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Stuttgart 21

Sieg oder Niederlage?

Renate Röckenwies, Neue Internationale 161, Juli/August 2011

Seit der Bauplatzbesetzung am 20. Juni schrillen in den bürgerlichen Medien die Alarmglocken: „Krawalle“, „versuchter Totschlag“, „Gewaltorgie“. Alle, die dabei waren - mehr als 2.000 Leute - wissen, dass das Lügen sind. Was war passiert?

Bahn-Boss Grube hatte übel provoziert. Seit Wochen hatte er mit Schadensersatzforderungen wegen der Bauverzögerungen gedroht, dann setzte er mit dem beschleunigten Weiterbau noch einen drauf.

Einen Baustopp, den er im März nach der Landtagswahl verkündet hatte, gab es nie wirklich. Es wurde immer weiter gearbeitet. Kurz vor dem „Stresstest“ wurden nun noch Millionen an Aufträgen vergeben und Rohre für den Grundwasserabfluss geliefert. Am Montag, dem 20.6., wurde sogar die Zufahrtsstraße von der Polizei gesperrt, um eine mögliche Blockade zu verhindern.

Für dieses Lügen und Betrügen haben Grube und Konsorten die richtige Antwort erhalten. Zur Montagsdemo am Abend des 20.6. kamen mit 5.000 TeilnehmerInnen endlich wieder mehr Leute als zuletzt, danach zogen mehr als 3.000 zum Gelände gegenüber dem Südflügel. Während dort auf der einen Seite die „Architekten gegen S21“ die kulturhistorische Fassade gegen die Barbarei der Spekulanten verbal verteidigten, ging es auf der Parkseite, zur Sache.

Dort liegt die Baustelle des Grundwassermanagements (GWM), für die am 30.09.10 die ersten Bäume im Schlossgarten fallen mussten. Kaum waren die ersten DemonstrantInnen am Bauzaun angekommen, wurde dieser in einer effektiven schnellen Aktion niedergerissen. Für alle Demoteilnehmer und auch für die Polizei, von der seit Tagen Hunderte positioniert waren, kam diese Aktion völlig überraschend.

AktivistInnen, die sich darüber klar waren, dass die Aktionen über einen rein symbolischen Charakter hinaus gehen müssen, besetzten nicht nur die Baustelle und die Wassertanks, sondern haben nachhaltig den Bau verzögert, in dem sie Baumaterial verschwinden ließen, sämtliche Fahrzeuge fahruntüchtig machten und durch fünf Stunden Besetzung ein deutliches Zeichen setzten!

Die überraschte Polizei hatte keine Chance einzugreifen: Knapp 2.000 DemonstrantInnen standen auf einer Baustelle mit viel Material und Möglichkeiten sich zu wehren, es wäre zu einem Katz- und Maus Spiel gekommen, wäre die Polizei eingeschritten. So wurde diese Aktion zu einem neuen Höhepunkt der Widerstandsbewegung gegen S21.

Sie wurde von allen Schichten der Bewegung getragen: von Jugendlichen, Lohnabhängigen, Rentnern. Es „haben unzählige Bürger aller Altersklassen die Gelegenheit genutzt, ihren Unmut über die Bahn und S21 an Baumaterial und Geräten auszulassen. Betagte Damen ließen die Luft aus gewaltigen Lastwagenreifen, Familienväter und Rentner halfen einander beim Umwerfen von Paletten. Es flogen mächtige Metallteile, ganze Gruppen harmlos anmutender Protestler versuchten sich am Anzünden von Gummiteilen“, schreibt ein fassungsloser Journalist der Stuttgarter Zeitung am 21. Juni.

Farce Stresstest

Jetzt steht der „Stresstest“ ins Haus, mit dem die Effizienz des Tiefbahnhofs belegt werden soll. Gelogen und betrogen wird von der Bahn auch weiterhin. Daten und Vorgaben werden geheimgehalten und Maßstab ist ein Vergleichswert (37 Züge pro Stunde), den der Kopfbahnhof vor 20 Jahren erheblich (55) und im Winterfahrplan 2011 deutlich (44) überboten hat.

