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Irak-Verfassung

Nein zur Farce des Imperialismus!

Jeremy Dewar, Neue Internationale 104, Oktober 2005

Die letzte Frist für die irakische Übergangsregierung zu einem gemeinsamen Verfassungsentwurf ist verstrichen. Nun wird darüber am 15.Oktober durch die WählerInnen entschieden.

George W. Bush hatte versucht, eine Übereinkunft zwischen den sunnitischen und schiitischen Fraktionen über eine Verfassung zu erreichen - und ist gescheitert. Der führende Vertreter der Sunniten, Soha Allawi, sagte: „Wir werden eine Kampagne unter der sunnitischen und schiitischen Bevölkerung führen, um die Verfassung abzulehnen, die Elemente enthält, die zum Auseinanderbrechen des Irak und zum Bürgerkrieg führen.“ Inzwischen hat auch sein schiitischer Gegenspieler Jalal-al-Din Saghir in dieselbe Kerbe gehauen: „Die einzige Möglichkeit zum Wandel ist jetzt, dass die Sunniten Föderalisten werden.“

Bush hatte aus der Ferne ein Ultimatum gestellt: „Die Sunniten haben die Wahl: wollen sie in einer freien Gesellschaft leben oder unter gewalttätigen Umständen ?“ Nachdem er die „Freiheit“ in Form der Verfassung verworfen hat, bereitet Bush nun noch mehr Gewalt vor. Er erhöht die US-Truppenstärke im Irak von 138.000 auf 160.000 und ersetzt die kriegsmüden Nationalgardisten - 42 von ihnen wurden allein in den ersten drei Augustwochen getötet -  durch die berüchtigte 101.Luftlandedivision.

Die US-Armee hat die Belagerung und die Bombardierung der Städte im Mittel- und Westirak wieder aufgenommen. Berichte aus Tel Affar, einer Großstadt mit 500.000 Einwohnern, besagen, dass die Besatzer Schulen und Krankenhäuser bombardiert haben und die Bevölkerung, die nicht geflohen ist, so verängstigt ist, dass sie sich nicht aus ihren Behausungen traut. So wie Faludscha im vergangenen November zerstört wurde, damit die US-gestylte Demokratie Einzug halten kann, sollen nun andere Städte für die Abstimmung über die Verfassung gefügig gemacht werden.

Die Angriffe folgen einem bestimmten Muster. Im vergangenen Juni griffen in der Operation „Speer“ 1.000 Marinesoldaten unterstützt von Kampfbombern Al-Qaem und Kerbila an. Damals begannen die Aufständischen, offen zu rekrutieren, die Sozialversorgung zu organisieren und sogar Steuern im benachbarten Haditha, Hiet und Ramadi zu erheben. Die Briten und US-Amerikaner verlegten ihre Truppen, um die Aufständischen anzugreifen. Doch innerhalb weniger Wochen waren Al-Qaem und Kerbila erneut unter Kontrolle des Widerstandes.

Die Taktik des Widerstandes war wirksam. In der Provinz Anbar wurde Anfang August jeden Tag ein Marinesoldat getötet. Die ständigen Verluste demoralisieren die US-Besatzer und tragen zum Stimmungsumschwung für einen Truppenabzug in der amerikanischen Öffentlichkeit bei.

Im Juli kündigte der US-General George Casey noch eine erhebliche Verringerung der Truppenstärke bis Sommer 2006 an. Natürlich meinte er damit nicht den vollständigen Abzug. Die USA richten 14 Militärstützpunkte, darunter ihren größten Auslandsstützpunkt und vier Flugplätze im Irak ein. Nun  schätzt General Peeter Schoomaker das Truppenaufkommen im Irak für die nächsten vier Jahre auf  100.000.

Verkehrsminister Salam al-Malaiki, ein enger Vertrauter des radikalen Schiiten-Führers Moqtada al-Sadr, hat als erster Minister der provisorischen Regierung die US-Truppen der „Korruption, des Terrors … und der Besatzung, die täglich das Leben von irakischen Bürgern fordert“ verurteilt. Die USA, fügte er hinzu, hat die Macht im Irak entlang religiöser, ethnischer und Sektenlinien geteilt und „diese Teilung war ein Faktor, der zu dieser Zerstörung geführt hat.“

Die jüngsten Ereignisse in Basra - die Erstürmung einer Polizeistation und die Ermordung irakischer Polizisten durch britische Besatzer - zeigen nicht nur, wie brutal und selbstherrlich die imperialistische Soldateska mit ihren staatlichen irakischen „Verbündeten“ umgeht. Der Vorfall erhellt zugleich, wie eng die Verbindungen der irakischen Staatsorgane mit dem Widerstand ist. Bei der Befreiung der von irakischen Polizisten festgenommenen britischen „Spionen“ stellte sich heraus, dass deren Bewachung irakischen Widerständlern übergeben worden war. Von einer zuverlässigen oder gar vertrauensvollen Zusammenarbeit des irakischen Staates mit den Besatzern kann also keine Rede sein!

