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Venezuela

Eine sozialistische Partei?

Interview mit Rico Rodriguez (Arbeitermacht), Neue Internationale 124, Oktober 2007

Nach dem überwältigenden Wahlerfolg im Dezember hat Venezuelas Präsident Hugo Chavez eine Kampagne zur Gründung einer neuen Partei, der „Vereinigten Sozialistischen Partei Venezualas“ (PSUV), gestartet.

Seit März 2007 haben sich 5,7 Millionen für diese Partei registrieren lassen und 18.000 Ortsgruppen gebildet. Chavez hat dazu auch die Parteien der Linken (KP, Podemos u.a.) aufgefordert, seiner Partei einzutreten und dazu deren Auflösung verlangt.

Das allein schon verdeutlicht den widersprüchlichen Charakter dieser Parteibildung.

Einerseits drückt sie ein Bedürfnis der Massen nach einer „Partei der Revolution“ aus, andererseits das Bedürfnis des Regimes von Chavez, seine eigene Machtbasis für zukünftige Konfrontationen mit dem Imperialismus, aber auch zur Kontrolle der Arbeiterbewegung und der Massen zu erweitern.

Daher auch die Forderung nach Auflösung aller Parteien in die PSUV. Eine solche Forderung muss von KommunistInnen und von der Arbeiterbewegung insgesamt bekämpft werden, weil diese Vorgangsweise bedeutet, die offene und demokratische Diskussion um den Charakter, um das Programm und das innere Regime der PSUV einzuschränken. Zugleich wird damit auch einem undemokratischen Fraktionsverbot der Weg geebnet.

Es wäre aber fatal, deshalb an der Formierung der PSUV nicht teilzunehmen und sektiererisch im Abseits zu stehen - zumal eine revolutionäre Massenpartei der Arbeiterklasse in Venezuela heute nicht existiert und der Kampf um ein revolutionäres Programm eben auch unter den 5,7 Millionen, die sich der PSUV angeschlossen haben, geführt werden muss.

Im Folgenden veröffentlichen wir ein Interview mit Rico Rodriguez, einem Aktivisten der Gruppe Arbeitermacht, der im August zwei Wochen in Venezuela weilte.

Wie beurteilst du die aktuelle Situation in Venezuela?

Antwort (A): Die Situation ist natürlich sehr spannend. Ich denke, dass sich die Lage insgesamt zuspitzt. Der Aufruf von Chávez zur Gründung einer „Einheitspartei“ hat viel Bewegung in die Bevölkerung als auch in die Gewerkschaftsbewegung gebracht. Die Regierung Chávez verstrickt sich immer stärker in offensichtliche Widersprüche. Auf der einen Seite kündigt Chávez die Verstaatlichung aller „strategischen Bereiche“ an und redet vom Sozialismus, auf der anderen Seite entschädigt er die transnationalen Konzerne großzügig, lässt viele Bereiche, wie z.B. das Bankwesen, unangetastet und versichert den Kapitalisten immer wieder, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unangetastet bleibt.

Diese Ambivalenz zeigt sich auch in der Bevölkerung. Auf der einen Seite halten breite Teile der Bevölkerung weiterhin fest zu Chávez und Millionen wollen der neuen Partei beitreten, auf der anderen Seite gerät die Regierung in Konflikt mit der klassenkämpferischen Gewerkschaftsbewegung.

Kannst du die Widersprüche der Regierung genauer erläutern?

A: Insgesamt kann man feststellen, dass Chávez zwar viele Konzessionen an ärmere Bevölkerungsschichten gemacht hat, aber eher wenige an die organisierte Arbeiterbewegung. Diese hat mit der Gründung der UNT (Unión Nacional de Trabajadores) 2003 ein Instrument geschaffen, das seitdem um die Unabhängigkeit von der Regierung kämpft. Die ArbeiterInnen in Venezuela haben ein hohes Klassenbewusstsein entwickelt, und sie beginnen sich zu fragen: „Wenn unser Präsident ständig von Sozialismus und dem Ende der Ausbeutung redet, warum bekommen wir dann so wenig davon?“

Die Regierung verstrickt sich in Konflikte mit der Arbeiterbewegung. So warten die ArbeiterInnen der PDVSA, der größten Ölgesellschaft des Landes, seit einem Jahr auf den Abschluss eines neuen Tarifvertrags. Die Geschäftsführung (direkt von Chávez eingesetzt und ihm unterstellt) weigerte sich lange Zeit zu verhandeln, und das Arbeitsministerium schaltete sich nicht ein. Nach etlichen Aktionen, Petitionen und Demonstrationen verhandelt die Geschäftsführung nun. Aber ihr erstes Angebot ist ein Affront, weil es dem Angebot eines kapitalistischen Unternehmens in nichts nachsteht und einen höheren Anteil der ArbeiterInnen am gestiegenen Ölpreis nicht anerkennt.

Die ArbeiterInnen fragen sich: „Warum verhält sich die Regierung so, wenn sie doch auf unserer Seite steht?“

Ein anderes Beispiel ist der Fall von „Sanitarios Maracay“, eine der Firmen, die von den ArbeiterInnen besetzt sind, und die einzige, die jemals unter wirklicher Arbeiterkontrolle produziert hat. Die Regierung hat die KollegInnen nicht unterstützt, sondern sich geweigert, ihrer Forderung der Enteignung nachzukommen und sie stattdessen aufgerufen, im „rechtlichen Rahmen“ zu bleiben.