Viele AktivistInnen sind am 20. Juni einen Schritt weiter gegangen, als sie sich selbst je zugetraut hätten, dann aber wurden Hetze, Verleumdungen und Bedrohungen durch Staat, Bahn und Medien vervielfacht. Mit dem „Stress“-Test sollen im Juli „unumkehrbare“ Fakten geschaffen werden. Welche Chance hat die Bewegung noch gegen diese Offensive des Kapitals, des bürgerlichen Staates und der Medien?

Spontane Massenbewegungen einzuschätzen ist nicht leicht. Es gibt Perioden, in denen solche Bewegungen überhaupt nicht existieren, dann plötzlich entfaltet sich aus kleinen Ansätzen eine enorme Dynamik. Oft wirken die Gegenmaßnahmen des Staates als Öl im Feuer, wie Ex-Ministerpräsident Mappus letztes Jahr erfahren musste, als er geglaubt hatte, mit Baubeginn im Juli und Repression im September die Leute nach Hause schicken zu können. Er hat im Gegenteil im Sommer Zehntausende mehr und im Herbst gar 150.000 gegen sich aufgebracht.

Für MarxistInnen ist klar, dass es für eine solche Massenbewegung einer Grundstimmung in den Massen bedarf, „so nicht mehr weitermachen zu wollen“. Diese Grundstimmung hat sich im letzten Jahrzehnt weltweit ausgebreitet. Mit der Krise haben die Herrschenden viel von ihrer Legitimation verloren. Ob sich aber die Stimmung des „Wir wollen so nicht weitermachen“ in spontanen Aktionen und Bewegungen ausdrückt, hängt stark davon ab, ob die Massen dies auch planvoll und organisiert tun können. In Deutschland - anders als z.B. in Tunesien - gäbe es die Organisationen, die Protest und Widerstand gegen die Krise, die Banken usw. hätten organisieren können. Aber die Gewerkschaften und die SPD verweigerten dies, die Bemühungen der Linkspartei waren überschaubar.

In einer solchen Situation bricht sich dann die Unzufriedenheit überraschend Bahn. Während in Tunesien der Verzweiflungsakt eines Einzelnen den Kessel zum Explodieren brachte, war es in Stuttgart der Bahnhof - wahrlich nicht das größte Problem, das die Massen in Deutschland haben. Aber er ist ein Symbol für eine destruktive, räuberische, korrupte und undemokratische Politik, das für Menschen aus allen Schichten als Ziel ihrer Wut herhalten kann. Das Fehlen der Organisationen der Arbeiterbewegung wiederum gibt sozial dem Kleinbürgertum die Führung in der Bewegung, politisch damit den Grünen. Das zeigt sich dann darin, dass aus der Not - dem Fehlen von kampffähigen Organisationen - eine Tugend gemacht wird und das „Vielfältige“ und „Kreative“ als eine Stärke der Bewegung gefeiert wird.

In Wirklichkeit sind es die größten Schwächen der Bewegung, in anderthalb Jahren keine demokratisch legitimierte Führung und Entscheidungsstruktur geschaffen zu haben und die Blockade der reformistischen Führungen der Gewerkschaften nicht ansatzweise attackiert zu haben. Das kann die Bewegung in die Niederlage führen.

Probleme der Bewegung

Denn jede Bewegung braucht eine Strategie und eine Taktik, also Kampfschritte und Kampfziele auf dem Weg zum eigentlichen Ziel. Zweimal schon musste die Bewegung erfahren, wie gefährlich es ist, nur bis zum nächsten Schritt zu denken: Die „Schlichtung“ im November 2010 erfüllte das Begehren, endlich bei den Verantwortlichen die Kritik an den Unsinnigkeiten des Bauwerks anbringen zu können. Nach Geißlers Spruch fiel die Bewegung in ein Loch und ihre Führer tauchten ab. Der Tag der Landtagswahl war noch verheerender: Der Sieg der Grünen wurde als Sieg der Bewegung angesehen, der Kern der AktivistInnen schrumpfte auf rund 2.000. Eine organisierte Debatte, was denn nach der Wahl zu tun sein, was eine Regierung im bürgerlichen Staat tun kann und tun soll, und was für eine Partei die Grünen sind, konnte nicht stattfinden und findet bis heute nicht statt.

