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Ausbildung und Uni

Jugend ohne Zukunft

Martin Suchanek, Neue Internationale 81, Juni 2003

Die Mär vom Arbeitswilligen, der, so er wirklich willig, immer auch einen Job oder Ausbildungsplatz findet, wird oft strapaziert. Dabei vergeht kein Jahr, in dem nicht eine stetig größer werdende "Ausbildungslücke" - die Differenz zwischen den offerierten Lehrstellen und der Anzahl der Lehrstellensuchenden - beklagt wird.

Im April 2003 waren lt. Arbeitsamt bundesweit 565.588 BewerberInnen gemeldet. Davon waren 325.735 nicht vermittelt. Kein Wunder, wurden doch nur 404.615 betriebliche Ausbildungsplätze offeriert, von denen 164.446 nicht besetzt waren. Selbst wenn man den Jugendlichen zumuten würde, die 164.446 Stellen unabhängig von Berufswunsch, Eignung, Ausbildungs- und Wohnort zu besetzen, hätten in jedem Fall 160.973 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz. Regional betrachtet ist diese Situation noch prekärer. In den neuen Bundesländern (inkl. Berlin) mussten 169.880 BewerberInnen um 53.800 betriebliche Ausbildungsplätze konkurrieren.

Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze sinkt seit Jahren kontinuierlich (siehe Grafik). Nur eine Ausweitung von staatlich oder halb-staatlich finanzieren Lehrstellen hat überhaupt dazu geführt, dass Arbeitslosigkeit und Billigjobs unter Jugendlichen in den letzten Jahren nicht noch weiter zunahmen. Diese sog. "überbetrieblichen", tw. auch rein schulischen Ausbildungsgänge, die in Ostdeutschland mittlerweile die Mehrzahl aller Lehrstellen ausmachen, sparen den Unternehmern natürlich Kosten. Manche Großunternehmen wie Siemens gehen dazu über, in diesen "zweiten Ausbildungsmarkt" einzusteigen, indem sie neben den betrieblichen Azubis, die vom Betrieb nach IG Metall-Tarifvertrag bezahlt werden, mehr und mehr "Arbeitsamts-Auszubildende" anheuern. Sie haben keinen Ausbildungsvertrag mit der Firma, sondern erhalten z.B. bei Siemens nur ihre Ausbildung - bezahlt vom Arbeitsamt, das Siemens oder ein anderes Unternehmen entschädigt. Die Arbeitsamt-Azubis sind Lehrlinge zweiter Klasse:

Für sie gilt kein Tarifvertrag. Sie erhalten daher weniger Ausbildungsvergütung (rund 50%), teilweise auch überhaupt kein Geld mehr. Die Kosten für die Ausbildung werden dann auf das Sozialamt, die Eltern oder die Jugendlichen abgewälzt, von denen mehr und mehr "neben" der Ausbildung jobben. Außerdem bedeutet das in manchen Branchen, dass die Arbeitszeit länger ist als die der tariflich gesicherten Azubis.
Für sie gibt es keine oder nur eingeschränkte betriebliche Mitbestimmungsrechte, d.h. sie können in der Regel keine Jugendvertretung bilden oder dürfen nicht gewählt werden.
Es gibt kein Recht auf Übernahme, da diese Auszubildenden keinen Ausbildungsvertrag mit einem Unternehmen haben, das sie weiter beschäftigten könnte.

Die Kapitalisten versuchen die Kosten jedoch nicht nur auf diese Art zu drücken. In den letzten Jahren wurde nicht nur im Betrieb und in der Berufsschule gespart. Seit Jahren versuchen die Unternehmerverbände auch verkürzte Ausbildungsgänge für sog. "Minderleister" durchzusetzen, die in ein oder zwei Jahren eine "Schmalspurausbildung" machen sollen, wo alle theoretischen und über den Tellerrand des Ausbildungsbetriebs hinausweisenden Fähigkeiten nicht vermittelt werden. Die Unternehmerverbände und ihre Parteien jammern, dass die ganze Misere an der Krise, an "zu teurer" Ausbildung, zu langen Ausbildungsgängen, zu viel staatlichen Verordnungen und Kontrollen läge. In Wirklichkeit machen sie sich die ganze Misere zu nutze, um die Kosten für berufliche und sonstige Ausbildung auf die Gesellschaft, sprich auf die Masse der Lohnabhängigen abzuwälzen.

Und die Arbeiterbewegung?

Noch bei den Wahlen 1998 hatte die SPD die Einführung der sog. "Umlagefinanzierung" (auch als Ausbildungsplatzabgabe bekannt) versprochen, die seit Jahren von der Gewerkschaftsjugend gefordert wird. Die Grundidee dahinter ist so einfach, dass auch jeder Unternehmervertreter weiß, warum er/sie dagegen ist. Mit einer solchen Abgabe soll die Gesamtheit der Unternehmer gezwungen werden, genug qualifizierte Ausbildungsplätze zu schaffen und zu finanzieren! Wer weniger ausbildet, als es einem bestimmten Mindestanteil der Beschäftigten entspricht, müsste dann in einen Fonds eine "Strafe" einzahlen.

