Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Zum Klassencharakter von SPD und DIE LINKE

Marxismus oder Empiriodogmatismus?

Jürgen Roth, Neue Internationale 128, April 2008

Der Wahlerfolg Ypsilantis in Hessen hat bekanntlich nicht die Krise der SPD gelöst, sondern verschärft. Ihr verbaler Linksschwenk hat nicht nur taktische Fragen in der Partei die LINKE, sondern auch die Frage nach ihrem Charakter, ihrem Verhältnis zur organisierten Arbeiterbewegung aufgeworfen.

Was charakterisiert eine bürgerliche Arbeiterpartei?

Die Antwort auf die Frage nach dem Klassencharakter der beiden Parteien, welche die deutsche Arbeiterbewegung dominieren, fällt der „extremen“ Linken in diesem Land nach wie vor schwer. Edith Bartelmus-Scholich („LINKE, SPD und Grüne als Einheitsfront für die Interessen der Lohnabhängigen?“, 1.3.2008) versucht eine methodische Annäherung: „Ob eine Partei eine Arbeiterpartei ist oder nicht, hängt von bestimmten Merkmalen ab: ihren Zielen und ihrer Strategie, ihrer Praxis, der sozialen Zusammensetzung, ihrer Wählerbasis, ihrer Organisationsstruktur, ihren Beziehungen zum Kapital und zum bürgerlichen Staatsapparat, ihrer Geschichte und ihren internationalen Beziehungen.“

So weit, so gut! Ihre Analyse von Programm, Praxis und Zusammensetzung der SPD führt sie zu dem Schluss, dass die SPD keine bürgerliche Arbeiterpartei mehr sei. Ab wann nicht mehr? Darüber entzweit sich der eigene Geist! Programmatisch wird der Bruch 1959 verortet: „Das Godesberger Programm ist eine Absage an den letzten Rest sozialdemokratischen Denkens. Anstelle der alten reformistischen Vorstellung, 'über Reformen zum Sozialismus' zu kommen, ist das uneingeschränkte Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie selbst getreten.“

Auch in der sozialen Zusammensetzung sei die SPD längst keine proletarische Partei mehr: „Angestellte aus dem öffentlichen Dienst und Beamte stellen mehr als 40 Prozent der FunktionsträgerInnen.“ Drittens: „Schon vor der Regierungsübernahme 1998 war die SPD eine neoliberale Partei.“ Schließlich: „Innerhalb der SPD hat seit Mitte der 90er Jahre der Wirtschaftsrat erheblich mehr Einfluss als der SPD-Gewerkschaftsrat. Dementsprechend hat sich ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften entfremdet. Viele GewerkschafterInnen sehen heute die SPD nicht mehr als parlamentarisch-politische PartnerIn an.“

Programm: reformistischer Sozialismus?

Zunächst ist festzuhalten, dass das Godesberger Programm den letzten formalmarxistischen „Ballast“ entsorgt hat. Zweifellos stellt es im Vergleich zum Erfurter bzw. Heidelberger Programm einen deutlichen Schritt nach rechts dar. Im Gegensatz zur Verklärung der „guten, alten Tante SPD“ vor 1959 beurteilen revolutionäre MarxistInnen den Klassencharakter eines Programms nicht nach dessen Worten, sondern messen es am objektiven strategischen Inhalt. Lenin und Trotzki ließen keinen Zweifel daran, dass es sich beim „reformistischen Weg zum Sozialismus“ um eine bürgerliche Ideologie handelte, um direkten Betrug an den Arbeiterinnen. Nicht nur, dass der Reformweg nicht zum Sozialismus führen kann. Das würde ja bedeuten, dass Reformismus für den Kampf ums Minimalprogramm geeignet sei, weil er sich für Reformen im Rahmen des Systems einsetzt, aber sozusagen auf halbem Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus stecken bleiben muss.

Nein, Reformismus bedeutet seit 1914 die Knebelung des Proletariats an das Schicksal des „eigenen“ Imperialismus (Sozialimperialismus). Die reformistische Strategie ist seitdem durch und durch konterrevolutionär, bürgerlich und oft genug eine Begleitmusik für Konterreformen - nicht erst seit 1959.

Mitgliederbasis: Vorherrschaft der Mittelklassen?

Richtig beobachtet ist, dass Beamte und Angestellte den aktiven Teil der Mitgliedschaft weitgehend prägen, dass sich die klassische Aristokratie der Industriearbeiterschaft nicht mehr in dem Maße wie noch vor 50 Jahren am Parteileben beteiligt, sondern eher Karteileichen verkörpert. Allerdings beantwortet das nicht die Frage, zu welcher Klasse Beamte und Angestellte gehören. Wir sagen: im überwältigenden Umfang zur Arbeiterklasse! Das zu leugnen, würde die Aussicht auf eine Überwindung des Kapitalismus verschlechtern. Die Entwicklung des Kapitalismus führt aber nicht zu einer Abnahme des Bevölkerungsanteils der Lohnabhängigen, sondern gemäß dem Gesetz zunehmender Konzentration und Zentralisation des Kapitals zur Vernichtung des klassischen Kleinbürgertums und damit zum Anschwellen der lohnabhängigen Masse (Arbeiterklasse und Mittelschichten ohne Besitz an Produktionsmitteln). Das gilt auch und gerade für die Nachkriegsentwicklung in der BRD!

