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Syrien

Imperialistische Konkurrenz und revolutionäre Perspektive

Dave Stockton, Neue Internationale 165, Dezember 2011/Januar 2012

Der syrische Präsident Baschar al-Assad sieht sich der internationalen Unterstützung der Opposition und einer steigenden Zahl von Deserteuren aus den Reihen der eigenen Sicherheitskräfte gegenüber. Sie sind nach Schätzungen nur noch 195.000 Mann stark statt 220.000 zu Beginn der Unruhen.

8 Monate Repression haben eine Blutspur hinterlassen. Beobachter der UNO berichten von über 3.500 Toten und einer noch weit höheren Zahl von Verwundeten, Verschleppten und Gefolterten. Doch das Regime vermochte es nicht, die Revolution zu unterdrücken.

Nach Monaten des Schweigens von Seiten der meisten arabischen Staaten scheinen nun das Ausmaß des Krieges und die zunehmenden Angriffe der neu formierten Freien Syrischen Guerrillaarmee zu bewirken, dass die Gemeinschaft der arabischen Länder endlich Stellung zur syrischen Krise bezieht.

Am 17.11. hat die 22köpfige Arabische Liga die syrische Mitgliedschaft aufgehoben und dem Regime 3 Tage Zeit gegeben, die blutige Repression zu stoppen oder Wirtschaftssanktionen zu riskieren.

Natürlich können die wenigsten Mitgliedstaaten der Liga selber mit blühender Demokratie oder Menschenrechtsachtung aufwarten. Ihre Resolution fordert die Entsendung von 500 Beobachtern nach Syrien, um die Einhaltung der Auflagen zu überwachen. Assad hat dies brüsk zurück gewiesen. Nun werden anscheinend die Sanktionen verhängt.

Im abgelaufenen halben Jahr hat die Türkei viele Flüchtlinge über die syrische Nordgrenze aufgenommen. Premierminister Recep Tayep Erdogan hat die arabischen Staaten scharf kritisiert, dass sie die Repression nicht verurteilten und meinte, dass „die fehlende Reaktion auf die Massaker in Syrien unauslöschliche Wunden im Bewusstsein der Menschheit hinterlassen hat“.

Erdogan selbst ist jedoch kaum von demokratischem Idealismus durchdrungen, zumal er gerade einen Überfall auf nordirakisches Gebiet gegen die Kurden unternommen hat. Seine gemäßigt islamistische Regierung will vielmehr seine Einflussphäre in Nahost erweitern und zugleich den kurdischen Kämpfern den Nachschub abschneiden.

Der westliche Imperialismus denkt an Intervention

Die Westmächte kritisieren Assad ebenfalls seit Monaten. Mitte August forderte US-Außenministerin Clinton Assad auf, den Weg frei zu machen. Die EU und die USA haben Sanktionen gegen führende Regimevertreter verhängt. Ihre gespielte Aufregung über Menschenrechtsverletzungen ist nichts weiter als Heuchelei, denn bis vor kurzem benutzten sie Staaten wie Syrien und Ägypten unter Mubarak als Ort für eine außerordentliche Auslieferung von 3.000 Gefangenen des ‚Krieges gegen den Terrorismus'. Dabei wussten sie sehr wohl, dass jene von der Geheimpolizei gefoltert werden und die herausgepressten Informationen an den CIA weitergegeben würden.

Frankreich als ehemalige Kolonialmacht in Syrien und Libanon erklärte, es sei Zeit für internationale Gremien, gegen die syrische Regierung vorzugehen. Deutschland, Britannien und Frankreich haben eine Entschließung vor die UNO-Vollversammlung gebracht, worin Syriens Menschenrechtsverletzungen verurteilt werden. Der britische Außenminister William Hague trifft sich mit Mitgliedern der syrischen Opposition in London, um den Druck gegen Assad zu erhöhen und pro-imperialistische Elemente zu finden, ähnlichen denen, die in Libyen protegiert worden sind.

Die EU-Staaten könnten beträchtliche ökonomische Hebel ansetzen. 95% der syrischen Ölexporte gehen in EU-Länder, und ein Großteil der Einfuhren nach Syrien stammt von dort. Obwohl Syrien kein reiner Ölrentenstaat wie Libyen oder die Golfstaaten ist, machen die Ölverkäufe, die 2010 bei 2,3 Milliarden US-Dollar lagen, immerhin ein Viertel der gesamten Staateinkünfte aus.

