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Zehn jahre Agenda 2010

Die Reformisten und ihr Dilemma

Frederik Haber, Neue Internationale 178, April 2013

Der zehnte Jahrestag der Agenda-Rede Schröders war allen Medien ein Rückblick wert. Alle wiesen darauf hin, dass Deutschland heute nicht da stünde, wo es steht; alle beklagten die Folgen für Arbeitslose und Leiharbeiterinnen. Meist klang durch, dass letzteres aber der notwendige Preis für das erstere sei.

Die Süddeutsche Zeitung hat diese Zweischneidigkeit gleich in zwei Kommentaren beschrieben: Die „giftige“ und die „richtige Agenda“. (Prantl und Beise, SZ, 9.3.12.)

Prantl findet starke Worte der Kritik: „Ein Sozialstaat gibt also nicht dem, der schon hat, und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Die Agenda 2010 hat das missachtet; diese Missachtung heißt Hartz IV: Die Schwachen werden belastet, die Starken entlastet. (...) Sie hat die Armut zum Mittel der Politik gemacht - 'um Ressourcen frei zu bekommen', wie Kanzler Schröder sagte. Unterversorgung wurde zu einem wirtschaftspolitischen Instrument.“

Und weiter: „Gute Medizin muss bitter schmecken, sagen die Verteidiger der Agenda; Hauptsache sie hilft. Angeblich hat sie geholfen: Die Zahl der Arbeitslosen sei gesunken. Die Statistik arbeitet mit vielen Tricks, aber dies eine stimmt: die Zahl der Erwerbstätigen ist heute hoch wie nie. Manche sehen darin ein Wunder. Es ist ein potemkinsches Wunder, denn das Gesamtvolumen der geleisteten Arbeitsstunden ist geschrumpft. Warum? Weil immer mehr Menschen in mickrigen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten; Minijobber werden einfach als Erwerbstätige mitgezählt. Die Agenda hat Zeitarbeit, Mini-Jobs und Ich-AGs gefördert, der Niedriglohnsektor ist stark gewachsen. Der Staat zahlt Aufstockung, übernimmt also die Kosten, die eigentlich durch die Löhne gedeckt werden müssten. Und so subventioniert der Staat die Wirtschaft und schwächt die Gewerkschaften.“

Auch das Schicksal der prekär Beschäftigten wird aufgegriffen: „Arbeitslosigkeit wird so in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit zu einem individuellen Versagen erklärt; wer keine oder keine gescheite Arbeit findet, ist selber schuld; er hat sich nur nicht genügend bemüht. Man spricht gern vom aktivierenden Sozialstaat. Man kann den Eindruck haben, dass er nicht die soziale Sicherheit, sondern das Bewusstsein der sozialen Unsicherheit kultivieren will. Das wird befeuert durch Missbrauchs- und Faulheitsdebatten. Seit der Agenda ist der Hilfsbedürftige nicht zuerst hilfsbedürftig, sondern verdächtig; die Agenda hat den sozial Verdächtigen geschaffen.“

Beise verwendet viele Zeilen darauf, die „Arbeitsmarkterfolge“ zu preisen. Diese legt er genau entgegengesetzt Prantls Beschreibung aus. Aber entscheidend ist seine Beschreibung des eigentlichen Ziels der Agenda: „Angekündigt am 14. März 2003 im Deutschen Bundestag, vorgetragen beinahe verzagt, buchhalterisch in der Präsentation, von vielen zunächst in ihrer Bedeutung gar nicht erkannt, war dies die Ankündigung von Strukturreformen, um 'unser Land wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa zu führen'. Das Versprechen wurde eingelöst, viele Euro-Krisenstaaten können es heute traurig bestätigen.“

