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Italien

Antidemokratische Verfassungsreform abgelehnt

Marc Lassalle, Infomail 919, 12. Dezember

Die italienischen WählerInnen haben in einer von der Regierung angesetzten Abstimmung Premierminister Matteo Renzis Vorschlag zur Änderung der Verfassung mit beeindruckenden 59 Prozent abgelehnt. Am Abend des 5. Dezember formierte sich eine kleine spontane Demonstration der LehrerInnengewerkschaft von COBAS vor dem Palazzo Chigi, dem Sitz des Premierministers; sie begrüßte mit Beifall den Wahlausgang und rief: „A casa“ („Geh nach Haus“).

Ziel des Referendums war der Regierung zufolge die Vereinfachung und Erleichterung von Gesetzgebungsverfahren. Die Hauptänderung hätte in der Abschaffung des italienischen Zweikammernsystems bestanden. Die beiden Häuser, die Abgeordnetenkammer und der Senat, haben ursächlich gleiche Anteile und Befugnisse. Jedes Gesetz muss von beiden gebilligt werden, ehe es in Kraft treten kann. Dies zieht den Prozess der Einführung neuer Gesetze doch ziemlich in die Länge und unterwirft ihn parlamentarischer Vielrednerei.

Nachdem zwei größere Reformen durchgedrückt worden waren, das Gesetz zur Öffnung des Arbeitsmarkts und das Gesetz zur Reform des Bildungssystems, glaubte sich Renzi in der Zuversicht gestärkt, nun den letzten Schritt beim „rottamazione“ (Schreddern) des italienischen politischen Systems zurücklegen zu können. Die Reform hätte nicht nur die Gesetzgebungsverfahren verändert, sondern auch die Beseitigung der alten Parteien und führenden politischen Figuren gebracht. In der vorgeschlagenen neuen Verfassung wäre nur der Abgeordnetenkammer das gesetzgeberische Recht vorbehalten gewesen, während der Senat, der von regionalen Körperschaften und BürgermeisterInnen gewählt wird, lediglich zum beratende Organ herabgestuft wäre. Dank der Mehrheitsoption, wodurch der Partei mit den meisten WählerInnenstimmen eine Parlamentsmehrheit gesichert ist, war Renzi in der Lage, die neue Verfassung nach seinen eigenen Vorstellungen zurechtzuschneiden. Er war in der Tat so zuversichtlich, das Vorhaben durchzubringen, dass er schon Anfang 2016 seinen Rücktritt für den Fall einer Ablehnung bei der Volksabstimmung versprach.

Doch das politische Establishment wehrte sich. Praktisch alle Parteien von rechts (Fratelli d’Italia, Lega Nord), die Populisten um Berlusconi und Grillo (5 Sterne) bis nach links (was davon noch übrig geblieben ist) sowie die größte Gewerkschaft CGIL und mehrere SpitzenpolitikerInnen aus Renzis eigener Partei Partito Democratico verbündeten sich gegen Renzi. Der Wahlausgang war dann keine Überraschung mehr. Während die meisten dieser Parteien sich aus selbstsüchtigen Motiven gegen das Referendum stellten, zur Hauptsache, um Renzi loszuwerden und ihre Privilegien zu behalten, drückte der Massenhang für die Neinstimmen ein allgemeines breites Unbehagen mit der Regierung aus.

Schwäche der Linken und Aufstieg des rechten Populismus

Seit Amtsantritt hat Renzi die Politik früherer Regierungen fortgesetzt und hat der ArbeiterInnenklasse neue Opfer und Reformen aufgebürdet. Mit dem neuen Arbeitsmarktgesetz zerstörte er bspw. eine große Errungenschaft der italienischen ArbeiterInnen, v. a. den Artikel 18 des Arbeitsstatuts (Arbeitsmarktregulierungsgesetz), in dem die Wiedereinstellung von ArbeiterInnen vorgesehen war, die gesetzeswidrig entlassen worden waren (falls das von besonderen RichterInnen so entschieden wurde). Heute können Arbeitskräfte nur noch begrenzte Abfindungen bekommen. Diese Reform wurde natürlich von den Bossen, Banken und EU-FunktionärInnen begrüßt, da sie den KapitalistInnen gestatten würde, der ArbeiterInnenklasse ihren Willen fast ungehindert aufzuzwingen. Renzi behauptete, dass die Erleichterung von Entlassungen auch Neueinstellungen problemloser machen würde. Doch nun können junge ArbeiterInnen, die „unbefristet“ eingestellt wurden, jederzeit und aus beliebigen Gründen entlassen werden. Die Reform hat nur die prekären Verhältnisse gesteigert. Italien hat weiterhin eine dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit, besonders in den südlichen Regionen und unter der Jugend.