Schließlich verstellt der Ausflug in die Gefilde bürgerlicher Soziologie vielen GenossInnen den Blick auf die nach wie vor wirklich herrschende kleinbürgerliche Parteikaste: die Arbeiterbürokratie!

Praxis: organisierte Arbeiterbewegung zusehends ignoriert?

Auch hier ist wieder festzustellen, dass die Schröder-SPD neoliberale Politik und die Rechtsentwicklung der Partei betrieben hat. Fraglich bleibt indessen, ob das Ausmaß rot-grünen Sozialabbaus wirklich eine neue Dimension im Vergleich zu den Verbrechen der „guten, alten Tante“ darstellt: Befürwortung der Kriegskredite, Einsatz der Freikorps gegen revolutionäre ProletarierInnen, Tolerierung der Brüningschen Notverordnungen, Kapitulation vor Hitler - das sind nur ein paar Mosaiksteine aus ihrem reichen konterrevolutionären Repertoire!

Auch das Verhältnis zu den „Bewegungen“ hat sich nicht qualitativ seit der Großen Koalition 1965 verändert. Die SPD trat ihnen nicht nur als Staatsmacht entgegen, sondern konnte sich auch nach wie vor an die Spitze setzen, um sie zu integrieren und abzuwürgen. So erging es der Bewegung gegen die Nachrüstung. Auch die Ende 2003 massiv auftretende Bewegung gegen die Agenda 2010 konnte mit Hilfe des DGB abgefangen werden. Der Großteil der „radikalen“ StudentInnen landete nicht bei den Maoisten, sondern bei den Jusos und löste eine regelrechte Euphorie für Willy Brandt aus.

Die GenossInnen., die der SPD den Charakter einer bürgerlichen Arbeiterpartei absprechen wollen, haben auch in einem weiteren Punkt Recht. Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Arbeitersport- und Kulturorganisationen nicht wieder aufgebaut. Das Genossenschaftswesen (Neue Heimat, Konsum, Bank für Gemeinwirtschaft) verwandelte sich in ein normales kapitalistisches Geschäft. Andere Vorfeldorganisationen (Reichsbund, Mieterbund, Arbeiterwohlfahrt usw.) verloren an Dynamik, wurden entpolitisiert.

Aber damit büßt die SPD keineswegs ihren widersprüchlichen Charakter als bürgerliche Arbeiterpartei ein. Die organischen Bindeglieder zur organisierten Arbeiterschaft sind „nur“ weniger und dünner geworden.

Bürgerliche Arbeiterpartei heute

Die SPD-Mitgliedschaft ist weiterhin überwiegend proletarisch zusammengesetzt. Die Teilnahme der Basis am Parteileben ist aber passiver als noch in den 1960er Jahren, als Besuche der Jahreshauptversammlung, von Wahlkampfveranstaltungen, aktiver Wahlkampf und regelmäßige Besuche durch den Kassierer Pflicht waren. Heute beherrschen die MandatsträgerInnen - oft aus den neuen lohnabhängigen Mittelschichten stammend und sozial über der klassischen Arbeiteraristokratie stehend - den Laden völlig.

Die Genossenschafts-, Bildungs-, Kultur- und Sportorganisationen existieren ebenso wie eine Massenpresse nicht mehr. Also stützt sich die SPD „nur“ noch über die Gewerkschaften auf die Arbeiterklasse. Sie unterscheidet sich also kaum noch von der britischen Labour Party. Die Gewerkschaftsbürokratie, die zu Bebels Zeiten noch zum rechten Flügel gehörte, steht heute in der Partei eher am linken Rand.

Die organischen Bindeglieder des Reformismus sind nicht gekappt, aber schwächer geworden. So wie der Gewerkschaftsapparat der SPD als Partei zur Verteidigung seiner Bürokratenrolle bedarf, so bedarf der Parteiapparat der sozialdemokratischen (!) Kontrolle der Gewerkschaften. Sonst wäre diese Partei für nichts und niemanden nütze. Das ist ja gerade der einzige Trumpf gegenüber der Bourgeoisie, aber auch der einzigartige Vorteil für letztere: mittels der Kontrolle der SPD über die Gewerkschaften die organisierte Arbeiterschaft ins System einzubinden. Verliert die Partei dieses Monopol, versinkt sie in der Bedeutungslosigkeit, es sei denn, sie würde eine bestimmte Fraktion des Bürgertums, die einflussreich genug ist, organisieren. Davon ist die Sozialdemokratie allerdings immer noch weiter entfernt als Union, FDP oder GRÜNE!