Nach der Bildung der rot-grünen Regierung war von der Umlagefinanzierung wie von so manch anderen Versprechungen nichts mehr zu hören. Das Zauberwort hieß nun, wie schon unter Kohl, "Selbstverpflichtung" der Unternehmen und staatliche Subventionen.

Die Gewerkschaftsspitzen machten bei dem üblen Spiel mit. Im Gegenzug für einige leere Versprechungen stimmten sie im "Bündnis für Arbeit" zu, die Ausbildungslücke "ohne Zwangsmaßnahmen" zu regeln, also jede Entscheidung bei den Kapitalisten zu lassen. Heute mahnen Gewerkschaften und Jugend die Umlage wieder an. Doch die SPD-Spitze macht klar, dass das mit ihr nicht zu machen sei. Wirtschaftsminister Clement macht in der Umlage eine weitere "Konjunkturbremse" aus. Statt dessen soll die Misere auf Kosten der Auszubildenden ganz im Sinne der Unternehmer "gelöst" werden. Kurzausbildungsgänge und Aufhebung von Eignungsprüfungen für die Ausbilder. Ein Hurra auf den Reformer, auf dass in Zukunft auch bei MacDonalds Köche "qualifiziert" ausgebildet werden.

Bildung im Kapitalismus

Ausbildung und Bildung dienen in den diversen dafür vorgesehenen Schulen, Berufsschulen und Universitäten dazu, die Klassen der Gesellschaft zu reproduzieren, nicht zuletzt auch die Arbeiterklasse und die für verschiedene Arbeitskräfte notwendigen Qualifikationen. Vom Standpunkt der einzelnen Kapitalisten gibt es keineswegs ein Interesse an einer ausreichenden beruflichen oder schulischen Ausbildung der gesamten Arbeiterklasse. Für ihn erscheint Ausbildung immer als "zu teuer", "nutzlose" Zusatzkosten für ArbeiterInnen, die noch keinen Profit schaffen. Für das Kapital in seiner Gesamtheit sieht das anders aus. Auch hier besteht zwar ein generelles Interesse, die nächste Generation der Lohnabhängigen so billig wie möglich auszubilden. Aber ein bestimmtes Qualifikationsniveau ist zur Reproduktion des Kapitals notwendig, ja unumgänglich.

Der eigentliche Motor für die ständige Umwälzung der Ausbildung und die Anforderungen an das Ausbildungssystems ist die kapitalistische Akkumulation selbst. Sie führt notwendigerweise zu einer Umwälzung ihrer technischen Basis. Den einzelnen Kapitalisten wird das durch die internationale Konkurrenz aufgezwungen.

In expansiven Phasen des Kapitalismus lässt sich das, zumindest in den stärksten imperialistischen Ländern, noch einigermaßen regeln. In Krisenperioden sieht das anders aus. Mit der sinkenden Nachfrage nach Arbeitskräften sinkt natürlich auch der Bedarf an zusätzlichen ArbeiterInnen. Die Ausbildungskosten erscheinen, abgesehen von einigen Berufen, als unnütz, da es ohnedies schon "zu viele" qualifizierte ArbeiterInnen gäbe. Trotz allem Gerede vom Bedarf an "Zukunftsberufen" können mittlerweile auch viele Computerspezialisten u.ä. ein Lied davon singen, dass ihre Arbeitskraft nicht gebraucht wird.

Das ist ein Resultat der gegenwärtigen Krise und gesunkener Profiterwartungen. Unternehmer stecken immer mehr Kapital in Rationalisierungen, Aufkäufe oder Spekulation, um einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz am härter umkämpften Markt zu erlangen, während wenig Investitionen in die Erweiterung bestehenden Anlagen fließen. Das Kapital reagiert darauf so zynisch, wie logisch: Wer später einen Arbeitsplatz will, soll für die Ausbildung gefälligst selbst zahlen. Das gibt es nicht nur im Bereich der Lehrlingsausbildung. Das trifft auch auf Schule und Hochschule zu. Im Gespräch sind hier u.a.:

Streichung der Lehrmittelfreiheit
Einführung von Studiengebühren und verschärfte Selektion
Anpassung der Lehrinhalte an die Anforderungen des Großkapitals
Umverteilung von Ressourcen zugunsten von Fächern, Berufen, Studien, die vom Kapital gebraucht werden
Reduktion und Verschlechterung des BAFÖG.

Die soziale Lage der Studierenden und SchülerInnen hat sich ebenso wie deren Berufsaussichten verschlechtert. Rund 1,2 Millionen Studierende (also etwa 40%) finanzieren ihr Studium durch regelmäßige, wenn auch schlecht bezahlte und in der Regel nicht tariflich abgesicherte Lohnarbeit ("Jobben"). Während SchülerInnen früher eher nur in den Ferien arbeiteten, bessern viele ihr Taschengeld heute auch durch Jobs während der Schulmonate auf.

