite blieb die Regierung hinter ihrer radikalen, „sozialistischen“ Rhetorik zurück. Von dieser lassen sich viele Linke immer wieder täuschen. Bei näherer Betrachtung unterscheidet sich die Regierung Chávez kaum von anderen links-populistischen Regierungen, die einige progressive Maßnahmen durchführen. Diese sind natürlich zu unterstützen, aber von „Sozialismus“ ist in Venezuela wenig zu spüren. Der bürgerliche Staat und das Privateigentum an Produktionsmitteln sind nach wie vor felsenfest verankert.

Zwar hat sich die Armut in Venezuela seit 2002 um 21 Prozent verringert, aber zugleich ist die Schere zwischen Armen und Reichen sogar größer geworden. Auch der Anteil der Privatunternehmen an der Wirtschaft ist unter Chávez - paradoxerweise trotz der Verstaatlichungen - gestiegen. Oft verschwiegen wird auch, dass einheimische wie internationale Konzerne mit der Regierung durchaus gute Geschäfte machen (das trifft übrigens auch auf die Verstaatlichungen zu, die großzügig entschädigt wurden). Die Regierung vergibt auch weiterhin Konzession an internationale Ölkonzerne und geht zahlreiche Verträge mit diesen ein. Heute sind an 40 Prozent aller Aktien im venezolanischen Ölsektor multinationale Ölkonzerne beteiligt.

Ein weiterer Fakt, der nicht viel Aufsehen erregte, ist, dass die Regierung Chávez auch die Vorgaben des IWF weiter umsetzt, die u.a. zur sehr hohen Inflation beitragen.

Ein gutes Beispiel für diesen widersprüchlichen Charakter der Regierung ist das am 1. Mai dieses Jahres unterzeichnete neue Arbeitsrecht. Es verringert die Wochenarbeitszeit von 44 auf 40 Stunden, verbietet das Outsourcing laufender Arbeitsaufträge, verlängert den Mutterschaftsurlaub vor und nach der Geburt von 18 auf 26 Wochen und stellt das alte, durch neoliberale Reformen von 1997 geänderte System der Abfindungen wieder her.

Das alles ist unterstützenswert. Doch warum wurden diese doch recht bescheidenen Reformen erst nach 13 Jahren „sozialistischer“ Regierung eingeführt?!

Basisorganisationen der Chávistas und die Arbeiterkontrolle

Was die Regierung Chávez aber von anderen links-bonapartistischen Regierungen unterscheidet, ist das hohe Maß an demokratischer Basisaktivität, das von der Regierung gefördert wird.

Viele Linke sehen in Venezuela einen „Prozess“, der nach und nach die „Volksmacht“ aufbaut und den bürgerlichen Staat nach und nach ersetzt. Wichtigster Bestandteil dieser Idee sind die Consejos Comunales (kommunale Räte), die seit 2006 ins Leben gerufen wurden und seitdem gefördert werden. In diesen Consejos organisieren sich die Menschen in ihren Stadtteilen. Sie bekommen Geld vom Staat, um sich z.B. um die Verbesserung der Infrastruktur, der Kindergärten und Schulen oder die Wasserversorgung zu kümmern. Letztes Jahr wurde angekündigt, dass sich die Consejos zu „Comunas Socialistas“ zusammenschließen sollen, was seitdem auch umgesetzt wird. Eine solche Comuna vereint mehrere Consejos (5 bis zu 20) und kann größere Projekte in Angriff nehmen.