Die USA hätten zwar nichts gegen Assads Sturz, fürchten aber Maßnahmen, die die Region um Israel destabilisieren könnten. Ein neues Regime müsste zumindest so harmlos wie das von Vater und Sohn Assad gegenüber dem zionistischen Kettenhund. sein. Eine neue Regierung, die die Unterstützung für die Hisbollah, Hamas und die Palästinenser herunterfahren und die Verbindungen zum Iran kappen würde, wäre natürlich noch angenehmer. Aber die ägyptischen Ereignisse zeigen, dass damit nicht zu rechnen ist.

Die USA will folglich zur Zeit kein militärisches Engagement auf sich nehmen. CIA-Chef Leon Panetta hat NATO-Luftangriffe gegen Syrien ausgeschlossen. Die Israelis haben ihre Befürchtung durchblicken lassen, dass mit dem Sturz der Regierung als Ergebnis der Revolution Schlimmeres käme. Diese Haltung vertraten sie auch während des ‚arabischen Frühlings'. Die Zionisten ziehen berechenbarere Gegner vor.

Allerdings ist die Idee mancher Linker, die Erhebung in Syrien sei eine von Imperialisten angezettelte Verschwörung, um ein antiimperialistisches Regime zu Fall zu bringen, völlig abwegig. Wer hier nur Regierungen gegenüberstellt, unterstützt letztlich jede Tyrannei und würde die syrische demokratische Bewegung geradewegs in die Arme der USA und die ‚Helden' der libyschen Intervention, Sarkozy und Cameron, treiben.

Assads regionale und imperialistische Unterstützer

Das syrische Regime wird immer noch von einigen Kräften in der arabischen Welt gestützt. In der palästinensischen Bewegung sehen viele fälschlicherweise in Syrien und Iran verlässliche Verbündete gegen den Zionismus. Die Dominanz der Verbündeten und Bediensteten des Damaskus-Regimes in Gasa und Westbank verhindert teilweise das Zustandekommen einer neuen Intifada. Der Bruch mit den Regierungen in Syrien, Libanon, Iran oder auch Irak wäre wegweisend für einen Neuaufbau der palästinensischen Bewegung als unabhängiger revolutionärer Ausdruck der arabischen Revolution.

Doch der ausschlaggebende Rückhalt für die Ba'ath-Diktatur kommt aus Russland und China. Sie werden erst von Assads Seite weichen, wenn sich wie in Libyen dessen Herrschaft völlig auflöst.

Eine der bedeutsamsten Veränderungen in der historischen Krise des globalisierten Kapitalismus ist der zu Tage tretende Beweis, dass der Imperialismus kein Monolith ist. Während des kalten Kriegs und noch in den 90er Jahren, meinten MarxistInnen, wenn sie vom Imperialismus sprachen, die USA und die untergeordneten Mächte in Westeuropa sowie Japan in Fernost. Die Hegemonie der USA war so stark, dass sie nur in Nebensächlichkeiten oder Randregionen geopolitisch hinterfragt werden konnte. Heute kann ein solches Verständnis in einer revolutionären Analyse und politischen Orientierung nicht mehr angewendet werden.

Der Niedergang der USA und der Aufstieg des dynamischen Kapitalismus in China und das Wiedererstarken von Russland zeigt eine klare innerimperialistische Konkurrenzsituation. Im Oktober stimmten beide gegen eine Resolution im UN-Sicherheitsrat, die Sanktionen gegen Syrien vorsah. Russland wiederholte die Propagandaargumente aus Damaskus. Außenminister Sergej Lawrow sagte: „Es ist kein Geheimnis, dass sich unter die friedlichen Demonstranten, deren Bestrebungen und Forderungen wir unterstützen, zunehmend bewaffneten Gruppen gemischt haben, deren Ziele völlig andere als Reform und Demokratie in Syrien sind (...) Ihre Ziele verfolgen ethnische und Stammesinteressen, und diese Leute haben Waffen erhalten und werden weiter beliefert von Nachbarstaaten und müssen dies nicht einmal besonders verbergen“.

