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ver.di-Tarifverhandlungen

Nichts fordern, nichts tun

Helga Müller, Neue Internationale 97, Februar 2005

Seit Mai 2003 laufen zwischen Bund, Ländern und Kommunen einerseits und ver.di andererseits Verhandlungen über die Restrukturierung des Manteltarifvertrages im Öffentlichen Dienst. Diese Verhandlungen sollen bis Ende Januar 2005 - also unmittelbar vor der beginnenden neuen Tarifrunde abgeschlossen werden.

Ziel dieser "Prozessvereinbarung” zur Neugestaltung des Öffentlichen Dienstes soll sein, den öffentlichen Dienst wettbewerbsfähig zu machen. Die öffentlichen Arbeitgeber meinen damit Lohnsenkung, Personalabbau, Arbeitszeitverlängerung und Abschaffung des besonderen sozialen Absicherungssystems (z.B. Kündigungsschutz) im Öffentlichen Dienst. Kurz: auch der Öffentliche Dienst soll der Konkurrenz und der Profitlogik völlig untergeordnet werden.

Ver.di hatte sich von Anfang an auf diese Vorbedingungen eingelassen und dem nichts entgegengesetzt! In ihren Publikationen spricht sie verharmlosend davon, mit dieser Prozessvereinbarung, das "geltende Tarifgeflecht vereinfachen” zu wollen. Die Tarifkommission hat sich in den Verhandlungen noch nicht einmal genötigt gesehen, den gewerkschaftlichen Gremien einen eigenen Vorschlag zu unterbreiten! Das ist ein einzigartig skandalöses Vorgehen innerhalb der Gewerkschaftsgeschichte in der Bundesrepublik!

Dieser Logik folgend hat sich ver.di dazu entschlossen, Arbeitsgruppen mit den öffentlichen Arbeitgebern zu installieren, die ergebnisoffen (!) diskutieren sollen.

Damit wurde den Gewerkschaftsmitgliedern völlig die Möglichkeit entzogen, auf die Verhandlungen Einfluss zu nehmen. Beschlüsse, z.B. der Landesbezirkskonferenz, die versuchten, auf die Verhandlungen Einfluss zu nehmen, wurden von der Tarifkommission völlig ignoriert. Damit wurde selbst die bescheidenste Form innergewerkschaftlicher Demokratie in diesen Verhandlungen völlig außer Kraft gesetzt - und dies bei einem Tarifvertrag, der den größten geltenden Flächentarifvertrag innerhalb der Bundesrepublik Deutschland darstellt.

Ver.di Chef Bsirske hat diese Form der "Auseinandersetzung” gewählt, da seiner - aber nicht nur seiner - Meinung nach, die Organisation nicht zu einem Großkonflikt mit den öffentlichen Arbeitgebern in der Lage sei. Eine Mobilisierung der öffentlich Bediensteten war von Anfang an nicht vorgesehen, da vor allem die schlecht organisierten Angestelltenbereiche nicht mobilisierungsfähig wären. Grund genug für die ver.di-Bürokraten, es gar nicht erst zu versuchen!

Wenn man den Weg der offenen Auseinandersetzung gewählt hätte, würde man Bsirskes Meinung nach eine Auflösung des Flächentarifvertrages riskieren. Die Konsequenz aus dieser Einschätzung ist damit vorgegeben: man versucht, über Verhandlungen mit den Arbeitgebern diesen Tarifvertrag "zu erhalten”.

Dass dies keine Perspektive für zukünftige Tarifkonflikte sein kann und dazu führen wird, dass ver.di nur noch schwächer wird, was Mitgliederzahlen und Kampffähigkeit angeht, zeigen die vorläufigen - teilweise noch unveröffentlichten - Ergebnisse:

Zusammenfassung von Weihnachts- und Urlaubsgeld zu einer Zahlung "möglichst nahe 100 Prozent eines Monatsgehalts”, d.h. nichts anderes als eine Kürzung;

Wegfall von Zeit-, Alters- und Bewährungsaufstieg. Dies wird damit gerechtfertigt, dass jüngere KollegInnen jetzt schneller in höhere Entgeltgruppen aufsteigen können. Als Kompensation sollen die oberen Entgeltgruppen wegfallen. Die Prämisse dabei ist, dass - bezogen auf das gesamte Berufsleben - den Beschäftigten daraus kein Nachteil entstehen soll. Nachzuprüfen ist das bisher nicht, da die neuen Entgelttabellen nur der Tarifkommission bekannt sind und die Vorschläge der Arbeit"geber" noch nicht veröffentlicht wurden - nicht einmal gegenüber den Tarifkommissionsmitgliedern!

