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Nach dem Attentat auf Scheich Yassin

Zionistische Optionen

Keith Harvey, Neue Internationale 89, April 2004

200.000 PalästinenserInnen demonstrierten Ende März am Grab des Hamas-Gründers Scheich Achmed Yassin. "Scharon, bereite deine Särge vor", rief die erboste Masse.

Yassin, nach Arafat der einflussreichste Führer der PalästinenserInnen, war von israelischen Kommandos von einem Hubschrauber aus ermordet worden. Er ist damit das prominenteste Opfer israelischer Attentate auf palästinensische politische Führer seit dem Anschlag auf den damaligen Arafat-Stellvertreter Abu Jihad in Tunis 1988.

Erwartungsgemäß lehnten es die USA ab, die staatsterroristischen Attentate zu verurteilten und legten gegen eine entsprechende UN-Resolution ihr Veto ein. Statt dessen wird weiter der Scharon-Bush-Gipfel am 14. April vorbereitet.

Scheich Yassin war ein leicht erreichbares Ziel für das israelische Kommando. Der 67jährige, an den Rollstuhl gefesselte Yassin machte kein Geheimnis aus seinem Aufenthaltsort. Als politischer und nicht militärischer Führer der Hamas war er nicht direkt in die Planung von Selbstmordattentaten auf Israel involviert. Seine Rolle in Palästina hat sich in den letzten Monaten nicht verändert. Warum also erfolgte gerade jetzt das Attentat?

Hintergrund

Die Regierung Scharon verfolgt zwei Ziele gleichzeitig. Erstens plant sie für die nächsten Jahren einen Rückzug aus dem Gazastreifen. Dort lebt eine Million PalästineserInnen auf engstem Raum. Die meisten von ihnen leben arbeitslos und verarmt in Lagern und sind auf UN-Hilfe für das tägliche Übelleben angewiesen. Gleichzeitig leben in Gaza 7.500 jüdische Siedler, die 30 Prozent des Gebietes kontrollieren.

Scharons Kalkulation ist folgende: Die Okkupation diese Landstrichs ist zu teuer. Daher soll er den PalästinenserInnen "zugestanden" werden. Dafür werden vielleicht noch einige "Grenzbereinigungen" zugunsten Israels, v.a. aber die Aneignung der meisten Siedlungen in der Westbank vollzogen werden. Gleichzeitig geht es Scharon darum, dass sein geplanter Rückzug nicht die eigenen "Hardliner" verstimmt und vom palästinensischen Widerstand nicht (wie der Rückzug aus dem Südlibanon im Jahr 2000) als Erfolg ausgelegt werden kann.

Um diese Taktik zu verstehen, ist es notwendig, sie im Kontext von Scharons Palästinapolitik insgesamt zu betrachten - und der Optionen, vor denen die Zionisten insgesamt stehen. Es geht der Regierung Scharon darum, Fakten zu schaffen, die den PalästinenserInnen als "Friedensabkommen" aufgezwungen werden können.

Im zionistischen Lager werden drei strategische Optionen debattiert. Die erste besteht in der Vertreibung der PalästinserInnen aus Gaza und der Westbank, z.B. nach Jordanien. Dieser Kurs wird gegenwärtig von einer - wenn auch lautstarken - Minderheit vertreten und auch von der Mehrheit der 398.000 Siedler favorisiert. In Israel nimmt die Unterstützung für die Siedler jedoch ab. Ein großer Teil der Bevölkerung wäre bereit, im Gegenzug für ein Abkommen mit den PalästinserInnen viele der Siedlungen aufzugeben.

Zweistaatenlösung und Unterdrückung

Die zweite Option ist die einer Zweistaatenlösung. Sie wird seit rund 20 Jahren von den Links-Zionisten (wie Peace Now und Gush Shalom) und der PLO-Führung vertreten. Die Links-Zionisten gehen davon aus, dass das den Erhalt eines jüdischen Staates in den Grenzen von 1967 erlauben würde.