Sind diese Consejos nun die Volksmacht, als die sie oft angesehen werden? Ohne Zweifel haben sie  die Selbstorganisation der Basis gefördert. RevolutionärInnen sollten deshalb in diesen Organisationen mitarbeiten. Doch die Consejos unterscheiden sich in wesentlichen Dingen von echten Machtorganen. Erstens sind sie vom bürgerlichen Staatsapparat durch die Finanzierung abhängig, oft auch von diesem initiiert und geführt, wenn auch von Chávistas. Zweitens kümmern sie sich hauptsächlich um praktische Fragen, weniger um politische. Sie binden die BasisaktivistInnen in lokale Aktivitäten ein und nehmen dem Staat sogar wichtige Aufgaben ab. Die realen politischen Befugnisse bleiben aber beim (bürgerlichen) Staat. Das ist ein sehr interessanter Punkt, denn reale Machtorgane des „Volkes“ bzw. der Arbeiterklasse weisen eine ganz andere Charakteristik auf: sie haben politische und ökonomische Macht und können praktische Aufgaben an verschiedene Apparate delegieren.

Der Gewerkschafter Santiago Arconada äußerte in einem Beitrag auf Aporrea gar, dass die Consejos fünf Jahre nach ihrer Einführung von der Bevölkerung ähnlich weit entfernt seien wie die traditionellen Gemeindeverwaltungen. Das ist kein Zufall. Auf Dauer können demokratische Basisorgane oder kommunale Selbstverwaltungsorgane nämlich nicht auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft existieren, ohne in diese inkorporiert zu werden, ohne ihre eigene untere Funktionärsschicht, ohne ihre eigene „kleine“ Bürokratie hervorzubringen.

Dieser Widerspruch tritt noch deutlicher in der Frage der Arbeiterkontrolle zutage, wo sich - im Unterschied zu den Consejos Comunales - die Machtfrage konkret stellt: wer besitzt und führt einen Betrieb, wer organisiert die Verteilung, letztendlich die ganze Wirtschaft - die ArbeiterInnen oder die Kapitalisten? So ist es kein Zufall, dass die Regierung Chávez diese Art von „Volksmacht“ weit weniger unterstützt, ja oft aktiv behindert. Dafür gibt es etliche Beispiele. Zwar gibt es mittlerweile mehrere Betriebe unter Arbeiterkontrolle, aber diese wurden allesamt in einem harten Kampf gegen die Kapitalisten - und die Regierung - abgerungen. Chávez selbst hielt sich dabei bedeckt, so dass die Verantwortung entweder Oppositionspolitikern oder lokalen bzw. regionalen PSUV-Führern zufiel.

Das neueste Beispiel ist der Betrieb Vivex, der im Juni 2011 nach zweijähriger Auseinandersetzung verstaatlicht wurde und seitdem unter Arbeiterkontrolle agiert. Interessanterweise gab es zeitgleich auch eine große Auseinandersetzung bei Mitsubishi - in derselben Region -, wo ArbeiterInnen den Betrieb ebenfalls besetzt hielten und die Verstaatlichung forderten. Das ist deshalb wichtig, weil Vivex Fensterscheiben für die Autoindustrie herstellt. Mitsubishi war der größte Kunde. Für das Überleben von Vivex unter Arbeiterkontrolle war es also entscheidend, wie der Kampf bei Mitsubishi ausgeht. Doch die Regierung hat sich dort einer Verstaatlichung verweigert. Der Kampf wurde verloren und der Betrieb ist weiter in Händen des japanischen Konzerns - der heute „natürlich“ keine Fensterscheiben mehr bei Vivex kauft.

Die Klassenfrage

Dieses Verhalten der Regierung Chávez ist für uns kein Zufall, und auch nicht - wie in der Linken oft argumentiert - bloße Verantwortung der Bürokratie, die den sozialistischen Charakter der Regierung bremsen würde. Die PSUV und die ganze Bewegung in Venezuela sind schließlich sehr stark durch die Machtfülle der zentralen Figur - Hugo Chávez - geprägt. Wenn Chávez eine Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle durchsetzen will, dann kann er das natürlich auch, wie bei Vivex u.a. Betrieben bewiesen.