Außerdem werden keine Aufträge der Regierung an diese Firma vergeben, sondern an andere Firmen, die unter herkömmlichen kapitalistischen Verhältnissen produzieren. Anfang August streikten die ArbeiterInnen von Toyota in Cumaná, weil die Geschäftsleitung sich seit Monaten weigert, über die Löhne zu verhandeln und die steigende Anzahl von Arbeitsunfällen zu kommentieren. Nachdem der regionale Arbeitsminister des Bundesstaates nicht einschreiten wollte, wendete sich die Gewerkschaft an Arbeitsminister José Rivero, worauf dieser sofort erklärte, die ArbeiterInnen sollen wieder zurück an die Arbeit gehen und sich an die „ordentlichen Regeln“ halten.

Wie reagiert die UNT?

A: In der UNT spielt die Frage der Unabhängigkeit von der Regierung eine große Rolle. Es gibt mehrere Strömungen in der UNT. Man kann sagen, dass auf der einen Seite diejenigen stehen, die sich an die Regierung anlehnen wollen; auf der anderen Seite jene, die die vollständige Unabhängigkeit bewahren wollen. Der erste Flügel sammelt sich vor allem um die FSBT (Fuerza Socialista Bolivariana de los Trabajadores), der Gewerkschaftsflügel von Chávez´ MVR, der zweite um die C-CURA (Corriente Clasista Unitaria Revolucionaria Autónoma), die klassenkämpferische Strömung innerhalb der UNT.

Chávez hat im März erklärt, dass mit der Gründung der neuen Partei die Gewerkschaften nicht mehr unabhängig sein könnten.

Die „Chavistas“ versuchen, jegliche Kritik an der Regierung zu denunzieren, weil sie gegen die Revolution gerichtet sei - auch, um so von den Diskussionen um die Arbeitskämpfe abzulenken. Oswaldo Vera, der offizielle Vertreter der FSBT in der UNT, hat im August in einem Interview erklärt, dass die UNT nicht die Arbeiterklasse repräsentieren würde, obwohl die UNT von den GewerkschafterInnen und ArbeiterInnen mehrheitlich als ihre größte Errungenschaft gesehen wird und heute die Mehrzahl aller Gewerkschaften in Venezuela organisiert. Somit gibt es eine große Spannung innerhalb der UNT. Die C-CURA fordert einen nationalen Kongress und Wahlen zu einer nationalen Koordination, weil die UNT auf nationaler Ebene praktisch nicht funktioniert. Die „Chavistas“ verwehren sich den Wahlen mit dem Argument, man müsse sich erst sich darauf konzentrieren, für die Verfassungsreform von Präsident Chávez zu werben.

Was kannst du uns über die neue Partei, die PSUV, sagen?

A: Die PRS (Partido Revolución y Socialismo) hat sich über dieser Frage gespalten. Ein Teil ist in die PSUV gegangen, ein Teil ist draußen geblieben. Der Spaltung liegen zwei unterschiedliche Einschätzungen zugrunde. Die Fraktion, die in die PSUV eingetreten ist, ist der Meinung, dass sich der Konflikt der Regierung Chávez mit dem Imperialismus zuspitzt, während die andere Fraktion die Ansicht vertritt, die Regierung arrangiert sich mehr und mehr sowohl mit dem Imperialismus als auch mit der nationalen Bourgeoisie.

Über die PSUV kann man sagen, dass sich nach dem Aufruf über 6 Millionen (!) Menschen eingeschrieben haben. Wirklich teilgenommen am Aufbau der Partei haben bis jetzt etwas über eine Million, was natürlich immer noch außerordentlich viel ist.

Insgesamt zeigt die Regierung Chávez beim Aufbau der Partei allerdings sehr bürokratische Tendenzen. So hat der „Commandante“ selbst klargestellt, dass die neue Partei „keine marxistisch-leninistische Partei“ wird, und dass die Arbeiterklasse nicht mehr das Subjekt der Revolution sei (laut Chavez eine „veraltete Ansicht“).

Die Partei hat noch kein Statut, geschweige denn ein Programm, aber es wurde bereits ein „Disziplinarkomitee“ eingesetzt, das schon die ersten Vertreter der PSUV öffentlich getadelt hat. Strömungen oder Tendenzen kann es in der neuen Partei nicht geben. Alle linken Parteien sind aufgerufen, sich aufzulösen und der PSUV beizutreten.

Trotzdem stößt das Projekt in der Bevölkerung noch auf breite Zustimmung und viele Menschen, die zum ersten Mal politisch aktiv werden, strömen in die neue Partei. Jedoch sollte man auch erwähnen, dass z.B. allen Angestellten im öffentlichen Dienst von oben diskret „angeraten“ wurde, der neuen Partei beizutreten.

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Nr. 124, Oktober 2007
*  Soziale Lage: Die Massen zahlen drauf
*  Afghanistan-Einsatz: Deutschen Imperialismus stoppen!
*  Entgeltrahmenabkommen: ERA, Preis, Profit
*  Anti-kapitalistische Linke: Schönredner der Linkspartei
*  Hessen: Alle lieben Willi
*  Heile Welt
*  90 Jahre Oktoberrevolution: Lehren eines Sieges
*  Pakistan: Regime in Krise
*  Venezuela: Eine sozialistische Partei?
*  BKA-Gesetz: Schäubles FBI verhindern!