Mit unseren Worten: Die deutsche Bourgeoisie hat es geschafft, sich alle anderen Länder Europas unterzuordnen und Britannien an den Rand zu drängen. Damit konnte(n) Deutschland und Europa um einen Spitzenplatz im imperialistischen Weltgefüge kämpfen - wenn es auch die Schwächephase des US-Imperialismus nicht nachhaltig nutzen konnte und China viel Boden gut gemacht hat. Dies stellt keine Fraktion der deutschen Bourgeoisie in Frage, auch ein Prantl kritisiert nur, dass die „Ressourcen, die dafür freigemacht wurden“, bei den untersten Schichten der Gesellschaft geholt wurden. Dazu beklagt er: „Der zweite Teil der Agenda ist nie angepackt worden; eine neue Vermögens- oder eine Reichensteuer ist nie gekommen, über Transaktionssteuern wird bis heute nur geredet. Das Reden über Belastungen auch für die Starken, das Lamento über die astronomischen Bezüge von Managern - es war und ist Ablenkungsgerede.“

Der „Erfolg“ der Agenda richtet sich gegen seine Profiteure

In der Agenda 2010 der EU hieß es: „Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen - einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“

Diese Ziele wurden nicht erreicht. Auch wenn Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern konnte, so v.a. auf Kosten der anderen europäischen Länder. Europa, die EU und der Euroraum sind der imperialistische Block, der am tiefsten in der Krise steckt. Statt größeren sozialen Zusammenhalt zu schaffen, ist dieser in vielen Ländern völlig in die Brüche gegangen, zerfällt in weiteren Ländern, immer mehr stehen vor sozialen Explosionen, aktuell Zypern und Bulgarien.

Die deutsche Bourgeoisie aber hat Blut geleckt und will weiter durchziehen. Die andern Länder werden drangsaliert, kontrolliert und kolonialisiert, dafür steht Merkel. Frankreich wird gedrängt, seine Arbeiterklasse ähnlich zu schlagen, eine eigene Agenda durchzuziehen, um dann als Juniorpartner neben Deutschland in Europa zu herrschen, die anderen Länder müssen zahlen - ob sie wollen oder nicht und ohne Perspektive, verlorenen Boden wieder gut zu machen.

Nächste Runde

Doch einen „Export der Agenda“, wie so manche Politiker und Kommentatorinnen empfehlen (Prantl lehnt es ab), hieße nicht etwa, dass diese Länder damit einen ähnlichen „Erfolg“ haben könnten wie Deutschland. Zum einen haben die Arbeiterklassen anderer europäischer Länder oft nicht so große soziale Errungenschaften, die es sich zu enteignen lohnen würde; zum anderen müssten sie dazu dienen, Deutschland, China oder Japan im industriellen Export anzugreifen, oder Britannien und die USA auf finanzmarkttechnischem oder gar militärischem Terrain. Maximal könnten die europäischen Länder um die Rangfolge als  Wasserträger Deutschlands kämpfen, so wie zur Zeit Polen Spanien als Zulieferer der deutschen Autoindustrie ablöst.

Die Verfolgung der imperialistischen Ziele Deutschlands erfordert einen neuen Angriff auf die Arbeiterklasse hierzulande. Es müssen neue „Ressourcen freigemacht“ und so auch künftig die Konkurrenten auf Abstand gehalten werden. Noch vorsichtig - es ist Wahljahr - wird von einer Agenda 2020 gesprochen: Renteneintrittsalter 69, Angriffe auf die Krankenversicherung, weitere Privatisierungen usw.

Reaktion der Gewerkschaften

Wie schon 2004 wollen die Führungen der Gewerkschaften diese logische Konsequenz der deutschen Politik, die sie ja grundsätzlich unterstützen, nicht wahrhaben oder nicht zugeben. Stattdessen reden sie von einem „Kurswechsel“ (IG Metall) oder einer „neuen sozialen Ordnung“ (DGB), wofür sie „die Politik“ gewinnen wollen. Mit dieser schwammigen Formulierung meinen sie die „vernünftigen“ Teile des Kapitals, mit denen sie Sozialpartnerschaft betreiben wollen, sowie die SPD, CDU/CSU, die Grünen und evtl. die LINKE. Die vom DGB geforderte „neue soziale Ordnung“ kann unter diesen Voraussetzungen nur heißen, dass die Gewerkschaften bei der neuen Agenda nicht wieder überfahren werden wollen, wie 2003/04 - sie wollen die Angriffe auf die Klasse und ihre eigene Niederlage dabei „mitgestalten“. Alles andere sind Utopien und Wunschträume.

