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§ 219 und Zwangsberatung

Mein Bauch gehört mir!

Isolde Schnell/Anne Moll, Neue Internationale 153, Oktober 2010

Mein Bauch gehört mir!“ Unter dieser Parole kämpfen Frauen seit Mitte der 1980er gegen den Paragraphen 218. Eingeführt wurde er in Deutschland 1871. Damit war die Abtreibung unter Strafe gestellt.

Ideologisch begründet wurde diese Festlegung (neben schon immer bestehenden kirchlichen Moralvorstellungen) damit, dass ein Ungeborenes als menschliches Lebewesen angesehen wird und dessen Abtreibung einem Mord gleichkommt. Der wahre Grund für die Einführung des §218 war jedoch das Interesse von Regierung und Wirtschaft an verstärktem Bevölkerungswachstum. Durch die zunehmende Industrialisierung im 19. Jahrhundert musste ein Weg gefunden werden, mehr Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben. So wurde mit dem Gesetz den Frauen die Selbstbestimmung über ihren Körper abgesprochen und Abtreibung mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.

Schon damals kämpften nicht nur Frauen gegen dieses Gesetz - weniger aus Gründen der Selbstbestimmung, was später der Hauptgrund war, sondern v.a. wegen der zusätzlichen Last eines weiteren Kindes in den meist armen proletarischen Familien.

Bis heute haben die Frauenbewegung und - was oft vergessen wird - die Arbeiterbewegung - einige Verbesserungen erkämpft. Die Straffreiheit der Abtreibung unter medizinischen Gesichtspunkten wurde 1927 zugestanden, die modifizierte Indikationsregelung 1976. In der DDR gab es die „Fristenlösung“.

Heute gilt in Deutschland die „modifizierte Fristenlösung“ mit Beratungspflicht. Der Schwangerschaftsabbruch bleibt rechtswidrig. Sie bleibt aber straffrei, wenn Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der Schwangeren besteht, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als 22 Wochen vergangen sind (wenn sich die Schwangere in einer Notlage befand) oder wenn nicht mehr als 12 Wochen vergangen sind und mindestens drei Tage vor dem Eingriff eine Beratung der Schwangeren stattgefunden hat oder aber die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande kam.

Schutz des Lebens?

Der Staat stellt den Schutz des „ungeborenen Lebens“ grundsätzlich höher als das Grundrecht der Frau über die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Eine Zuwiderhandlung wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet.

Schwangerschaftsabbrüche gab es schon immer. Historisch relativ neu ist, dass diese in Kliniken unter hygienisch einwandfreien Bedingungen von ausgebildeten Ärzten und Fachpersonal ausgeführt werden. In den meisten Ländern der Welt, v.a. in der „Dritten Welt“  werden Abtreibungen aber nach wie vor von Frauen selbst ausgeführt oder von „Engelmachern“ durchgeführt, oft unter schlechten hygienischen Bedingungen. Die Gründe für diese für Frauen oft tödlichen Umstände sind vielfältig: Tradition, religiöse Dogmen, Geldmangel oder schlechte Infrastruktur.

Jährlich gibt es in Deutschland 120.000 -130.000 Schwangerschaftsabbrüche. Davon werden 97% nach der „Beratungsregelung“ durchgeführt.

In Deutschland gibt es neben den Paragraphen 218 und 219 das Schwangerschaftskonfliktgesetz. Dieses regelt Rechte und Pflichten von Beratungsgesprächen sowie Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und wer Beratungen durchführen darf.

Will eine Frau ihre Schwangerschaft legal abbrechen, kommt sie an einer Beratung nicht vorbei. Sie muss dort Rechenschaft ablegen, warum sie das Kind nicht austragen will bzw. kann. Dabei sollte ein Satz wie „Weil ich nicht Mutter werden will“ besser nicht gesagt werden, denn hier würde der Gesetzgeber den Schutz des ungeborenen Lebens vor das der Frau stellen und könnte sogar Strafanzeige stellen.

So wird nicht nur der Zwecklüge Vorschub geleistet, sondern v.a. auch eindeutig die Selbstbestimmung der Frau eingeschränkt. Bei der Frage Leben oder Tod eines Ungeborenen möchte der Staat mitreden, wenn die Kinder geboren sind, werden Erziehung, Betreuung und Finanzierung von Kindern für die Eltern (und oft nur für die Mütter) aber weitgehend zur „Privatsache“. Mit anderen Worten: das „Kümmern“ des Staates hält sich hier in engen Grenzen. Wird Frau als Schwangere „umworben“, wird ihr das Muttersein schmackhaft gemacht, so wird Frau nach der Geburt des Kindes allein gelassen.

Seit Februar 2010 müssen Frauen die Kosten einer Abtreibung selbst zahlen, wenn nicht schwerwiegende Gründe (Vergewaltigung, Gefahr für die Gesundheit der Mutter) vorliegen. Kostenpunkt: 350-500 Euro! Damit werden illegale und gesundheitsgefährdende Abtreibungen außerhalb der Kliniken wieder zunehmen.

Auch die „Elterngeldregelung“ benachteiligt Frauen bzw. Familien aus sozial schwächeren Schichten: Je höher der Verdienst vor der Schwangerschaft, desto höher das Elterngeld. Nicht-Erwerbstätige erhalten 300 Euro, während die maximale Höhe des Elterngeldes bei 1.800 Euro liegt.

