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Debatte

Ist das Volk noch nicht reif für den Sozialismus?

Martin Suchanek, Neue Internationale 126, Januar/Februar 2008

Eine von Chávez selbst in den Umlauf gebrachte Interpretation des Wahlergebnisses  in Venezuela lautet, dass sich gezeigt  habe, dass das Volk (noch) nicht reif für den Sozialismus wäre.

Dahinter steckt ganz offenkundig der Versuch, die eigene Wahlniederlage den Massen in die Schuhe zu schieben. Wer könnte z.B. ernsthaft behaupten, dass die venezolanischen ArbeiterInnen gegen die Einführung des 6-Stunden-Tages oder die Anerkennung des informellen Sektors gestimmt hätten? Chávez versucht seinen eigenen widersprüchlichen Charakter auf die „Unreife, die „Unwissenheit“ des „Volkes“ abzulenken. Dabei kamen selbst aus der PSUV zahlreiche Kritiken, dass die Vorschläge zum Referendum nicht oder viel zu wenig an der Basis oder in der Gesellschaft diskutiert wurden.

Chávez „Sozialismus“

Vor allem aber steckt dahinter eine Vorstellung von „Sozialismus“ und Übergang zum Sozialismus, der verdeutlicht, wie wenig Chávez und das „Zentrum“ des Bolivarismus mit einem revolutionären Verständnis von Sozialismus zu tun hat.

Erstens ist weder der Inhalt der Verfassung Venezuelas, noch der der Anträge „sozialistisch“ gewesen. Die „sozialistischen“ Maßnahmen waren und sind radikal bürgerlichen Charakters, die wichtige und unterstützenswerte soziale Reformen für die Arbeiterklasse und die Bauernschaft enthalten. Oder sie zielten auf die Beibehaltung und Stärkung eines bürgerlichen Staatsapparates und eines bürgerlichen Staates ab - wenn auch mit größerer Unabhängigkeit von der imperialistischen Bourgeoisie.

Aber unterstellen wir einmal, der Sozialismus hätte zur Abstimmung gestanden. So folgt daraus, dass Chávez zweitens davon ausgeht, dass der „Sozialismus“, d.h. über eine Abstimmung, über einen rein konstitutionellen Reformweg eingeführt werden könne.

Es gibt keinen Grund dafür anzunehmen, dass in Venezuela ein parlamentarischer Weg zum Sozialismus führen könne oder dass ein bürgerlicher Staat, der mit einigen kommunalen Räten aufgefettet wird, eine soziale Umwälzung ermöglicht  und die Macht der herrschenden Klasse brechen könnte. Vielmehr haben die historischen Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts bewiesen, dass dazu die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und die Errichtung eines Staates der Arbeiterklasse notwendig wäre (z.B. Guatemala 1954, Chile 1973).

Bestenfalls ist Chávez Sozialismusvorstellung jedoch reformistisch, auch wenn er mutig genug war und ist, seine Ziele auch gegen die bewaffnete oder putschende Konterrevolution zu verteidigen und dafür die Massen zu mobilisieren.

Aber er hat es in diesen Momenten nicht einfach versäumt, sondern abgelehnt, einschneidende Schritte zur Enteignung der Kapitalistenklasse zu gehen, zur Einführung einer Planwirtschaft, zu Brechung der bürgerlichen Staatsmaschinerie und deren Ersetzung durch die Herrschaft von Arbeiterräten und die Bewaffnung der Klasse.

Wie gesagt, das war keineswegs nur ein „Versäumnis“ von Chávez. Vielmehr spiegelt diese Politik den Klassencharakter des Chavismo wider - seinen bonapartistischen und bürgerlichen Charakter.

Die Frage, ob ein Land „reif“ für den Sozialismus ist, ist keine Frage von Mehrheiten bei einer Volksabstimmung. Es ist die Frage erstens nach der Reife der Entwicklung der Produktivkräfte - und zwar auch nicht nur in einem einzelnen Land, sondern im Weltmaßstab. Der Grund dafür liegt darin, dass eine im eigentlichen Sinn sozialistische Wirtschaft nur international aufgebaut werden kann. In der Epoche des Imperialismus ist die Weltwirtschaft dazu nicht nur reif, sondern gewissermaßen „überreif“. Die kapitalistische Produktionsweise selbst ist zu einem Hindernis für die weitere Entwicklung der Produktionskräfte geworden.

Den Ländern der sog. „Dritten Welt“ ist eine nachholende, unabhängige Entwicklung auf kapitalistischer Basis im Grunde nicht möglich ( von episodischen Ausnahmen einmal abgesehen). Die Überwindung der Abhängigkeit des Landes vom Imperialismus ist daher an die soziale Umwälzung des Landes durch die Arbeiterklasse als führende Klasse geknüpft und an die Internationalisierung der Revolution - selbst wenn das Proletariat im Land (ähnlich wie in Russland 1917) eine Minderheit der Gesellschaft ist.

Die Frage der „Reife“ ist daher nicht eine Reife des „Volkes“, sondern v.a. eine Frage der Reife des Proletariats, die anderen nicht ausbeutenden Klassen des „Volkes“ zu einer sozialistischen Revolution und zu einer sozialistischen Reorganisation der Gesellschaft insgesamt zu führen.

Für Chávez und den Chavismo ersetzt das Volk die Arbeiterklasse als eigentliches Subjekt der Revolution. Damit ist jedoch verbunden, dass die einzige konsequent revolutionäre Klasse letztlich im Interesse des „Volkes“, also eines idealisierten Ausdrucks eines Gesamtinteresses antagonistischer Klassen untergeht.

Das venezolanische Volk besteht - wie jedes Volk oder jeder Nation der Welt - aus herrschender und beherrschter Klasse sowie aus Mittelklasse (Bauernschaft, städtischem Kleinbürgertum) und Mittelschichten.

Im Populismus von Chávez werden diese gegensätzlichen Interessen gegen einen gemeinsamen Feind - den US-Imperialismus - gebündelt und zu einem venezolanischen „nationalen“ Gesamtinteresse kombiniert. Zweifellos sind darin plebejische und auch proletarische Elemente enthalten, weil der Bolivarismus selbst aus revolutionären Kämpfen und Entwicklungen hervorgegangen ist.

Sein Klassencharakter ist jedoch bürgerlich, weil er die Verteidigung - wenn auch modifizierter - bürgerlicher Verhältnisse zum Ziel hat. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass große Teile der Kapitalistenklassen, selbst wenn ihre Geschäfte unter Chávez gut florieren, ein Bündnis mit dem US-Imperialismus dem Bolivarismus vorziehen. Diese Tatsache verdeutlicht vielmehr den utopischen und anti-proletarischen Charakter dieser Ideologie.

Reif für den Sozialismus wird Venezuela, wenn die Arbeiterklasse sich zur führenden Klasse der Revolution erhebt, wenn sie die venezolanische Revolution zu einer proletarischen, zu einem Fanal der permanenten Revolution in Lateinamerika, zu sozialistischen Weltrevolution macht.

Daher gibt es ob der Niederlage im Referendum auch keinen Grund zum Verzagen oder die „Unreife“ des Volkes als Begründung zu nehmen, den Sozialismus vorerst ad acta zu legen. Die Lehre muss vielmehr lauten, dass die Arbeiterklasse - und das heißt v.a. ihre Avantgarde - aufhören muss,  ihre Rolle darin zu sehen, radikaler Fußtrupp der Revolution zu sein, und zu deren Führerin werden muss.

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Nr. 126, Jan./Feb. 2008
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