Es ist kein Wunder, dass der Anteil von Studierenden aus den schlechter verdienenden Arbeiterfamilien seit Beginn der 1980er Jahre in Deutschland drastisch zurückgegangen ist, während der von gehobenen, arbeiteraristokratischen Schichten leicht anstieg. Immer mehr Jugendliche - egal ob Azubis oder Studierende - sind aufgrund ihrer Einkommenssituation gezwungen, länger bei ihren Eltern zu wohnen.

Die soziale Selektion und die generelle Abwälzung von Bildungs- und Ausbildungskosten sollen nun überhaupt zu einem ganzen System gemacht werden, das nicht nur von Stiftungen der Unternehmer (Bertelsmann) erarbeitet und von FDP und CDU seit einiger Zeit favorisiert wird, sondern für das sich auch die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung und Ministerin Bulmahn erwärmen: die Einführung von "Bildungsgutscheinen".

Die Idee: Die Eltern und Verwandten des Sprösslings kaufen vom Säuglingsalter an Bildungsgutscheine, die je nach Gesamtwert die Kosten des Ausbildungswegs X, der Schule Y oder der Universität Z zahlen. Statt Spielsachen und Süßigkeiten, gibt's von Oma in Zukunft Gutscheine. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! So könne jede/r frei entscheiden, was er oder sie lernen wolle (vorausgesetzt jemand braucht den so Ausgebildeten). Wer sich gegen langen Schulbesuch entscheidet, kann mit seinen Gutscheinen auch noch was anfangen - er spekuliert auf dem Bildungsgutscheinmarkt und macht sie zu harten Euros.

Gegenwehr

Zehntausende SchülerInnen demonstrierten in den letzten Monaten gegen den Krieg und wurden politisch aktiv. Ende Mai fanden in Berlin mehrere Studentendemonstrationen und Aktionen statt, die größte am 21. Mai mit rund 7.000, die sich gegen die Kürzungspläne des Senats und die drohenden Zulassungsbeschränkungen wandten. Gleichzeitig will die Gewerkschaftsjugend den Kampf um Ausbildungsplätze und gegen Jugendarbeitslosigkeit, für die Einführung der Umlagefinanzierung und gegen Schmalspurausbildungsgänge intensivieren.

Diese Aktionen müssen mit den Kämpfen gegen die Agenda 2010 und die IG-Metall Tarifrunde im Osten zusammengeführt werden. Die jungen ArbeiterInnen und Azubis können und müssen eine aktive Rolle in Streiks, bei Demos, Blockaden und Besetzungen spielen. Erwerbslose Jugendliche müssten in eine Kampagne gegen den Lehrstellenmangel durch Protestaktionen vor Betrieben, die nicht ausbilden oder die wie Siemens beim Arbeitsamt abzocken, einbezogen werden.

An den Schulen und Unis sind Protestaktionen bis hin zu Besetzungen und Streiks notwendig.

Nein zur drohenden "Bildungsreform"! Nein zu Bildungsgutscheinen! Nein zur Abwälzungen der Kosten für Ausbildung, Schule und Studium auf die Jugendlichen oder ihre Eltern!
Wiederherstellung der Lehrmittelfreiheit an den Schulen! Bücher und Arbeitsmaterialien müssen frei zugänglich sein!
Überführung aller Ausbildungsverhältnisse in tariflich gesicherte und bezahlte! Einführung der Umlagefinanzierung! Die Kapitalisten, nicht die Arbeiterklasse müssen für die Ausbildung zahlen!
Freier und kostenloser Zugang zu allen Schulen und Universitäten! Weg mit allen Studiengebühren und Zugangsbeschränkungen! Abschaffung des Numerus Clausus!
Verstaatlichung aller privaten Schulen und Hochschulen unter Kontrolle der Gewerkschaften, der Lehrenden und Lernenden! Finanzierung von Schulen und Hochschulen aus Unternehmersteuern!
Alle Jugendlichen, egal ob SchülerInnen, junge ArbeiterInnen, Lehrlinge oder Studierende, müssen genug Einkommen haben, um selbstständig leben zu können - ohne Billigjobs und ohne auf die Eltern angewiesen zu sein: Mindesteinkommen von 1000 Euro für alle!
Kontrolle von Ausbildung, Forschung und Lehre durch Komitees aus Lehrenden, Lernenden und den Gewerkschaften!
Für eine revolutionäre Jugendbewegung!

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Nr. 81, Juni 2003

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*  Berichte von Aktionen: Stimmung gut, Führung mies
*  Heile Welt
*  Österreich: Tschüsserl, Schüsserl!
*  Palästina: Road Map to Peace?
*  Nach dem Irak-Krieg: Fragiler Friede
*  Nach den Wahlen in Argentinien: Sieg der Reaktion?
*  Jugendorganisation REVOLUTION: Control Obrero
*  Ausbildung und Uni: Jugend ohne Zukunft
*  17. Juni 1953: Aufstand der Arbeiter
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