Die italienische Linke war nicht imstande, Renzi einen ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen. Anfänglich wurde er sogar von Teilen der ArbeiterInnenklasse und den Gewerkschaften unterstützt. Die Linke ist immer noch schockiert von der verheerenden Beteiligung der Rifondazione Comunista an der unternehmerfreundlichen Prodi-Regierung 2006-2008 und hat sich davon bis heute nicht erholt. Stattdessen agiert ein neuer Schauspieler auf der politischen Bühne, die 5 Sterne-Bewegung Cinque Stelle (CS), eine kleinbürgerlich populistische Bewegung, die geschaffen und geführt wird von Beppe Grillo, einem Komödianten. Die Ideologie dieser Partei beruht auf der totalen Ablehnung des etablierten Parteiensystems und des BerufspolitikerInnentums, das sie als politische Kaste bezeichnet.

Sicherlich ist das italienische politische System äußerst ineffizient und korrupt. Mehrere Minister der Renzi-Regierung mussten wegen Verstrickung in Korruptionsaffären und Begünstigung von Freunden und Verwandten ihren Hut nehmen, nicht zuletzt wurde gerade in diesem Land der Begriff „Vetternwirtschaft“ geprägt. Gegen mehr als 500 Landräte wird wegen Korruptionsverdacht ermittelt. Diese Skandale sind weit verbreitet, und praktisch jeder Winkel Italiens ist davon betroffen, v. a. die Lombardei, Piemont, Kampanien, Apulien u. a. In einen der jüngsten Skandale war die gesamte Stadtverwaltung von Rom verwickelt, die einen enormen Schuldenberg von 13 Milliarden Euro aufgehäuft hat, zugleich aber sich völlig unfähig stellte, die elementarsten öffentlichen Dienstleistungen wie Verkehr, Straßeninstandhaltung und Müllabfuhr zu gewährleisten. Vor zehn Jahren war 5 Sterne nicht einmal eine Partei, sondern lediglich eine systemkritische Show von Grillo. Gegenwärtig hingegen führt CS zwei Großstädte, Rom und Turin, und hat bei den letzten landesweiten Parlamentswahlen 2013 25 % erreicht.

Obwohl die CS enttäuschte ArbeiterInnen und ehedem linke AktivistInnen angezogen hat, ist sie keine ArbeiterInnenpartei, sie kennzeichnet sich selber nicht einmal in irgendeiner Weise als linke Partei. Sie wird fast wie eine Sekte völlig zentralisiert von Beppe Grillo und einem engsten Zirkel um ihn herum geleitet trotz allen Geredes über digitale Demokratie. Mit einigen Positionen wie zum Umweltschutz oder zur staatlichen Mindestbeihilfe für jede Person ähnelt 5 Sterne einer fortschrittlichen Partei, in anderen Belangen wie ihrer MigrantInnen- und Gewerkschaftsfeindlichkeit zeigt CS ein reaktionäres Gesicht. Die Partei repräsentiert einige Schichten des Kleinbürgertums und der KleinkapitalistInnen, von daher nimmt es nicht Wunder, dass sie sich im Europaparlament in Nachbarschaft der britischen rechtspopulistischen UKIP platziert.

Reaktionäres Ziel der „Reform“

Viele italienische ArbeiterInnen und einige linke Parteien und Gruppierungen haben mit Nein gestimmt, um Renzi loszuwerden und die Verfassung zu verteidigen. Es gibt die weitverbreitete Auffassung, dass die Verfassung von 1948 einen gewissen Schutz gegen die Schandtaten des Kapitalismus bietet, und sie wird als historische Errungenschaft der ArbeiterInnenklasse betrachtet. Sie enthält in der Tat einige fortschrittliche Aspekte, die unter dem Druck der italienischen KP eingeschrieben worden sind, wie z. B. das volle Verhältniswahlrechtssystem, das Wahlrecht für Frauen und natürlich die Abschaffung der Monarchie. Dennoch war und bleibt sie eine bürgerliche Verfassung. Das Zweikammernsystem wurde als Teil eines Gefüges aus Kontrolle und Gleichgewicht inkorporiert, um zu sichern, dass eine linke Regierung keine raschen Veränderungen zu Gunsten der ArbeiterInnenklasse einleiten konnte. Trotzdem war es richtig, sich in der Volksabstimmung gegen Renzis Reform zu stellen, weil die vorgeschlagenen Änderungen die WählerInnenschaft ihrer geringen demokratischen Kontrolle wie z. B. durch den Senat beraubt hätte, denn der wird noch direkt und nach Verhältniswahlrecht gewählt. Es überrascht nicht, dass diese Reform von den meisten kapitalistischen Medien, den Banken, den internationalen Finanzinstitutionen, von Obama, Merkel und anderen RegierungschefInnen unterstützt wurde.