Wegfall von familienbezogenen Zuschlägen;

Aufgabe des besonderen Kündigungsschutzes im Öffentlichen Dienst und damit die Ermöglichung von betriebsbedingten Kündigungen wie in der privaten Wirtschaft;

Einführung leistungsabhängiger Bezahlung, wobei unklar ist, nach welchen Kriterien diese festgelegt werden soll. Damit ist jeglicher Willkür Tür und Tor geöffnet!

Verschlechterung der Eingruppierung von ArbeiterInnen bzw. technisch/handwerklichen Tätigkeiten;

Schaffung eines Niedriglohnbereichs unterhalb der untersten Lohngruppe. Dies soll die KollegInnen angeblich vor Outsourcing bewahren! Der Lohn entspricht dem privater Reinigungsfirmen. Das wird bei diesen wiederum eine Lohnsenkung nach unten zur Folge haben;

Die Arbeitszeit wird flexibilisiert, wodurch ein wöchentlicher Arbeitszeitkorridor bis zu 45 Stunden möglich wird. Auswirkungen hat dies vor allem auf den Arbeiterbereich, da dieser ab der ersten anfallenden Überstunde bisher Zuschläge erhalten hat, was mit der neuen Regelung wegfällt. Dieser Bereich war immer der Kernbereich und zudem der mobilisierungsfähigste Teil von ver.di;

Einführung von Öffnungsklauseln für "betriebliche Härten”. Besonders negativ werden sich die Öffnungsklauseln für die Lohngruppen I - IV (ungelernte ArbeiterInnen) auswirken. Es ist zu erwarten, dass für diese das Lohnniveau sinkt. Das wird dazu führen, dass die Landesbezirke bei den Tarifverhandlungen noch stärker untereinander in Konkurrenz geraten und Standorttarifverträge auf unterstem Niveau abschließen werden.

Wie blauäugig die Tarifkommission und Bsirske bei ihrer Vorgehensweise sind, den "Flächentarif” zu reformieren und gleichzeitig zu erhalten, ohne einen Kampf dagegen zu organisieren, zeigt das Vorgehen der anxderen Seite. Diese fühlt sich an keinerlei Vereinbarung mit ver.di mehr gebunden. Im Gegenteil: sie nutzt jetzt gerade den Verzicht ver.dis auf eine Mobilisierung, um die Gewerkschaft noch stärker unter Druck zu setzen und den Durchbruch im Öffentlichen Dienst durchzusetzen. Wie weit diese Absicht schon Realität geworden ist, zeigen folgende Fakten:

Nach Berlin ist auch Hessen mittlerweile aus der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) ausgestiegen, andere drohen damit;

Bund und Länder haben für BeamtInnen die 41- oder 42- Stundenwoche angeordnet - ohne Lohnausgleich. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber hat diesen Vorstoß bereits als "Durchbruchschlacht” für längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich für die gesamte Wirtschaft bezeichnet;

im Sommer 2003 haben Bund und Länder die Tarifverträge für Urlaubs- und Weihnachtsgeld gekündigt, obwohl im Tarifabschluss 2003 das Weihnachtsgeld auf den Stand von 1993 festgeschrieben wurde. Neueingestellte werden seitdem ungleich behandelt, sie erhalten bereits kein Urlaubsgeld mehr und ihr Weihnachtsgeld wurde abgesenkt. Dies vertieft die Spaltung innerhalb der Belegschaft;

Ende März 2004 hat die TdL dann auch noch die Tarifverträge für die Arbeitszeiten gekündigt und ist seitdem bei der "Prozessvereinbarung” nicht mehr dabei;

der Verband der Kommunalen Arbeitgeber droht mit der Kündigung der Tarifverträge, wenn ver.di nicht zu weitgehenden Zugeständnissen bereit ist;

außerdem gibt es bereits in mehreren Landesbezirken und Kommunen Standorttarifverträge, nicht zuletzt auch in traditionell kampfstarken Bereichen wie dem öffentlichen Nahverkehr, die Lohnsenkungen für Neueingestellte beinhalten. Auch das spaltet die Belegschaft und mindert die Kampfkraft weiter.