Für MarxistInnen ist für den Aufruf zur Wahl nicht entscheidend, ob eine Regierung „linkere“ Politik als eine andere macht. Die entscheidende Frage ist: auf welche Klasse stützt sich die Regierung bzw. die Partei? Und da fällt im Falle Chávez die Antwort eindeutig aus: Die Regierung sowie die 2007 gegründete Regierungspartei PSUV sind klassische Beispiele für eine Volksfront, also ein Bündnis der Arbeiterklasse, der armen Schichten, der Kleinbauern auf der einen und Teilen der Bourgeoisie (in Venezuela als Boli-Bourgeoisie oder Bolívarische Bourgeoisie bezeichnet) auf der anderen Seite - auf Basis eines Programms, das die bürgerlichen Eigentums- und Staatsstrukturen insgesamt akzeptiert!

Trotz etlicher Reformen - selbst Resultat des Drucks der Massen - ist die Regierung Chavez eine bürgerliche Regierung, die den Kapitalismus verteidigt. Das Regime Chavez stützt sich dabei sowohl auf die Armen und Teile der Arbeiterklasse, die über die bolivarische Bewegung organisiert und kontrolliert werden, wie auf den Staatsapparat und Teile der Bourgeoisie. Er selbst erscheint dabei als Vermittler, als über den Klassen und ihren Kämpfen stehender Präsident - der freilich in letzter Instanz umso besser den Kapitalismus verteidigt. Für solche Regime gab und gibt es gerade in Lateinamerika zahlreiche Beispiele - die allesamt nicht zum Sozialismus führten.

Diese Politik ist trotz Wohltaten für die Armen letztlich nicht progressiv und schon gar nicht proletarisch. Das zeigt sich vielleicht noch deutlicher als auf der nationalen auf internationaler Ebene. Seine Ablehnung der US-Imperialismus hat nichts mit proletarischem Internationalismus zu tun, sondern läuft auf die obskure politische Unterstützung reaktionärer Diktatoren wie Gaddafi, Ahmadinedschad oder Assad hinaus, von Despoten, die von Hugo Chavez zu „Volksfreunden“ und „Anti-Imperialisten“ stilisiert werden. Auch in Lateinamerika darf die Rhetorik von Chavez nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das Land v.a. an Verbündeten wir Brasilien orientiert oder auch gern den bürgerlichen Vermittler spielt, wie z.B. bei der jüngsten Initiative zur Befriedung der FARC in Kolumbien.

Kritische Wahlunterstützung für Chirino!

Jede Errungenschaft der 13 Jahre Regierung Chávez muss von der Arbeiterklasse im Bündnis mit den armen Schichten und der Bauernschaft verteidigt werden. Wir würden und werden Hand in Hand mit allen Organisationen in Venezuela, natürlich auch den Chávistas, dafür kämpfen. Ebenso ist klar, dass Capriles für die Massen keine Alternative darstellt. Er würde Venezuela zurück auf einen neoliberalen, US-freundlichen Weg führen und die Errungenschaften des „bolívarischen Prozesses“ angreifen. Aber letztlich führt auch Chávez die Arbeiterklasse in eine Sackgasse. Sein Balanceakt zwischen Proletariat und Bourgeoisie muss früher oder später auf die eine oder andere Seite kippen.

Was in Venezuela dringend nötig ist, um die Errungenschaften zu verteidigen, weiterzuführen und eine wirklich grundlegende soziale Umwälzung durchzuführen, ist ein Bruch mit der Bourgeoisie und der Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei. In diesem Sinne stellt die Kandidatur von Orlando Chirino eine richtige Alternative, einen Schritt vorwärts dar. Die Arbeiterklasse braucht eine eigene Stimme, eine eigene Partei, die unabhängig von allen Flügeln der Bourgeoisie, von allen anderen Klassen die Interessen des Proletariats zum Ausdruck bringt.

Chirino kommt aus der Gewerkschaftsbewegung und steht im Gegensatz zu Chávez für die Unabhängigkeit von den KapitalistInnen.

Chirino spricht sich für eine sozialistische Gesellschaftsordnung und für eine „Regierung der ArbeiterInnen und der Volksmassen“ aus. In seiner Wahlplattform tritt er u.a. für die vollständige Enteignung der multinationalen Konzerne und der Banken unter Arbeiterkontrolle ein, für die Streichung der Auslandsschulden, für die Einführung eines Mindestlohns und für eine radikale Landreform im Interesse der Bauern und der indigenen Bevölkerung. Vor allem spricht er sich aber für die Unabhängigkeit der Arbeiterorganisationen vom Staat aus.

