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Frankreich

Nein zum staatlichen Rassismus!

Marc Lassalle, Infomail 903, 16. September 2016

Im Kielwasser der terroristischen Gräueltaten vom 13. November 2015, die 130 Tote hinterließen, brachen MinisterInnen der sozialistischen Regierung sowie OrtsbürgermeisterInnen in verschiedenen Städten und Regionen Maßnahmen vom Zaun, die sich gegen MuslimInnen und migrantische EinwanderInnen richteten.

Der barbarische Anschlag von Nizza am 14. Juli hat das Gefühl von Angst und die Duldung der staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen unter dem im November erklärten Ausnahmezustand wiederbelebt. Dieser wurde mehrfach erneuert und zeigt kein Anzeichen für sein baldiges Ende. Er mündete in willkürliche und einschüchternde polizeiliche Durchsuchungen von Menschen, deren einziges „Verbrechen“ darin bestand, MuslimIn zu sein. Der ganze ebenso reaktionäre wie stümperhafte Versuch, TerroristInnen mit doppelter Staatsangehörigkeit ihre französische Staatsbürgerschaft abzuerkennen, unterstrich auch die zwischen Terrorismus und Einwanderung gezogene Verbindung.

Rassistisches Klima

Infolge dieses von oben ermunterten rassistischen Klimas haben Angriffe auf MuslimInnen und Moscheen stark zugenommen, einschließlich der gegen Menschen, die einfach nur traditionelle Kleidung trugen. Nach den Ermordungen von Nizza, einer als Hochburg der Rechten und des FN bekannten Stadt, ist die Atmosphäre gegenüber MuslimInnen noch feindlicher geworden trotz der Tatsache, dass ein beträchtlicher Anteil an den Opfern des 14. Juli aus der nordafrikanischen Gemeinde stammte.

In einem in der New York Times veröffentlichten Artikel brachte eine junge Frau die Situation treffend auf den Punkt: „Die Zungen haben sich gelöst. Niemand scheut sich mehr, einem/r MuslimIn zu erzählen: ‚Geh nach Hause!’“.

Das von mehr als 20 BürgermeisterInnen ausgesprochene Verbot des sog. Burkini an den Stränden markiert eine erneute Eskalation dieser rassistischen Politik. Diese Entscheidung wurde zwar später vom Conseil d’État, dem obersten Verwaltungsgericht und Rechtsberatungsgremium der Regierung, kassiert, welcher fand, der Bann verletze die Bürgerrechte, aber die BürgermeisterInnen erhielten die Unterstützung des Ministerpräsidenten Manuel Valls. Er sagte, der Burkini stehe nicht „im Einklang mit den Werten der französischen Republik“, denn: „Ein Strand ist wie alle öffentlichen Räume kein Platz, an dem Leuten erlaubt werden soll, religiöse Ansprüche zu erheben. Der Burkini ist die Übersetzung eines politischen Projekts, einer Gegengesellschaft, die auf Versklavung von Frauen fußt.“

Valls und ein Teil der Sozialistischen Partei fahren eifrig fort, die Staatsgewalt gegen MuslimInnen einzusetzen. 2004 wurde unter dem konservativen Staatspräsidenten Jacques Chirac der Kopfschal oder Hidschab im Namen des Säkularismus, der Weltlichkeit, aus den Schulen verbannt. Jahre später wurde das Tragen von Niqab (Gesichtsschleier) und Jilbab (traditionell muslimisches langes Gewand) auf den Straßen untersagt. Diese Gesetze stellen in Wahrheit rassistische Eingriffe dar in der Absicht, Migrantinnen unter dem Vorwand der Verteidigung von Säkularismus und Frauenrechten zu isolieren und zu stigmatisieren.

Frauen gegen deren Willen zu „befreien“ oder Mädchen aus der Schule nach Hause zu schicken, weil sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollen, ist ein Angriff auf das Recht der Frauen, sich nach Belieben zu kleiden, und aller Gemeinden und Religionen, das staatliche Bildungswesen zu nutzen. Es ist eine Attacke auf die Freiheit der Religionsausübung und nutzt weder Weltlichkeit, Frauenbefreiung oder demokratischen Rechten.

All das erreichte einen neuen und abstoßenden Höhepunkt in den Szenen, wo Polizisten an einem Strand Nizzas dem Gesetz Geltung verschafften, indem sie eine Muslima zwangen, das „anstößige“ Kleidungsstück auszuziehen.

Tatsächlich stellt das ein Echo der rassistischen FN-Propaganda dar, die seit Jahrzehnten behauptet, es gebe zu viele EinwanderInnen, und diese für Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel, Kriminalität usw. verantwortlich macht. In jüngst zurückliegenden Jahren sind mehrere prominente Intellektuelle, darunter Schriftsteller Michel Houllebecq und der ex-maoistische Philosoph Alain Finkielkraut, in diesen Chor eingefallen. Beide beschreiben ein Land, in welchem die „wirkliche“ französische Identität in Gefahr schwebt. Houllebecq geht so weit, „einen Bürgerkrieg zur Entfernung des Islam aus Frankreich“ auszurufen und die Menschen zur Wahl Marine Le Pens und des FN aufzufordern.