Entwicklung der letzten Monate

Was hat sich in den letzten Monaten verändert? Die Vertretung der Sunniten hat gemeinsam mit den schiitischen Kräften, die dem Führer der Aufständischen Al-Sadr nahe stehen, den Versicherungen, dass der Verfassungsentwurf die Einheit des Irak nicht gefährde, misstraut.

Westliche Kommentatoren berichten, dass die Uneinigkeit über die Verfassung ihren Grund darin hätte, dass die sunnitischen Araber nicht ihre Macht und Privilegien abgeben wollen und dass Schiiten und Kurden sich gegen sie verbünden würden. Diese Darstellung ist völlig oberflächlich.

98% der Sunniten besaßen unter Saddam weder Macht noch Privilegien. Sie wurden brutal unterdrückt. Außerdem: Warum gibt es so viele Ehen zwischen den beiden moslemischen Hauptrichtungen? Warum beherbergen so viele Ethnien gleichzeitig beide Strömungen, wenn die Sunniten angeblich die Schiiten seit über 30 Jahren beherrschen?

Es stimmt auch nicht, dass die meisten Schiiten den Föderalismus anstreben. Moqtada al-Sadr ist kein isolierter Außenseiter und Al-Sistanis oberster Rat der islamischen Revolution im Irak (Sciri) bzw. die Dawa-Partei sind nur zu Anhängern des Föderalismus geworden, weil sie von US-Repräsentanten eingeschüchtert und durch die Aussicht auf  Teilhabe am Ölreichtum bestochen wurden.

Am 27.August folgten 100.000 Bewohner der verarmten Vorstädte von Sadr-Stadt dem Aufruf von Moqtada Al-Sadr zur Demonstration gegen die Verfassung. In Mittelirak und insbesondere in den Armenbezirken wird der Föderalismus als Trick erkannt, mit dem die Irakis um ihr Öl betrogen und amerikanischen bzw. europäischen Ölkonzernen überlassen werden sollen.

Auch die KurdInnen werden nicht bekommen, was sie wollen. Der Verfassungsentwurf ist kein Schritt vorwärts für das unterdrückte Volk im irakischen Kurdistan. Erstens wird ihm das demokratische Recht auf Selbstbestimmung erneut verwehrt, nicht zuletzt, weil dies den Zorn der KurdInnen gegen den US-Verbündeten und Unterdrücker der KurdInnen Türkei kehren würde.

Zweitens wird ihr autonomer Status praktisch von einer prinzipienlosen Allianz mit dem US-Imperialismus abhängen. Diese Allianz würde nur so lange halten, wie die kurdischen Ölvorräte für die USA und Britanniens interessant sind.

Die kurdischen ArbeiterInnen und Bauern müssen mit ihren nationalistischen Führern brechen und ein Bündnis mit dem anti-imperialistischen irakischen Widerstand eingehen, wenn sie wirklich ihre Selbstbestimmung erlangen wollen. Die Niederlage der Besatzer ist eine Vorbedingung für jede nationale Gruppe im Irak, Freiheit und Selbstbestimmungsrecht zu erreichen.

Aber auch der irakische Widerstand würde den Besatzern in die Hände spielen, falls er das kurdische Recht auf Unabhängigkeit nicht klar unterstützt. Den kurdischen ArbeiterInnen und Bauern sollte vor Augen geführt werden, dass sie nichts zu befürchten, sondern alles zu gewinnen haben, wenn sie sich dem anti-imperialistischen Kampf anschließen. Durch dieses Beispiel kann eine der Säulen für die Besetzung des Irak durch die USA und Britannien zum Einsturz gebracht werden.

Der Föderalismus ist ein klassische Methode des „Teile und herrsche“ und fußt auf ähnlichen konstitutionellen Lösungen, die in jüngster Zeit Bosnien und Nordirland auferlegt worden sind.

Durch die Behandlung von sunnitischen bzw. schiitischen AraberInnen und den KurdInnen als getrennte Einheiten können die Besatzungsmächte sie gegen einander ausspielen, als oberster Schiedsrichter die Fäden ziehen und den Ausgang jedes Streitfalls im Griff haben.

Mittlerweile sind die korruptesten und reaktionärsten Kräfte in jeder Gemeinschaft wie die Badr-Brigaden, die tausende von irakischen Soldaten gefoltert und getötet haben, die an der Seite des Iran von 1990-1998 kämpften, oder die kurdischen Peschmerga-Milizen zu den regulären bewaffneten Organen der Region geworden. Föderalismus ist somit ein Bollwerk gegen das Emporkommen einer revolutionären Arbeiterklasse oder auch nur radikal nationalistischer Politik. ArbeiterInnen, Jugend und Frauen des Irak müssen diesen Betrug ablehnen!