Die PalästinenserInnen würden im Gegenzug zur Aufgabe des Rechts auf Rückkehr eine "Selbstbestimmung" in Rahmen eines politisch und ökonomisch abhängigen Staatsgebildes in Gaza und Westbank erhalten. Die israelische "Friedensbewegung" treibt dabei nicht die Sorge um die Rechte der PalästinenserInnen um, sondern die Sicherung ihres ethnisch reinen Staats und die eigene Sicherheit.

Wie sehr die linken Zionisten noch im Rahmen des Grundkonsenses der Staatsideologie Israels stecken, zeigt sich darin, dass sie das Rückkehrrecht von Millionen Vertriebenen weiter ablehnen und so auch die historischen Wurzeln der Unterdrückung der PalästinserInnen nicht angehen wollen.

Diese "demokratischste" Variante der Zweistaatenlösung würde nur dazu führen, die gegenwärtige Unterdrückung und Spaltung des palästinensischen Volkes zu festigen - es würde die Festschreibung der arabischen Minderheit (rund 20% der Bevölkerung) als Bürger zweiter Klasse in Israel bedeuten und das Einsperren der Mehrheit der PalästinserInnen in einem sehr abhängigen, halb-kolonialen Staatsgebilde.

Die Vorstellung der linken Zionisten kann aber auch aus einem anderen Grund nicht einfach zur bevorzugten Politik der herrschenden Klasse in Israel werden. Sie ignoriert nämlich die soziale Funktion der Besetzungs- und Siedlungspolitik. Die Annexion immer neuen Territoriums durch den israelischen Staat dient nämlich auch der Befriedung unterprivilegierter Teile der jüdischen Bevölkerung auf Kosten der PalästinenserInnen.

Jeder umfangreichere Rückzug aus den Siedlungen in der Westbank würde dazu führen, dass hunderttausende SiedlerInnen nach Israel zurückströmen würden und die meisten von ihnen von sozialer Deklassierung bedroht wären.

Sie würden damit das wachsende Heer israelischer Arbeitsloser weiter vergrößern und zu einem massiven Anstieg ethnischer und sozialer Konflikte innerhalb der jüdischen Bevölkerung führen. Kurz: die Okkupation mag zwar die Sicherheit der israelischen BürgerInnen gefährden - ihr Ende aber untergräbt den klassenübergreifenden "Konsens" unter der jüdischen Bevölkerung und damit die Kontrolle der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie.

Scharons "realistische" Variante der Zweistaatenlösung versucht, die Anerkennung eines Palästinenser"staates" mit den Interessen der Westbank-Siedler in Übereinstimmung zu bringen.

Scharons Variante

So hat die israelische Regierung im Februar die US-Administration verständigt, dass sie plane, die Siedlungen in Gaza und sechs Siedlungen in der Westbank zu räumen. Es handelt sich dabei um relativ wenige Siedler und die Aufgabe ihrer Wehrdörfer würde den PalästinenserInnen einige frei zugängige Straßen bringen, ansonsten aber gut in die "Gebietsbereinigung" durch den Bau der Mauer passen.

Diese würde nämlich den größten Teil der Siedlungen direkt an Israel anschließen und aus dem "Staat" der PalästinenserInnen einen Flickenteppich machen. Zudem hätte dieser Staat dann auch keine Souveränität über seine Grenzen, Flughäfen und keine Armee. Eine solche Form der Zweistaatenlösung wäre mit dem zionistischen Projekt durchaus vereinbar.

Daher auch die Verbindung mit brutaler Repression, Attentaten auf palästinensische FührerInnen, Terrorisierung des Volkes. Die PalästinenserInnen sollen in einen Zustand der Schwächung und Ermattung getrieben werden, so dass sie nur noch den "Teilungsplan" Scharons akzeptieren können.

