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Kopfpauschale

Ende der gesetzlichen Krankenversicherung?

Jürgen Roth, Neue Internationale 149, Mai 2010

Eine Regierungskommission unter Gesundheitsminister Rösler (FDP) befasst sich mit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Ihre Ziele:

Schritte zur „weitgehenden Entkopplung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten“;

Reduktion des „Morbi-RSA auf das notwendige Maß“ (der Morbiditäts-Risiko-Strukturausgleich begrenzt den Kassenwettbewerb um Gesunde zum Nachteil der schwer und chronisch Kranken, damit Kassen mit einem hohen Anteil letzterer nicht zu sehr unterfinanziert werden);

Umstellung der Finanzierung auf „einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge“;

mehr „Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsspielräume“ der Versicherten;

Überprüfung der Ausweitungen von Festzuschüssen;

„das allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen“ soll „grundsätzlich auch im Bereich der GKV Anwendung finden“.

Gesundheitsreformen und Strukturbruch

Schon mit Einsetzen der Wirtschaftskrise in den 1970ern begannen auch die Kostendämpfungsmaßnahmen. Die Versicherten mussten immer mehr aus eigener Tasche bezahlen, damit die Lohn“neben“kosten nicht zu stark anstiegen. Die Unternehmenskosten wurden also relativ entlastet. Auch den Leistungsanbietern wurde kaum ein Haar gekrümmt. Sie mussten sich nur durch einen immer dichteren Dschungel bürokratischer Regulierungen kämpfen, erdacht von einem sich aufblähenden Verwaltungsapparat des Staates und der Krankenversicherungen. Die jetzige Regierung verfolgt den alten Kurs der Unternehmensentlastung natürlich weiter, doch die komplette Umsetzung des schwarz/gelben Maßnahmepakets würde die Abschaffung des Sozialversicherungscharakters der GKV bedeuten!

Bereits Rot/Grün hatte die Belastung der Versicherten durch Zuzahlungen (Praxis- und Rezeptgebühr), Leistungsbeschränkungen (Herausnahme nicht rezeptpflichtiger Medikamente aus der Erstattungspflicht) und die Abschaffung der „Arbeitgeberbeteiligungen“ an Krankengeld- und Zahnersatzkosten arg strapaziert. Die Große Koalition programmierte mittels Gesundheitsfonds das Einfrieren des „Arbeitgeberbeitrags“ vor.

Ab 2010 müssen die Regelbeiträge nun nur noch 95% der Kassenausgaben decken. Erstmalig können sie auch bankrott gehen. Um das zu erschweren, dürfen sie ihre Versicherten mit bis zu 1% Beitragserhöhung jährlich belasten. Die vollständige Entkopplung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten ist erklärtes Ziel von Union und FDP.

Auf dem Weg der Aufhebung der bisherigen Begrenzungen der Zusatzbeiträge würde dann der Weg für die Einführung der Kopfpauschale frei („einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge“). Die CDU und bes. die CSU könnten den zeitlichen Aufschub der Einheitsprämie noch als Bewahrerinnen des Solidarprinzips verkaufen, die FDP und ihr „Minenhund“ Rösler stünden als Hardliner da. Ironischerweise ist die Kopfpauschale aber eine Erfindung der Union und ihres Sozialversicherungsexperten Rürup. Die FDP stand noch in den 90er Jahren für eine abgespeckte Basisversorgung. Darüber hinaus sollten sich alle privat versichern.

Wie die obigen Vorschläge zeigen, ist das Eine kein Gegensatz zum Anderen, sondern willkommene Ergänzung. Der einheitliche Leistungskatalog soll abgeschafft bzw. auf ein Minimum - vergleichbar der staatlichen „Armenhilfe“ in den USA - eingeschränkt werden. Nichts weiter bedeutet das Gerede von Wahltarifen. Das durch die Beitragsbemessungsgrenze und die erweiterten Möglichkeiten zur Flucht in die private Krankenversicherung (PKV) für junge GutverdienerInnen schon unterminierte Solidarprinzip wäre dann endgültig begraben. Die Ausweitung von Festzuschüssen über die bislang schon betroffenen Leistungsbereiche (Arzneimittel, Zahnersatz, Reha) hinaus weisen in die gleiche Richtung, indem sie das Sachleistungsprinzip der GKV weiter aushöhlen. Die Logik der PKV setzt sich auch in der GKV immer mehr durch, bis beide ununterscheidbar sind!

