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Italien

Das Grillo-Phänomen

Dave Stockton, Neue Internationale 178, April 2013

Italien hat eine neue politische Kraft: die „Fünf Sterne Bewegung“ (M5S) von Beppe Grillo. Mit 25,5% der Stimmen im Unterhaus und 23,8 im Oberhaus (Senat) ist sie die größte Partei im Parlament.

Solche Zahlen im ersten nationalen Wahlkampf zu erreichen, ist an sich schon erstaunlich. Umso  bemerkenswerter ist dieser Erfolg, wenn man bedenkt, dass M5S das ohne den üblichen „Standardwahlkampf“ in Fernsehen und Presse geschafft hat. Ihre politische Plattform richtete sich nicht nur gegen das Sparpaket, sondern gegen das ganze politische System. M5S markiert eine tief greifende Änderung in der italienischen Politik.

Beppe Grillo (64) war ein beliebter Fernsehkomiker, der in den 1980ern Berühmtheit erlangte, als er einen Witz über die bekannte Korruption von Bettino Craxis Sozialistischer Partei machte. Er stieß mit dem gesamten politischen Establishment zusammen und wurde hinfort aus dem Staats-Fernsehen verbannt. Das hat sein Ansehen aber noch erhöht. Seine Programme, die live im Internet liefen, faszinierten Massen, v.a. die Jugend. Er nahm immer wieder Korruption und Vetternwirtschaft des Establishments, besonders während Berlusconis letzter Amtszeit aufs Korn.

2007 beschloss er, aktiven politischen Wahlkampf zu machen - nicht auf traditionelle Weise, sondern über das Internet. Am 8. September organisierte er den ersten "V-Feiertag“, wobei das "V" für „vaffanculo“ steht (etwa 'Fick dich selbst!'). Grillo prangerte dort zwei Dutzend PolitikerInnen an, die wegen Korruption, Steuerhinterziehung oder gar  Beihilfe zum Mord verurteilt worden waren. Der zweite „V-Tag“ am 25. April 2008 in Turin hatte die italienische Presse zum Ziel und die lukrativen Subventionen, die die Presse von der Regierung erhält. Er griff sie auch dafür an, dass sie in ökologischen Fragen wie der Müllverbrennung oder bei der Unterstützung für NATO-Basen in Italien auf der falschen Seite standen.

Die Fünf-Sterne-Bewegung

2010 startete er dann das " Movimento 5 Stelle" (Fünf-Sterne-Bewegung), die zur Partei wurde und an Regionalwahlen teilnahm. Das „Movimento“ bezog sich auf Themen wie öffentliche Wasserversorgung, nachhaltige Mobilität, Entwicklung, Internet und Umwelt.

Die neue Bewegung, die über das Internet zusammengefügt wurde, betonte sehr stark "saubere Werte" wie Aufrichtigkeit im Öffentlichem Dienst und direkte Demokratie. Sie forderte, dass alle gewerbsmäßigen Politiker rausgeschmissen werden. Dabei wurde die beliebte argentinische Parole "Que se vayan todos" (Sie sollten alle gehen!) aufgegriffen. Dies ist eine zentrale Achse von Grillos Politik. Er fordert, das alle gewählten Mandatsträger nur für maximal zwei Wahlperioden gewählt werden dürfen, dass sie keine anderen Aufgaben haben dürfen, dass sie nach dem Durchschnittslohn bezahlt werden und dass sie kein Amt oder Mandat haben dürfen, wenn sie vorbestraft sind. Mit dieser Ausrichtung gab es erste Erfolge in den Kommunalwahlen.

Grillo nutzt die neuen sozialen Medien. Über eine Million Menschen sind auf seiner Facebook-Seite. Grillo twittert, statt Presseinterviews zu geben oder im Fernsehen aufzutreten.

Im Gegensatz zu „normalen“ PolitikerInnen verwendet er die sozialen Medien auch zur Unterstützung und Mobilisierung verschiedener Formen von Aktivismus. Er verbindet Online- und Offlineaktivitäten. So wurden 532 „Grillo-Treffen“-Gruppen geschaffen, die den Kern seiner Bewegung bilden, die 87.895 Mitglieder in 446 Städten (November 2012) hat.

Grillo kommuniziert mit seinen  AnhängerInnen hauptsächlich mittels seines enorm beliebten Blogs. Während des Wahlkampfs fuhr er im Campingwagen quer durch Italien und zog bei über 70 Versammlungen Hunderttausende an. Seine Hauptforderungen waren u.a.: eine Reform des Wahlrechts, ein Volksentscheid über den Verbleib in der Eurozone, Kürzungen der Privilegien der Politiker, ein Mindesteinkommen für Erwerbslose, Gesetze für saubere Energie und freien Zugang zum Internet für alle.