Unnötig zu erwähnen, dass diese „Bedrohung“ der französischen Kultur und Identität eine komplette Einbildung verkörpert – in einem Land, wo die ImmigrantInnen aus dem Maghreb eine sozial und rassisch unterdrückte Minderheit darstellen, die oft in verarmten Vorortghettos zu leben gezwungen ist, wo MuslimInnen nicht genügend religiöse Gebäude gestattet bekommen! Was sollen französische BürgerInnen mit nordafrikanischem und/oder muslimischem Hintergrund fühlen, außer dass der französische Staat sie gewaltsam assimilieren oder zur Ausreise nötigen will? Sind diese PolitikerInnen etwa überrascht, dass das Resultat davon in Entfremdung der Leute ausschlägt, die in Frankreich aufgewachsen sind, und dass eine winzige Minderheit von ihnen anfällig für die Botschaft terroristischer Gruppen wird? Islamophobie und islamistischer Terrorismus stärken sich gegenseitig.

Die Kampagne für die Staatspräsidentenwahlen im nächsten Jahr verspricht auf der gleichen Spur zu verlaufen. Nicolas Sarkozy hat bereits seine Absicht kundgetan, eine Kampagne um das Thema nationaler Identität herum zu führen und rassistische Ausfälle gegen den Hidschab an Universitäten oder gegen die Bereitstellung von Schulmahlzeiten, die kein Schweinefleisch enthalten, als Alternative für muslimische SchülerInnen weiterzutreiben.

Calais

Die neueste Episode in dieser Reihe rassistischer Angriffe ist die Ankündigung von Innenminister Bernard Cazeneuve, das Camp von Calais (den „Dschungel“) aufzulösen. Hier leben 10000 MigrantInnen, die das Vereinigte Königreich zu erreichen versuchen, unter prekären Bedingungen. Trotz des Ausnahmezustands vermochte vor kurzem der FN eine Demonstration in Calais zu inszenieren, die mehr Polizeikräfte und Unterdrückungsmaßnahmen forderte.

Natürlich werden die ArbeiterInnen und BürgerInnen Calais’ bewusst gegen die MigrantInnen in Stellung gebracht. Man muss den französischen und britischen Regierungen die Schuld daran zuweisen. Diese weigern sich, anständige Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, das Asylrecht in Britannien oder Frankreich anzuerkennen und der Asylsuche stattzugeben. Das proletarische Klassenbewusstsein geht in diesem rassistischen Klima unter. Selbst ein/e örtliche/r CGT-FührerIn forderte das „Ausmerzen“ von Leuten um den „Dschungel“ herum und unterstützte andere Forderungen der Demonstrierenden.

Tatsächlich sind die Positionen der größten extrem linken Gruppierung, der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), einzigartig unter der französischen Linken. Sie hat eine internationalistische Linie in der ganzen Frage verfolgt, organisierte eine Demo gegen das Burkiniverbot und fordert offene Grenzen. Die zweitgrößte Gruppe der radikalen Linken, Lutte Ouvrière (ArbeiterInnenkampf), äußert sich so gut wie nicht und unterstützt das rassistische Verbot muslimischer Kleidung in Schulen und öffentlichen Gebäuden.

Angriffe auf bürgerliche Freiheiten richten sich heute vornehmlich gegen MuslimInnen und MigrantInnen, doch morgen können sie sich gegen die ArbeiterInnenbewegung und politische Freizügigkeit wenden. Der Aufbau einer antirassistischen Bewegung gegen dieses Gift und dessen Verbreitung innerhalb der ArbeiterInnenklasse ist jetzt zu einer dringlichen Aufgabe geworden. Aber es ist auch notwendig, die vor der Sommerpause eingestellten Kämpfe wiederzubeleben und die Themen aufzugreifen, über die die ArbeiterInnen aus gutem Grund wütend sind, und somit eine Alternative zur Sozialistischen Partei (PS) und der Rechten aufzuzeigen.

Angesichts der unerreichten Unbeliebtheit von Staatspräsident François Hollande, der sich bitter bekämpfenden Flügel der PS, die uneins sind über die Unterstützung der Partei für Sparpolitik und reaktionäres Arbeitsrecht, steht die Rechte bestens gerüstet für ein großes Comeback bei den Präsidentschaftswahlen im April/Mai nächsten Jahres in den Startlöchern. Und diese umfasst nicht nur Sarkozy und die konservative Rechte, sondern auch Marine Le Pen und den Front National.

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