Schon die Große Koalition hatte mit dem GKV-„Wettbewerbsstärkungsgesetz“ diese Angleichung an die PKV-Prinzipien gefördert. Der Europäische Gerichtshof als Gralshüter des neoliberalen EU-Wettbewerbsrechts prüft nun, die Krankenkassen als normale Wirtschaftsunternehmen einzustufen und ihnen das Privileg der öffentlichen Sozialversicherung zu entziehen. Die Absicht von Schwarz/Gelb ist es, den Systemwechsel von der Pflichtversicherung zur Versicherungspflicht in der privaten Krankenkasse selbst vorwegzunehmen!

Sozialer Ausgleich?

Rösler „versteht“ den zunehmenden Unmut in der Bevölkerung über seine Pläne. Satte 67% lehnen in Umfragen die Koalitionsvorstellungen ab. Den „Benachteiligten“ wird ein „sozialer Ausgleich“ aus Steuermitteln angeboten. Als ob nicht schon jetzt 70% des gesamten Steueraufkommens durch Lohn-, Einkommen- und Mehrwertsteuer aus den Taschen der Arbeiterklasse stammen! Als ob nicht auch und gerade das Steuerwesen ein Experimentierfeld erster Güte für die Umverteilung von unten nach oben war und erst recht werden wird (Defizitexplosion durch Finanzmarkt- und Konjunkturkrise)! Zudem: diese „Ausgleichszahlungen“ des Fiskus sind ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu den Einsparungen an Lohn(neben)kosten durch die Kapitalisten! Sie wären nichts weiter als eine erneute Subvention der Großkonzerne und VermögensbesitzerInnen.

Das Beispiel der geplanten Kopfpauschale zeigt uns, dass es auch im Sozialversicherungs- und Gesundheitswesen immer deutlicher um den Kampf Klasse gegen Klasse geht. Nicht nur private Versicherungskonzerne wittern den großen Reibach, auch private Krankenhausketten diktieren seit Einführung der Diagnosefallpauschalen immer mehr den Kliniksektor und bald auch den ambulanten Bereich (medizinische Versorgungszentren).

Für die „normalen“ PatientInnen und Beschäftigten dieser Branche, also ArbeiterInnen und Angestellte, bedeutet dies: Rationierung notwendiger Leistungen einerseits, Ausweitung profitabler, aber nutzloser oder gefährlicher Medizin andererseits, steigende Arbeitshetze und Zerlegung einzelner Arbeitsschritte (Therapien am Fließband in der „weißen Fabrik“) - um die Anlagemöglichkeiten des Kapitals zu verbessern.

Gegenwehr

Die Gewerkschaft ver.di hat die Unterschriftenkampagne „Kopfpauschale stoppen“ ins Leben gerufen: www.campact.de/gesund/sn1/signer.

Doch Unterschriften allein reichen nicht! Ver.di hat es in der jüngsten Krankenhaustarifrunde bei Bund und Gemeinden versäumt, die berechtigten Tarifforderungen mit einem Kampf gegen die Kopfpauschale zu verknüpfen.

Die Antikrisenbündnisse, Gewerkschaften und Massenparteien der organisierten Arbeiterbewegung müssen auf gefordert werden, mit allen Mitteln einschließlich des politischen Massenstreiks gegen den bevorstehenden Strukturbruch in GKV und Gesundheitswesen anzugehen!

Weg mit Kopfpauschale, Zuzahlungen, Festbeträgen und Gesundheitsfonds!

Gegen alle Privatisierungen im Krankenhaus- und Gesundheitssektor!

Für eine einheitliche Krankenversicherung für alle Lohnabhängigen unter ihrer direkten Kontrolle!

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Nr. 149, Mai 2010
*  Erster Mai: Gemeinsam gegen Krise und Kapitalismus
*  Geschichte: Revolutionäre Wurzeln
*  Fascho-Provokationen: Nazi-Aufmärsche blockieren
*  Weltwirtschaftslage: Nach der Krise ist vor der Krise
*  Mahle-Konzern: Übernahme aus Kosten der Belegschaft
*  Daimler: Ausschlussverfahren stoppen!
*  Stuttgart 21: Die Stadt, die Zerstörung und der Profit
*  Programmentwurf der Linkspartei: Ein Linksschwenk?
*  Die Linken und das Programm: Zahme Kritiker
*  NRW-Wahl: Wählt DIE LINKE, aber organisiert den Kampf
*  Frauen: Die unheilige Familie
*  Kopfpauschale: Ende der gesetzlichen Krankenversicherung?
*  Interview Südasien, Teil 2: Klassenkampf und revolutionäre Perspektive
*  Indien: Politik und Wirtschaft
*  Heile Welt
*  Thailand: Aufstand der Rothemden