Natürlich gibt es in der Bewegung Vorschläge, was jetzt zu tun sei. So setzen manche darauf, dass die 17 km Grundwasserableitungsrohre nicht wirklich geschützt werden können. Andere denken an Bahnhofbesetzungen. Das sind Aktionsvorschläge, aber keine Taktik, technische Überlegungen statt politische. Viele verzetteln sich in Debatten, bis wohin „Gewaltfreiheit“ und „ziviler Ungehorsam“ gehen. Dahinter steht bei allen Beteiligten die platte Konzeption, dass wir nur ganz viele sein müssen, dann werden wir schon gewinnen. Also gelte es sich so zu verhalten, dass keiner abgeschreckt wird. Nach dieser Logik müsste die Bundeswehr sofort aus Afghanistan abziehen: 80% sind gegen den Kriegseinsatz und niemand in Deutschland greift die Bundeswehr so an, dass es andere abschreckt. Eine erbärmliche „Strategie“, die nicht nur nicht Motive und Interessen des Gegners zum Ausgangspunkt von Überlegungen macht, sondern schon die einfache Frage ungestellt lässt, ob sich der bürgerliche Staat von Zehntausenden friedlichen Protestierern von irgendetwas abhalten lassen würde.

Umgekehrt machen sich die mutigen AktionIstInnen keinen Kopf, wie denn die Bewegung verbreitert werden kann. Sie setzen der bürgerlichen Hetze nichts entgegen, die noch dazu von führenden Kräften des Aktionsbündnisses unterstützt wird, die sich fleißig von der „Gewalt“ distanzieren. Diese AktionistInnen haben zwar mehr Bewusstsein davon, dass der bürgerliche Staat ein Machtapparat im Dienste einer Minderheit, der Herrschenden, ist, aber eine Strategie haben auch sie nicht.

Die Spaltungsstrategie unserer Gegner hat also leichtes Spiel. Ob sie letztlich aufgeht, hängt davon ab, wie stark Kapital, Staat und Medien wiederum die Menschen provozieren. Die geplante Groß-Demo am 9. Juli wird ein wichtiger Test sein.

Wir sind seit langem dafür eingetreten, die Arbeiterklasse als Verbündeten zu gewinnen, denn das Projekt 21 entspringt nicht Unvernunft, sondern kapitalistischer Krisenlösung. Genauso unsinnig und kostspielig wie Konjunkturpakete, Bankenrettung und Milliarden für Griechenland, die nur bei den Banken landen.

Proletarische Orientierung

Die Arbeiterklasse zu gewinnen ist nicht einfach. Ihre Organisationen werden von den Reformisten kontrolliert, die genau diesen Kampf auch schon während der Krise verhindert haben. Aber gerade jetzt im Frühjahr war es einfach, an kämpfende KollegInnen heranzukommen: Streiks bei der Bahn, im Handel, bei Druckern und Redakteuren. Fünfzig Leute auf einer Streikversammlung hätten sicher politisch mehr bewegt als bei der zwanzigsten Blockade. Auch wenn es nur ein Schritt gewesen wäre. Aber schon dieser wäre nur gegen das Aktionsbündnis zustande gekommen, das konsequent Linke, GewerkschafterInnen und BetriebsrätInnen gegenüber Pfarrern und Architekten benachteiligt. Stocker ließ seinerzeit nicht mal den Aufruf für eine Aktion gegen die Schließung des Werkes 8 von Behr über das Mikro zu.

Aber solange kein demokratischer Entscheidungsrahmen existiert, können Vorschläge nicht breit diskutiert werden, es können überhaupt keine Taktiken und Strategien festgelegt werden. Die alten sind endgültig am Ende. Die Bourgeoisie ist in der Offensive. Die am 20. Juni neu gewonnene Dynamik droht, verspielt zu werden. Sieg und Niederlage liegen verdammt nah bei einander.

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Nr. 161, Juli/Aug 2011
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