Die dritte Option besteht in der Schaffung eines bi-nationalen Staates. Im letzten Jahr wurde diese Idee zunehmend unter den PalästinserInnen, aber auch unter den Israelis diskutiert. Warum?

Einerseits haben die PalästinenserInnen und ihre Führung mehr und mehr erkannt, dass es mit der Regierung Scharon nichts zu verhandeln gibt, wenn sie nur einen einigermaßen lebensfähigen Staat wollen. Sie haben auch erkannt, dass der US-Imperialismus die israelische Regierung nicht an den Verhandlungstisch zwingen will (und der europäische Imperialismus das nicht kann, selbst wenn er wollte). Daher wurde die Schaffung eines einheitlichen, bi-nationalen Staates wieder ins Spiel gebracht - und sei es nur als Drohgebärde.

Teile der PLO-Führung wie der Fatah-Führer Marwan Barghouti haben einen solchen Strategiewechsel ins Siel gebracht, falls Israel weiter ernsthafte Verhandlungen verweigern sollte. Am Ende seines Prozesses warnte er Israel für den Fall, dass es die Kontrolle über einen Teil seiner Territorien nicht aufgeben würde: "Wenn die Besatzung nicht endet - sei es durch einseitigen Abzug oder aufgrund von Verhandlungen -, kann es nur eine Lösung geben: einen Staat für zwei Völker."

Die PalästinserInnen würden dann als rassistisch unterdrückte Mehrheit innerhalb dieses Staates für gleiche Rechte kämpfen - ähnlich dem Kampf der Schwarzen gegen das Apartheid-System in Südafrika.

Diese Perspektive hat einem Großteil der zionistischen Politiker alarmiert. Sie hat auch dazu beigetragen, dass Scharon seine Variante einer Zweistaatenlösung voranzutreiben versucht.

Ein Staat

Es hat unter Teilen der israelischen Rechten dazu geführt, mit dem Gedanken einer Einstaatenlösung zu spielen. Dieser Flügel des Zionismus lehnt die Vertreibung der PalästinenserInnen ab und geht davon aus, dass mit den Abkommen der 1990er Jahre und Scharons Mauer einer "demokratische" Lösung auf den Weg gebracht worden wäre.

Sie sprechen sich für eine Einstaatenlösung aus, solange die jüdische Bevölkerung noch die Mehrheit darstellt, so die Verfassung eines solchen Staates bestimmen kann und die eigenen Privilegien "friedlich" absichern kann. Ein solcher "bi-nationaler" Staat könnte die Privilegien der jüdischen Bevölkerung natürlich nur festigen, indem er selbst die Regeln der bürgerlichen Demokratie von Beginn an mit Füßen tritt.

Fortschrittliche Lösung

Grundsätzlich ist eine fortschrittliche Form einer Ein-Staaten-Lösung nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert. Sie erfordert freilich, das an den PalästinenserInnen begangene historische Unrecht anzuerkennen, ihr Recht auf Rückkehr zu akzeptieren und alle Formen von Ungleichbehandlung aufzuheben. Es bedeutet, dass alle rechtlichen und wirtschaftlichen Privilegien der jüdischen Bevölkerung gegenüber anderen EinwohnerInnen abgeschafft werden.

Doch eine solche Lösung ist nicht am Verhandlungstisch erreichbar! Sie kann nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates durch die vereinte Kraft der jüdischen ArbeiterInnen, die vom Zionismus gebrochen werden, und der unterdrückten PalästinenserInnen geschaffen werden.

Ein solcher multiethnischer ArbeiterInnen-Staat kann die nationalen Gegensätze nur dann auf Dauer lösen und ein friedliches Zusammenleben der jüdischen und palästinensischen Nation gewährleisten, wenn er durch die Enteignung der Industrie, der Banken und des Großgrundbesitzes die Voraussetzungen für die Überwindung von Armut und Ungleichheit schafft.

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Nr. 89, April 2004

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