Zweifellos hat sein Programm auch politische Schwächen - gerade wenn es um die Frage geht, durch welchen Staat der aktuelle bürgerliche Staat ersetzt werden soll (Räte, Milizen) oder wie konterrevolutionären Gefahren mit der bolivarischen Bewegung gemeinsam begegnet werden muss. Auch hat sich Chirino in der Vergangenheit immer wieder auch zu prinzipienlosen Blöcken mit Gegnern von Chavez hinreißen lassen.

Arbeiterkandidat

Auch wenn seine Organisation, die PSR (Partido Socialismo y Libertad = Partei für Sozialismus und Freiheit), relativ klein ist, verfügt Chirino selbst über einen gewissen Rückhalt in der Arbeiterklasse. Seine Kandidatur verkörpert also nach unserer Einschätzung einen linken Bruch eines Teils der Arbeiteravantgarde mit dem Chavismus.

Deshalb sehen wir in der Kandidatur von Chirino einen richtigen Schritt und geben ihm unsere kritische Wahlunterstützung. Viele Linke sehen darin eine Schwächung des „anti-imperialistischen“ oder „progressiven“ Lagers. In dieser Situation müsse man für Chávez aufrufen, sonst gefährde man den gesamten „Prozess“, alle Errungenschaften der letzten 13 Jahre und spiele der Rechten sowie dem Imperialismus in die Hände.

Doch das ist ein Totschlagargument. Die Regierung selbst und deren Charakter sind die wirkliche Gefahr für den „Prozess“. Der Charakter einer Volksfrontregierung führt beständig zur Gefährdung des ganzen „Projektes“, weil sie versucht, sich zugleich auf verschiedene Klassen zu stützen. Das zeigt sich in Venezuela auch in den ständigen Schwankungen des Militärs. Letztendlich wird bei jeder Wahl der „Kopf“ von Chávez zur Disposition stehen. Diese Logik bindet die gesamte Linke an Chávez und damit letztlich die ArbeiterInnen an die Bourgeoisie.

Selbstverständlich würden wir Chávez gegen jeden Putsch oder Versuch eines Sturzes von außen verteidigen. Doch die Wahlen sind kein Putsch. Als MarxistInnen verteidigen wir die Kandidatur von eigenen KandidatInnen der Arbeiterklasse. Das trifft auf Chirino zu, auf Chávez aber nicht.

Entgegen allen Romantisierungen der „bolívarischen Revolution“ und des „venezolanischen Weges zum Sozialismus“ wird sich auch in Venezuela früher oder später die Alternative gestellt werden:  Voranschreiten zur Revolution und zum Sozialismus unter Führung des Proletariats oder aber Sieg der Bourgeoisie und Zerstörung der erreichten Errungenschaften. Ein Bündnis, ein Ausgleich zwischen beiden Klassen ist auf Dauer unmöglich. Gerade in Lateinamerika sind solche Versuche schon öfter gescheitert, z.B. in Allendes Chile - mit blutigen Konsequenzen.

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 173, Oktober 2012
*  Europa: Ein heißer Herbst
*  Spanien: Das neue Griechenland
*  Veranstaltungsbericht: Solidarität mit Griechenland
*  Nachlese zu UmFAIRteilen: Vom Herbstlüftchen zum Winterschlaf?
*  Autoindustrie: Comeback der Krise
*  SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück: Merkel-Flüsterer
*  Gewerkschaftslinke: Holpriger Neustart
*  Soziale Lage: Perspektive Armut
*  NAO: Eine neue Chance
*  Syrien: Warum ich mich dem Aufstand anschloss
*  Wahlen in Venezuela: Chavez wählen?
*  Heile Welt
*  Rassismus: Wider Islamhetze und religiöse Doppelmoral