Auch wenn es natürlich richtig ist, dass die KollegInnen im Angestelltenbereich über wenig bis gar keine Kampferfahrung verfügen und dort oft genug die Meinung vorherrscht "so schlimm wird es schon nicht werden”, so braucht man doch eine Strategie und eine entsprechende Taktik von Seiten der Gewerkschaft, diesen Angriff auf den öffentlichen Dienst und auf andere Bereiche von ver.di - der Verlagsbereich, die Druckindustrie, um nur einige zu nennen, befinden sich derzeit in ähnlichen Auseinandersetzungen - abzuwehren.

Das hätte bedeutet, die gesamte Organisation von oben nach unten und von unten nach oben auf Kampf einzustellen. Dazu wäre eine kontinuierliche Aufklärungskampagne über die wahren Absichten der öffentlichen Arbeitgeber von Bund, Ländern und Kommunen in den Betrieben und insbesondere in den Bereichen, die über wenig Kampferfahrung verfügen, nötig. Innerhalb von ver.di müssten die Organisation des Kampfes, die Termine etc. koordiniert werden. Ausgehend von den kampfstarken Bereichen hätten auch andere Bereiche in Aktionen bis hin zu Warnstreiks hineingezogen werden müssen.

Auch das hätte aber noch nicht gereicht. Alle Erfahrung zeigt, dass der koordinierten Vorgehensweise der öffentlichen Arbeitgeber auch nur die koordinierte Aktion bis hin zum bundesweiten Streik aller öffentlich Bediensteten mit den KollegInnen anderer betroffener Bereichen entgegengesetzt werden muss! Einzelne Nadelstich”aktiönchen” - mal am 20. Oktober, mal am 17. November, mal am 19./20. Januar - reichen nicht mehr aus! Das wird von den Arbeit"gebern" nicht ernst genommen, und auch die KollegInnen spüren, dass dies zu wenig ist, um die Angriffe abzuwehren.

Doch andererseits zeigen diese Aktionen auch, dass, wenn die politische Überzeugung vorhanden ist, die Belegschaft in den Kampf zu ziehen und wenn gewerkschaftlich aktive KollegenInnen vor Ort dies in die Hand nehmen und die entsprechende Unterstützung im Apparat erzwingen, dann können auch Bereiche, die noch nie gestreikt haben und die schlecht organisiert sind - wie z.B. das Bauamt der Technischen Universität München oder die Staatsoper Bayern - in Streiks geführt werden.

Durch die von der ver.di-Führung eingeschlagene Taktik droht nun im Öffentlichen Dienst eine weitere schmerzliche Niederlage, von der nicht nur die Beschäftigten in diesem Bereich, sondern alle Lohnabhängigen betroffen sind.

Jetzt müssen alle kampfbereiten KollegInnen, Vertrauensleute, Betriebsgruppen, Betriebs- und Personalräte einen Kurswechsel von 180 Grad einfordern! Auf Belegschafts- und Gewerkschaftsversammlungen muss der "Verhandlungsstand" für alle offen gelegt werden. Kein Abschluss darf ohne Zustimmung der Beschäftigten erfolgen! Von den Versammlungen müssen Aktionskomitees gebildet werden, die den Druck auf die Bürokratie erhöhen, Protestaktionen gegen den ver.di-Kurs organisieren, einen Kurswechsel erzwingen oder, wo möglich, selbständig agieren.

Die Gewerkschaftslinke (bzw. ihre lokalen Gruppen) muss in dieser Auseinandersetzung eine offensive Linie verfolgen, um sich so als Alternative gegen Verrat und Ausverkauf zu zeigen und den ArbeiterInnen und Angestellten eine politische und organisatorische Perspektive zu weisen.

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Nr. 97, Februar 2005

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*  Heile Welt
*  ver.di-Tarifverhandlungen: Nichts fordern, nichts tun
*  Gewerkschaftslinke: Der schwere Weg zum Klassenkampf
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