Revolutionäre Arbeiterpartei!

Viele unterstützen die Verfassung trotz ihres Scheiterns noch immer. Die einzige Alternative sei, sagen sie, die Einführung des islamischen Scharia-Rechts, die undemokratische Herrschaft durch das Militär oder ein Bürgerkrieg. Sie verweisen auf Städte wie Haditha, wo das Scharia-Recht eingeführt wurde und darauf, dass der bewaffnete Widerstand niemals die Rechte der Frauen verteidigen oder die Trennung von Moschee und Staat dulden würde.

Aber daran zeigt sich vor allem, dass die Arbeiterklasse noch nicht die Führung im Widerstand gegen die Besetzung übernommen hat. Trotz riesiger Hindernisse - die Arbeitslosigkeit liegt bei 70%, große Teile der Wirtschaft sind privatisiert, die gelben Besatzer-freundlichen Gewerkschaften IFTU werden privilegiert - beginnt die Arbeiterklasse, eigenständige Gewerkschaften aufzubauen und die Besatzer zu bekämpfen. Die irakische Arbeiterklasse muss die Gelegenheit ergreifen und in die vorderste Reihe des Widerstandes aufrücken, sie muss ihre eigene Partei bilden und eigene Kampfmethoden wie Streiks und Besetzungen nutzen.

Gegen die konstitutionelle Verfassungs-Farce muss sie für eine Verfassunggebende Versammlung kämpfen, die unabhängig von den Besatzungsmächten und ihren Verbündeten im irakischen Staatsapparat ist. Alle IrakerInnen über 15 Jahre sollten das Wahlrecht erhalten und diejenigen abberufen und ersetzen dürfen, die nicht die Anschauungen ihrer Wählerschaft vertreten.

Eine solche Versammlung sollte einen landesweiten Plan für den Wiederaufbau des Landes ausarbeiten durch Etablierung gesellschaftlichen Eigentums und Arbeiterkontrolle über die Ölindustrie, Infrastruktur und Banken. Alle Verträge der früheren Regierung sollten für nichtig erklärt und die privatisierten Unternehmen entschädigungslos vergesellschaftet werden. Volle demokratische Rechte sollen allen Gruppen und Minderheiten -  Frauen, Homosexuellen, Schiiten, Sunniten und Christen, Arabern, Kurden, Türken und Syrern - zu Teil werden.

Eine Kampagne für eine solche Versammlung muss jetzt in Gang gesetzt werden. Sonst besteht die Gefahr, dass das Volk für die Konstitution stimmt, weil keine Alternative in Sicht ist oder sie ablehnen, was zur Folge hätte, dass es weitere Scheinwahlen unter US-Vormundschaft im Dezember gibt. Ein sektiererischer Bürgerkrieg, der von reaktionär-nationalistischen Klerikalkräften im Gerangel um das Öl geführt wird, ist dann die düstere Perspektive.

Gewerkschaften wie die Allgemeine Gewerkschaft der Ölbeschäftigten, die im Kampf um Löhne und gegen Privatisierung schon etwas erreicht hat, müssen die Bühne der Politik betreten. Doch die wirtschaftlichen Forderungen der ArbeiterInnen können heute im Irak nur durch einen politischen Kampf um die Macht durchgesetzt werden.

Der Generalstreik zum Sturz der Regierung und Arbeitermilizen zum Sieg über die Besatzer und zur Errichtung einer revolutionären Ordnung sind dabei Schlüsselforderungen. Die Alternative dabei ist klar: Entweder kontrollieren die Imperialisten das Öl mit Hilfe einer neuen herrschenden Klasse unter ihrem Einfluss oder aber die irakische Arbeiterklasse wird dies tun. Einen Mittelweg gibt es nicht!

Nieder mit der Scheinkonstitution!

Für eine revolutionäre Verfassungsgebende Versammlung !

Sofortiger Abzug der imperialistischen Truppen! Sieg dem irakischen Widerstand!

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Nr. 104, Oktober 2005

*  Generalangriff abwehren! Neue Arbeiterpartei erkämpfen!
*  Gewerkschaftslinke: Wann, wenn nicht jetzt?
*  Wofür kämpfen? Generalangriff stoppen!
*  Linkspartei nach der Wahl: Fraktion oder Aktion?
*  Heile Welt
*  Prekäre Arbeit und industrielle Reservearmee: Arm trotz Arbeit
*  BSH-Schließung abgewehrt: Widerstand lohnt sich!
*  Israels Rückzug aus Gaza: Brosamen von Scharon
*  G8-Gipfel 2007: Imperialismus pur!
*  50 Jahre Bundeswehr: Zapfenstreich abpfeifen!
*  Irak-Verfassung: Nein zur Farce des Imperialismus!
*  Verfassungsentwurf im Irak: Frauen und Religion