Die von der Bewegung aufgestellten KandidatInnen sind keine professionellen Politiker oder haben irgendwelche Erfahrung im Parlament oder in einer Regierung. Grillo selbst stand nicht zur Wahl, weil er 1980 verurteilt worden war (wegen „Totschlags“ bei einem Autounfall). Er verteidigte so persönlich das Prinzip, dass niemand mit einer Vorstrafe für Ämter kandidieren soll.

Nach der Parlamentswahl wies Grillo Bersanis Annäherungsversuche, eine Mitte/Links-Regierung zu unterstützen, zurück. Er stellte fest, dass „M5S“ nicht in eine Koalition mit anderen Parteien treten werde. Er rechnet aber damit, dass die traditionellen Hauptparteien eine Große Koalition formieren werden, von der er glaubt, dass sie bald zusammen brechen und sich bei ihren WählerInnen dadurch unglaubwürdig machen werde. In der folgenden Wahl werde dann seine eigene Partei größere Gewinne machen und die alten PolitikerInnen hinwegfegen.

"Wir gehen ins Parlament, doch wir (…) denken nicht einmal an einen klitzekleinen unordentlichen Deal. Wir werden eine außergewöhnliche Kraft sein. Wir halten alles, was wir im Wahlkampf gesagt haben (…): , Wasser in öffentliche Hände, Schulen in öffentliche Hände, das Gesundheitswesen.“

Aber Grillos Hass auf Mitte/Links und die Rechte und seine rein negative Haltung dazu, eine Regierung zu bilden oder zu unterstützen, hat einen Aufstand  unter seinen eigenen Anhängern provoziert. Schon 150.000 haben eine Online-Petition unterschrieben, in der er aufgefordert wird, einen Dialog mit der Mitte/Links-Allianz, geführt von der Demokratischen Partei, der größten Kraft im Parlament, aufzunehmen. Es wird interessant sein, zu sehen, wie das angeblich überlegene Modell "virtueller" Demokratie funktioniert, und ob Grillo sich einem Online-Plebiszit beugt.

Rechts oder Links?

Grillo selbst ist Millionär. Es gibt einige ernstzunehmende Sponsoren-Gelder aus der IT-Industrie, v.a. von Roberto Casaleggio, einem erfolgreichen IT-Manager. Casaleggios Angestellte bilden auch eine wichtige Basis der „M5S“. Casaleggio behauptet, dass er eine "neue, direkte Demokratie, die alle Barrieren zwischen Bürger und Staat ausschaltet“, sieht. Doch wenn die "Demos" ihren Millionärs-Wohltätern ihren Willen nicht aufzwingen können, dann ist es ein potentiell noch schlechteres System als die parlamentarische Demokratie.

Als er von einigen Mitgliedern, die unzufrieden damit waren, wie die Politik der Bewegung bestimmt wird, gefragt wurde, antwortete Casaleggio, "das Statut enthält die Regeln. Wenn sie die Regeln wechseln wollen, können sie eine andere Bewegung schaffen!” Als der Interviewer fragte: "Und wer schrieb die Statuten?“, antwortete Casaleggior: "Grillo und ich."

Diese populäre Bewegung wird also von zwei Millionären geführt und kontrolliert: ohne ein System, Kandidaten oder Parteivorsitzende demokratisch zu wählen, nur durch Beteiligung über  Internet, Facebook, Twittern usw. - eine High-Tech-Version des Plebiszits. Es erlaubt und fördert eine bonapartistische Vorrangstellung der Führung. In keinem Sinn ist dies also eine demokratische Bewegung, und, wenn sie eine werden sollte, müsste sie Parteistrukturen aufbauen, einschließlich repräsentativer, Konferenzen abhalten und ein Programm annehmen.

Manche Beobachter meinen, die „Fünf Sterne“ sei eine pro-systemische Alternative zu wirklichen Massenbewegungen wie Occupy in den USA, den Indignados in Spanien und der Anti-Austeritätsbewegung in Griechenland:

"In Italien wurde ein großer Teil der  'Entrüstung' von Grillo und Casaleggio, zwei reichen Männern in den Sechzigern mit einem Hintergrund in der Unterhaltungsindustrie und im Marketing,   aufgefangen und organisiert. Sie schufen ein hybrides Wahlrecht, eine Mischung von Wirtschaft und Politik, mit seinem eigenen Copyright und Warenzeichen. Ihre Bewegung wird rigide von der Spitze her strukturiert und organisiert, sammelt Mobilisierung und Schlagwörter und schlägt sie den sozialen Bewegungen vor, gemischt mit Rechtfertigungen für einen 'gesunden Kapitalismus' und oberflächliches Lob über die einzelne Aufrichtigkeit von jenen, die im öffentlichen Wohl herrschen und verwalten. Ihr Programm ist eine verworrene Mixtur aus neoliberalen und antikapitalistischen, Zentralismus und Föderalismus, liberalen und konservativen Werten. Ein Einheitsgrößen-Programm, ohne klares Ziel, typisch für alle politischen „Ablenkungen.”