Auch die Debatte zur Krise Europas verläuft innerhalb der Gewerkschaften zwischen Erbärmlichkeit und Utopie. Wenn IGM-Chef Huber den spanischen Metallgewerkschaften Lohnverzicht empfiehlt, um wettbewerbsfähiger zu werden (Phönix-Interview vom September 2012), dann rät er ihnen nur freiwillig das zu tun, was auch Merkel per Dekret will. Wenn umgekehrt GewerkschafterInnen und PolitikerInnen der LINKEN eine „Ausgleichsunion“ fordern, also finanzielle Transfers in die Krisenländer und Verzicht auf Marktanteile im Wettbewerb, dann haben sie Illusionen in den Staat und in die EU. Dieser „Über-Staat“ ist weder demokratisch in dem Sinne, dass er von den Bürgern gewählt wäre, noch dass die EU-Mitglieder gleiche Rechte hätten.

Beide Positionen argumentieren aber auf der Basis des kapitalistischen Wettbewerbs, den beide nicht in Frage stellen. Es ist aber diese kapitalistische Konkurrenz, die zwangsläufig die großen Kapitale immer stärker macht, zu stärkerer Ausbeutung „ihrer“ Arbeitskräfte zwingt und die Widersprüche zwischen den imperialistischen Ländern verschärft und diese zwingt, die anderen noch weiter auszubeuten und zu unterdrücken.

So bieten beide Utopien an: Eine Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der spanischen ArbeiterInnen durch Lohnverzicht á la Huber verteilt die Arbeitslosigkeit innerhalb Europas nur um und erhöht die Profite des Kapitals. Die „Ausgleichsunion“ der LINKEN hat dasselbe Ergebnis, erfordert aber Einsicht und Selbstverzicht des Kapitals. Fromme Wünsche also.

Revolutionäre Agenda

Jene Millionen, die heute in Europa auf die Straße gehen, weil ihnen ihre Regierungen, die EU und dieses System keine Perspektive mehr bieten, zeigen, dass die Agenda 2010 kein Konzept für die Zukunft ist. Die zur Amtszeit Schröders grassierende „deutsche Krankheit“ mit hoher Arbeitslosigkeit und Stagnation wurde nach ganz Europa exportiert und so der  ganze Kontinent damit infiziert. Obgleich sich das deutsche Kapital momentan an der kränkelnden EU schadlos hält, wird die Krankheit letztlich zurückkommen und auch auf Deutschland stärker durchschlagen.

Dass die globale Krise nach wie vor ungelöst ist, besagt jede Nachrichtensendung. Klar ist auch, dass die verordneten Sparprogramme die Wirtschaftsdynamik noch weiter untergraben. Die eigentlichen Ursachen der Krise - die Überakkumulation von Kapital, die enormen Überkapazitäten - bestehen weiter. Letztlich kann nur eine enorme Kapitalvernichtung mit   Bankrotten und Massenentlassungen eine - freilich nur kurzfristige - Lösung fürs Kapital sein.

Allen ArbeiterInnen und Angestellten, der Jugend, allen GewerkschafterInnen und linken AktivistInnen in Deutschland muss daher klar werden, dass sie sich an die Seite der DemonstrantInnen und Streikenden in Spanien, Griechenland und Bulgarien stellen und sich dafür rüsten müssen, die neuen Angriffe, wie sie nach der Bundestagswahl unweigerlich kommen werden, abzuwehren. Nur so geht Zukunft!

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Nr. 178, April 2013
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