Fazit: die SPD bleibt weiter eine bürgerliche Arbeiterpartei. Nicht nur das: sie stellt in der BRD das Haupthindernis für einen revolutionären Einfluss auf die organisierte Arbeiterbewegung dar! Niemand wird wohl ernsthaft den Gedanken an eine erfolgreiche sozialistische Revolution in diesem Land hegen dürfen, ohne ihre Mehrheit zu gewinnen. Aber das bedeutet v.a., der SPD ihre Basis abspenstig zu machen!

Damit aber behalten alle Elemente der Einheitsfronttaktik gegenüber der SPD ihre volle Gültigkeit. Das Lavieren Ypsilantis und Becks ist der jüngste Beweis für ihren nach wie vor widersprüchlichen Charakter: vollständig bürgerliche Politik bei gleichzeitiger Massenverankerung in der organisierten Arbeiterbewegung. Das Wahlverhalten der gewerkschaftlich organisierten „Arbeitnehmerschaft“ bei den jüngsten Landtagswahlen untermauert diese Analyse noch.

DIE LINKE

Auch sie ist eine bürgerliche Arbeiterpartei. Sie beherrscht sicher nicht den Gewerkschaftsapparat, stellt aber untere und mittlere Funktionäre. Aus ihr rekrutieren sich viele GewerkschaftsaktivistInnen in Ost und West (Vertrauensleute). Das zeigt sich auch darin, dass beide Parteien von Gewerkschaftsmitgliedern, also der organisierten Arbeiterschaft, weit überdurchschnittlich gewählt werden, also Illusionen gerade unter diesen Teilen der Klasse nach wie vor verkörpern.

Das zeigen auch die letzten Wahlen wieder einmal. Von den gewerkschaftlich Organisierten wählten in Hessen 50% SPD und 10%die LINKE, in Niedersachsen 43%SPD, 10%die LINKE. Beides liegt deutlich über dem sonstigen Stimmenanteil für beide.

Eine größere Rolle als bei der SPD spielen Vorfeldorganisationen wie z.B. die Volkssolidarität. Auch die auf Wohngebietsebene organisierte Mitgliedschaft beteiligt sich trotz hohen Durchschnittsalters wohl aktiver am Parteileben als die SPD-Basis. Andererseits wird die LINKE dort, wo sie mitgliederstark ist, also im Osten, oft stärker von Mittelschichten oder Kleinunternehmern geprägt als die SPD.

Der Kampf zwischen „Modernisieren“ und „Traditionalisten“ findet in der LINKEN wie in der SPD und in den Gewerkschaften statt.

Qualitativ unterscheidet sie sich von der SPD als zweiter bürgerlicher Arbeiterpartei nicht. Ihr Klassencharakter ist wie jener der SPD bürgerlich und nicht etwa noch „offen“, wie manche Linke (SAV, ex-Linksruck) in der LINKEN meinen.

Wohl aber bindet die LINKE die Illusionen anderen Schichten der Lohnabhängigen und Arbeitslosen, oft auch jener, die im Zuge der Agenda 2010 mit der SPD gebrochen haben oder in diversen Mobilisierungen aktiv wurden und nach eine kämpferischen oder „ehrlichen“ politischen Alternative zur SPD suchten.

Diese Schichten sind - wie sich in der WASG und deren Berliner Eigenantritt gezeigt hat - auch ein wichtiges Potential für die Bildung einer politischen Alternative zu den Apparatparteien ist, das allerdings von seinen Illusionen in den Reformismus oder seine „linkere Spielart“ gebrochen werden muss. Das heißt, dass RevolutionärInnen gegenüber der LINKEN (wie auch der SPD und den Gewerkschaftsführern) die schonungslose Kritik mit der Forderung nach Bruch mit der neoliberalen Politik verbinden müssen mit der Forderung nach Mobilisierung gegen die Angriffe des Kapitals - nicht, weil wir die Illusionen hätten, dass diese Parteien dann wenigstens für Reformen konsequent kämpfen würden, sondern weil nur so der Arbeiterbasis dieser Parteien demonstriert werden kann, dass die Reformisten selbst für Reformen nichts taugen.

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 128, April 2008
*  Ver.di-Tarifabschluss: Etwa Geld, viele Kröten
*  Tarifrunde Öffentlicher Dienst: Die Linken und der Streik
*  Berlin: Rot-rote Vorkämpfer der sozialen Gerechtigkeit?
*  Lidl-Skandal: Einzelfälle mit System
*  Heile Welt
*  Berliner Schulen: Mathe, Bio - Streik!
*  Zum Klassencharakter von SPD und DIE LINKE: Marxismus oder Empiriodogmatismus
*  Sri Lanka: Arbeiterbewegung, Krieg und Krise
*  Liga für die Fünfte Internationale: Aufbau in Asien
*  Tibet: Nationale Frage und Klassenkampf
*  Afghanistan: Ein weiterer Irak?