Russland muss seinerseits auch nicht verhehlen, dass es Assads Truppen mit russischer Artillerie und Panzern, Sturmgewehren und Munition ausgerüstet hat. Mit ihnen werden unbewaffnete Zivilisten getötet. Wjatscheslaw Djerkain, ein Befehlshaber der russischen Dienste für militärische Zusammenarbeit sagte vor kurzem, es gäbe keine Beschränkung für Waffenlieferungen nach Syrien. Soweit zur Unterstützung für die Bestrebungen und Forderungen syrischer Demokraten.

Gewiss hat Russland wenig Sympathie für ethnische und Stammesinteressen, mehr jedoch für ihre diktatorischen Unterdrücker. Zwei blutige Kriege in Tschetschenien und der erste ‚Krieg gegen den Terrorismus' in Russland halfen, das reaktionäre russische Regime zu stabilisieren. Das Erbe eines hochindustrialisierten Landes, eine massive Militärkraft mit Nuklearkapazität sowie die riesigen natürlichen Ressourcen der russischen Föderation (Öl, Gas, wertvolle Mineralien) und der Gürtel von zentralasiatischen Halbkolonien gestattete Russland den Eintritt in den Kreis der imperialistischen Mächte nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch 1991.

Als neuer Imperialismus ist Russland bestrebt, seine Position in der ölreichsten und geostrategisch wichtigsten Weltregion zu halten. 2006 hat Russland dreiviertel der Schulden Syriens (9,6 Milliarden) erlassen, ist weiterhin der Hauptwaffenlieferant des Landes und will seine Schiffspräsenz am Mittelmeer ausbauen. Der syrische Hafen Tartus steht derzeit als einziger Mittelmeerhafen der russischen Flotte rund um die Uhr zur Verfügung. Ohne ihn müsste die russische Seemacht im Umweg über die türkische Meerenge nach Odessa Nachschub und Wartung bewerkstelligen.

Der syrische Widerstand

Teile der syrischen Armee bröckeln ab. Das ist ein gutes Zeichen. Die Schaffung von bewaffneten Verteidigungseinheiten für die Massenmobilisierungen könnten Assads Streitkäfte für die Repression des Widerstands büßen lassen und das Regime unterhöhlen. Sie haben zweifelsohne eine Rolle bei den lang anhaltenden Massenmobilisierungen gespielt.

Mit Angriffen auf verschiedene Ziele im Land hat die Freie Syrische Armee (FSA) von sich reden gemacht. Angeblich gehören ihr 10 bis 15.000 Mitglieder an, wahrscheinlich aber weniger. Sie hat jüngst damit begonnen, wichtige Einrichtungen des Regimes in mehreren Städten anzugreifen, z.B. am 16.11. den Luftstützpunkt am Rand von Damaskus. Das war ein hochsymbolischer Akt, zumal die Machtbasis von Baschars Vater Hafes al-Assad, der 1970 die Regierungsgewalt übernahm, in der Luftwaffe lag.

Trotz dieser waghalsigen Guerrillaaktionen der FSA, die meist nur mit Sturmgewehren bewaffnet waren, wird damit nicht die Streitmacht des Regimes mit ihren 4.000 Panzern und 8 gut ausgerüsteten Divisionen militärisch besiegen können. Aber der Glaube an die Festigkeit der eigenen Reihen und demgegenüber die Wahrnehmung der Unerschütterlichkeit des Widerstands wird die Regimetreue der Truppen maßgeblich beeinflussen. Angesichts von massenhafter politischer Agitation, der Formation einer koordinierten Massenbewegung und eines Generalstreiks der Arbeiterschaft können auch ganze Einheiten und Bataillone meutern und zum Widerstand überlaufen.

Die so hoch gelobte - scheinbare - Strategie der Gewaltlosigkeit als Prinzip bei den tunesischen und ägyptischen Revolutionen im Januar und Februar 2011 ist von den  Bürgerkriegsereignissen in Libyen, Jemen und Syrien klar überholt worden. Aber auch die Guerrillataktik kann nicht zur Strategie erhoben werden. Viele tausend Deserteure aus der Armee sind zu örtllichen Widerstandseinheiten übergewechselt und liefern so viel Schutz und Beistand, wie es ihre Ausrüstung erlaubt. Massenaktionen mit bewaffneter Selbstverteidigung wie auch wiederholte Versuche, größere Einheiten oder gar Divisionen auf die Seite der Bevölkerung zu ziehen, sind entscheidend.