Klar ist, dass Grillos AnhängerInnen nicht „die Arbeiterklasse“ repräsentieren, aber Grillo repräsentiert auch keinen bedeutsamen Sektor des Großkapitals - jedenfalls noch nicht. M5S ist das, was MarxistInnen eine kleinbürgerlich-populistische Bewegung nennen, aber eine mit einem prokapitalistischen Programm. Und es ist eines, das sich schnell nach rechts drehen könnte. Obwohl Grillo verschiedene linke Inhalte aufgenommen hat - sogar "antiimperialistische" wie den Widerstand gegen die Besetzung Afghanistans -, sein Populismus schwingt nach rechts als auch nach links aus.

Während er einerseits Unterstützung auch der „purpurroten Bewegung“ von 2010, die Teil einer langen Tradition von Anti-Korruptionsbewegungen in Italien ist, ausgedrückt hat, hat er andererseits auch wirklich rechte, eigentlich rassistische  Forderungen übernommen. So lehnt er es ab, die italienische Staatsbürgerschaft auch Kindern von ImmigrantInnen zu gewähren. Einer seiner "ökonomischen Berater" ist Eugenio Benettazzo, der wiederholt auf Treffen  der neofaschistischen Partei Forza Nuova gesehen.

Antikapitalistisch?

Grillo sagt sehr wenig über ökonomische Fragen. Doch während des aktuellen Wahlkampfs meinte  er auf einer Versammlung in Brindisi: "Ich will einen Staat mit Eiern, lasst uns die Gewerkschaften loswerden, eine alte Struktur wie die Parteien. Es gibt keine Notwendigkeit mehr für  Gewerkschaften. Unternehmen sollten jenen gehören, die arbeiten.“

Es greift auf die verbreitete Erkenntnis zurück, dass Italiens Gewerkschaften es versäumt haben, aktiv die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen. Aber anstatt nach wirksameren Gewerkschaften zu rufen, kontrolliert von ihrer Basis, fordert er, dass ein starker Staat sie als "nicht mehr notwendig" abschaffen soll.

Dasselbe gilt für seine scheinbar radikale Aussage „Die Betriebe sollen denen gehören, die arbeiten". Selbst wenn dies so interpretiert wird, dass die in einem Betrieb beschäftigten ArbeiterInnen Eigentümer sein sollen, so ist es immer noch eine Verteidigung des Privateigentums -  das Gegenteil von sozialem Eigentum an den Produktionsmittel und etwas anderes als die Parole nach Arbeiterkontrolle als Übergangsforderung auf dem Weg in Richtung Enteignung.

Welcher Ausweg aus der Krise?

Das Ergebnis der italienischen Wahl vertieft die Krise der italienischen Gesellschaft zweifellos. Eine Krise beschleunigt immer die Polarisierung der Gesellschaft. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sofort ein klarer Schnitt erfolgt zwischen den Klasseninteressen des Großkapitals und jenen der Arbeiterklasse. Im Gegenteil: im Prozess der Polarisierung werden alle Arten von Mittel- und politischen Übergangsströmungen aufgewirbelt. Dies trifft umso mehr auf jene Schichten der Gesellschaft zu, die wegen ihrer objektiven sozialen Position, ihrer subjektiven Geschichte und ihrer Interessengebundenheit sich nicht sofort mit einer der beiden Hauptklassen identifizieren.

Diese Schichten werden zweifellos schwer von der Krise getroffen und sind in ihrer Reaktion darauf unbeständiger. Obwohl die Sparpolitik der Regierung nicht ihren Interessen dient, weil deren wirklicher Zweck ist, noch mehr Reichtum auf die größten Kapitalformationen zu übertragen, bedeutet das nicht, dass sie spontan auf die Seite der Arbeiterklasse schwenken.

Vielmehr können, ja werden sie von populistischen, kleinbürgerlichen Heilsbringern angezogen. Heute mögen sie ihre Hoffnung an scheinbar über „rechts“ und „links“ stehenden Figuren wie Grillo binden. Morgen, wenn diese ihre Unfähigkeit offenbaren, die Lage zu verbessern, könnten sie sich nach radikaleren Alternativen umsehen - einschließlich extrem rechten.

Der Aufstieg Grillos ist daher auch eine Strafe für den Opportunismus der Führungen und politischen Parteien der italienischen Arbeiterklasse und der Linken.

In den letzten Jahrzehnten hat sie immer wieder das Bündnis mit „respektablen bürgerlichen“ Kräften gesucht. Die Gewerkschaften haben bis auf wenige Ausnahmen den politischen Burgfrieden mit dem Kapital angestrebt. All das bedeutet, dass die Arbeiterklasse nicht als eigenständige Kraft auftrat, ja nicht in Erscheinung treten konnte. Genau das aber muss die Schlussfolgerung aus dem Aufstieg Grillos sein.

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Nr. 178, April 2013
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