2013 hat das Bankenkonsortium J.P. Morgan einen Wegweiser veröffentlicht, dem eine klare politische Landkarte für europäische Verfassungsänderungen zugrunde liegt.

„Die politischen Systeme in Randlage (der EU) wurden nach einer Zeit der Diktatur errichtet und waren durch diese Erfahrung geprägt. Verfassungen zeigen tendenziell einen starken sozialistischen Einfluss und spiegeln die politische Stärke wider, die linke Parteien nach der Niederlage des Faschismus erlangt hatten. Politische Systeme entlang den Rändern zeigen in typischer Wische mehrere folgende Merkmale: schwache Exekutiven; schwache Zentralstaaten im Verhältnis zu Regionen; verfassungsmäßigen Schutz von Arbeitsrechten; Systeme der Konsensbildung, die politische Seilschaften nähren (sic!); und das Recht auf Widerspruch, wenn unwillkommene Änderungen am bestehenden politischen Zustand vorgenommen werden“.

„Die Mängel dieses politischen Erbes sind durch die Krise aufgedeckt worden. Länder entlang der Peripherie haben nur teilweise mit Erfolg steuerliche und wirtschaftliche Reformagenden umgesetzt. Regierungen wurden von Verfassungen behindert (Portugal), durch starke Regionen (Spanien) und den Aufstieg populistischer Parteien (Italien und Griechenland).“

Wenige Zeilen danach sagte die Veröffentlichung hellseherisch voraus: „Die Hauptprüfung in den kommenden Jahren wird in Italien vonstattengehen, wo die neue Regierung die Gelegenheit hat, sich für bedeutsame politische Reformen stark zu machen.“ (Die Anpassung der Euro-Zone: auf halbem Weg dorthin; 2013)

Heute ist Italien und insbesondere das italienische Bankensystem eines der schwächsten Kettenglieder des europäischen Finanzkapitals. Hintergrund der Verfassungsänderung sind die 360 Milliarden faulen Schulden auf den Bankkonten, die aus der Finanzkrise 2007-2008 herrühren, umgerechnet 20 % von Italiens Bruttosozialprodukt, ebenso wie die riesige Staatsschuldenlast, die das BIP um 33 Prozent übertrifft. Mehrere Großbanken wie die Banco Monte dei Paschi di Siena stehen kurz vor dem Bankrott. Dies stellt die gesamte Europäische Union als System in Frage, da das Gewicht der italienischen Wirtschaft und deren Schulden ihnen auf europäischer Ebene viel mehr Bedeutung verleihen als im Fall Griechenlands oder Portugals.

Worin besteht nun der Zusammenhang mit der Verfassungsänderung? Eine starke Regierung würde eine Lösung der Bankenprobleme ermöglichen, indem sie die ArbeiterInnen dafür zahlen lässt, entweder durch mehr Austerität, mehr Privatisierungen, durch die Umwandlung der faulen Gelder der Banken in Staatsschulden oder durch eine Kombination aus allem. Eine stärkere Regierung würde die Möglichkeit haben, all dies durchzusetzen, ohne groß fürchten zu müssen, bei Wahlen dafür abgestraft zu werden. Deswegen macht sich der gesamte Finanzsektor der EU um die Perspektiven aktuelle Sorgen.

Das Resultat des Referendums wird stattdessen eine neue Periode von schwachen und instabilen Regierungen eröffnen. Möglicherweise werden sogar die 5 Sterne die nächsten Parlamentswahlen gewinnen. Renzis Niederlage und sein Rücktritt bedeuten jedoch nicht, dass die ArbeiterInnenklasse befreit von erneuten Angriffen aufatmen kann. Wie das Beispiel Griechenland lehrt, werden die Finanzmächte ihren Willen durchsetzen und den Lohnabhängigen „Strukturreformen“ auferlegen, solange die Klasse nur in den Grenzen und mit den beschränkten Mitteln der bürgerlichen Demokratie dagegen kämpft.

Die italienischen ArbeiterInnen müssen sich auf den Straßen und in den Betrieben gegen die neue Welle von Kürzungsprogrammen, arbeiterInnenfeindlichen „Reformen“ oder, was immer bürgerlichen Regierungen einfällt, organisieren. CS verkörpert keine Lösung, und sie kann sich durchaus von einer populistischen zu einer ausgesprochen reaktionären arbeiterInnen- und migrantInnenfeindlichen Bewegung entwickeln. Die italienischen ArbeiterInnen müssen sich organisieren und eine andere Lösung der drohenden Krise des Banken- und Wirtschaftssystems herbeiführen, indem sie die Bourgeoisie für die Krise ihres Systems bezahlen lassen.

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Nr. 215, Dez. 16/Jan. 17

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