Die syrische Opposition ist sehr vielfältig und unterschiedlich. Große Meinungsverschiedenheiten bestehen zwischen langjährigen Exilgruppen, die von Britannien und Frankreich hofiert werden und die sie zu einer Regierung auf Abruf zusammenstellen möchten, und den Führungen innerhalb Syriens, die sich in verschiedenen Orten im Kampf gegen die unterdrückerische Politik des Regimes gebildet haben.

Außerdem ist die Opposition in ihrer Haltung zu ausländischem Eingreifen gespalten - genau so wie in der Frage von Verhandlungen mit dem Regime und der Einstellung zu bewaffnetem oder unbewaffnetem Widerstand. Einige Gruppen fordern die Westmächte auf, Sicherheitszonen in Syrien zu errichten. Das ist eine gefährliche Abgleitfläche hin zum Ruf nach NATO-Luftangriffen auf Syrien, die als ‚Flugverbotszone' verklausuliert werden.

Doch eine westliche imperialistische Intervention wird dem Kampf für Demokratie nicht nur nicht gut tun, sondern ihm sogar schaden. Die EU und die USA haben trotz ihrer hochtrabenden Reden über Menschenrechte nur eins im Sinn: ihre eigenen ökonomischen und strategischen Ziele in der Region zu verfolgen. Sie werden die Bildung einer reaktionären Regierung unterstützen, die wie in Libyen noch immer durch eine Revolution gestürzt werden muss. Es ist notwendig, dass die linken Kräfte sich davon absetzen und alle Forderungen nach militärischer Beteiligung von EU/NATO politisch bekämpfen.

Der Weg zur Arbeiter- und Bauernmacht

Wie sollen nun revolutionäre SozialistInnen, AntiimperialistInnen, AntizionistInnen und aufrechte DemokratInnen einen Kurs finden zwischen den widerstreitenden Imperialisten, den Hegemonialbestrebungen von Regionalmächten wie der Türkei oder Iran sowie den reaktionären sozialen Käften des politischem Islamismus, die das Sektierertum fördern, die Unterdrückung der Frauen und den Abbau hart erkämpfter demokratischer Rechte durchsetzen wollen, wie dies in Libyen, Ägypten und Tunesien geschieht?

Zum einen durch die Vorlage eines internationalistischen revolutionären Programms, dessen Schlüssellosungen und -forderungen bei den Massen ankommen und andererseits die Etablierung der Arbeiterklasse als führende Kraft beim Sturz der ba'athistischen Tyrannei.

In einem Land wie Syrien ist es ausschlaggebend, sich als Ziele des Kampfes Demokratie und Säkularismus zu setzen. Die Opposition hat die Anschuldigungen des Regimes zurück gewiesen, sie seien sunnitische Fundamentalisten und würden Alawiten, Drusen u.a. Minderheiten verfolgen wollen.

Die Ba'ath Partei geht auf Wurzeln eines weltlichen Nationalismus zurück und die hohe Zahl von Minderheiten macht sie anfällig gegen die salafistische (ultrareaktionär islamistische) Demagogie. Aber dies ist ein Grund mehr für den Widerstand, dies entschieden und klar zu bekämpfen.

Die Intelligenz, StudentInnen und die erwerbslose Jugend, die an der Spitze der Erhebungen stehen, müssen massenhaften Rückhalt in der Arbeiterklasse finden, in der gesellschaftlichen Kraft, die das Regime durch Generalstreik und Massenaufstand stürzen kann.

Wie in Ägypten und anderswo ist der Aufbau von Fabrikausschüssen und Arbeiterräten vorrangig dafür und auch, dass nicht die Errungenschaften der Revolution wie in Tunesien und Ägypten drohen, verloren zu gehen. Es darf nicht geschehen, dass die Figuren an der Spitze, die Assad-Familie, zwar entfernt werden, aber die Grundpfeiler der Diktatur unangetastet bleiben. Wie in diesen Ländern muss die Revolution ohne Unterbrechung weiter gehen, die Bevölkerung bewaffnet werden und die Macht in die Hände der arbeitenden Massen gelegt mit einer Arbeiter- und Bauernregierung, die ihnen jederzeit verantwortlich ist.

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Nr. 165, Dez. 2011/Jan. 2012
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