Wenn in diesem Gesetz von Hilfsangeboten die Rede ist, so handelt es sich um Einmalhilfen und kurzfristige Unterstützung. Ein Kind zu haben bedeutet aber, jahrelang dafür Verantwortung zu tragen und dessen Versorgung zu sichern.

Die Beratungspflicht

Schwangerschaft, Geburt oder Abtreibung sind wesentliche, ja existenzielle Fragen - besonders für Frauen, aber im Grunde für die gesamte Gesellschaft. Natürlich können diese Fragen letztlich weder durch Gesetze noch durch Beratungen gelöst werden. Entscheidend ist immer, wie die Gesellschaft sich dazu verhält: ist sie kinderfreundlich, behandelt sie Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung als wichtige, ja schöne Dinge oder ist alles nur ein Problemfall und ein Kostenfaktor? Im Kapitalismus trifft grundsätzlich Letzteres zu, denn Schwangerschaft und Geburt sind dort Aspekte der Reproduktion der Klasse(n), v.a. der Lohnabhängigen.

Eine Abtreibung ist für die meisten Frauen ein großes psychisches Problem. Insofern ist eine „Beratung“, d.h. die Möglichkeit, sich mit anderen Menschen darüber zu verständigen, Rat und Hilfe einzuholen nichts Schlechtes, sondern nur selbstverständlich.

Das Problem beginnt dort, wo die Beratung zur Pflicht wird, weil diese Pflicht an sich schon das Eindringen in einen sehr persönlichen und intimen Bereich des Lebens von Frauen darstellt. Wenn diese Pflicht noch dazu von einem Staat angeordnet wird, der ansonsten nicht gerade sozial daherkommt, wird das Problem noch größer. In gewissem Maß räumt der Staat dieses Problem selbst ein, indem er die Beratungen nichtstaatlichen Gremien überlässt, z.B. Pro Familia oder den Kirchen.

Und da sind wir schon beim zweiten Problem. Die vom Staat vorgegebene Auswahl an „beratungswürdigen“ Institutionen schließt nicht nur andere aus (z.B. Ärzte, Psychologen, Bekannte, Frauenorganisationen usw.), sie lanciert so auch alle möglichen moralischen, religiösen u.a. Ideologien, die mit der bürgerlichen Gesellschaft kompatibel sind und deren Strukturen stützen. Kommen sie nun als familienfreundlich, lebensfreundlich oder sonstwie daher: sie setzen Frauen oft direkt oder indirekt unter Druck.

Im Mittelpunkt einer Beratung müsste der gesundheitliche Schutz der Mutter stehen. Welche Kompetenz hat dabei etwa die Kirche?!

Dass die Beratung „Beratung“ heißt und nicht etwa „Hilfe für Schwangere“ führt uns zum dritten Problem. So problematisch eine Abtreibung ist - die Entscheidung für ein Kind erweist sich im Nachhinein oft als wesentlich problematischer. Fast jede Frau mit Kind(ern) - es sei denn, sie ist wohlhabend - steht einmal vor der Frage, wie sie Kinder und Beruf vereinbaren soll, wo sie einen Kita-Platz oder das Geld dafür herbekommt. Diese sozialen Fragen sind es auch, die Frauen oft zu einem Abbruch bewegen oder die Freude am Kinderkriegen vergällen.

Gerade hier, wo die Hilfe der Gesellschaft bzw. des Staates gefordert wäre, versagen diese.

Der Staat spielt bestenfalls den „Ratgeber“, er reglementiert, indoktriniert und - im Fall des Falles - bestraft. Frauen, die abtreiben, gelten als verantwortungslos. Tatsächlich verhält sich der Staat verantwortungslos, indem er besonders proletarische Frauen mit Kindern sozial im Regen stehen lässt.

Alternative

Anstelle der Mischung aus staatlicher Gängelei und sozialer Ignoranz müssen Frauen, die Arbeiterbewegung und die Linke u.a. dafür eintreten, dass der Staat, die Kirchen (und ähnliche „moralische“ Instanzen) kein Recht und keine Möglichkeit haben, schwangeren Frauen, die abtreiben wollen, in ihre Entscheidungen hineinzureden und ihnen ein schlechtes Gewissen zu verpassen.

Sie müssen dafür eintreten, dass die Arbeiterbewegung Mittel und Möglichkeiten schafft, Frauen Beratung - auf freiwilliger Basis - anzubieten. Noch wichtiger freilich als die Beratung selbst ist es, dafür zu sorgen, dass Frauen und Kinder soviel Unterstützung durch die Gesellschaft erhalten, dass Kinder für Frauen und Familien keinen sozialen Nachteil bedeuten. Und gut beraten ist, wer dafür zum Mittel des Klassenkampfes greift!

Konkrete Forderungen, für die dabei gekämpft werden müsste, sind u.a.:

Keine Zwangsberatung!

Kostenlose medizinische Betreuung für Schwangere inkl. der Möglichkeit abzutreiben!

Kostenlose Abtreibung für alle Frauen ohne Zwangsberatung und ohne Fristen!

Ausreichende und kostenlose Kinderbetreuungsmöglichkeiten! Freier und kostenloser Zugang zu allen Bildungseinrichtungen!

Weg mit Hartz IV! Für einen Mindestlohn von 11 Euro netto! Für ein steuerfreies Mindesteinkommen von 1.600 Euro/Monat für alle Arbeitslosen!

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Nr. 153, Okt. 2010
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