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Nach den Wahlen in Argentinien

Sieg der Reaktion?

Gerald Waidhofer, Neue Internationale 81, Juni 2003

Der neue Präsident Argentiniens - Néstor Kirchner - gewann die Wahlen mit nur 21%. Zwar lag ex-Präsident Menem mit 23% im ersten Wahlgang in Führung, aber nach den vernichtenden Umfragewerten für den vorgesehenen zweiten Wahlgang gab er vor der Stichwahl auf. Ein bereits früher diskreditierter Pro-IWF-Peronist gab damit den Weg für einen ‚unverbrauchten' Peronisten frei.

Wie konnte es nach den massiven Protestbewegungen der letzten Monate zu diesem Wahlerfolg des bürgerlichen Lagers kommen? Das Wahlergebnis ist zunächst ein Sieg für den scheidenden Präsidenten Duhalde, der Kirchner favorisierte. Menem war bei den meisten Leuten wegen seiner Verantwortlichkeit für die gegenwärtige Katastrophe verhasst. Immerhin hat er während seiner beiden Amtszeiten in den 90er Jahren einen gnadenlos neoliberalen Kurs verfolgt. Die argentinische Bourgeoisie steckt aber nach wie vor in einer Führungskrise. Ihre beiden Hauptparteien, die peronistische PJ (Partido justicialista) und die Radikalen sind jeweils in drei Lager gespalten, die mit ebenso vielen Kandidaten zur ersten Runde der Wahlen antraten. Die argentinische Bourgeoisie sieht Kirchner jetzt als genügend legitimiert an, um die nächsten Angriffe auf die Massen zu führen. Kirchners Politik sichert dem IWF die geforderte Gefolgschaft zu. Immerhin hat Argentinien einen Schuldenberg von über 150 Mrd. Dollar abzutragen. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Besserung ist nicht in Sicht.

Die Rolle der Linken

Während sich jetzt die zuvor diskreditierten bürgerlichen Parteien wieder gestärkt sehen und die politische Rechte im ersten Wahlgang insgesamt 63% verbuchen konnte, musste die reformistische und zentristische Linke ein Debakel hinnehmen. Vereinigte Linke IU (Izqierda Unida), ein Block aus MST und KP, sowie Jorge Altamiras PO (Politica Obrera), bekam zusammen nur 500.000 Stimmen, das sind 2,5%. 2001 vereinigte sie noch 800.000 Stimmen auf sich, was damals 8% der gültigen Stimmen entsprach. Die PO verlor etwa 35% an WählerInnen gegenüber damals und fiel auf das Niveau der Präsidentschaftswahlen von 1999 mit ungefähr 0,7% Stimmenanteil zurück.

Einige der linken Parteien stellten diesmal keine KandidatInnen und riefen zum aktiven Wahlboykott auf. Die PTS, PCR, Patria Libre (Barrios de Pie), AyL (Luis Zamorra), MIJD sowie einige Volksversammlungen traten für 'Stimmenthaltung, Weißwählen oder Ungültigmachen der Wahlzettel' ein. Die PTS gab im Rahmen ihrer ‚Einheitsfront gegen die Lüge der Wahlen' u.a. gefälschte Wahlzettel heraus und rief die WählerInnen auf, damit die Wahlurnen zu füllen. Aber am Wahltag wurden nicht einmal 15.000 dieser Zettel benutzt.

Die Taktik des aktiven Boykotts beruhte auf der Annahme, dass als Resultat der revolutionären Krise von 2001 die alten 'Regimeparteien' Peronisten und Radikale völlig abgewirtschaftet hätten. Das drückte sich in der weit verbreiteten Losung "Que se vayan todos" (Sie sollen alle verschwinden) aus, die von allen Volksversammlungen, Arbeitslosenorganisationen und der Arbeitervorhut aufgestellt wurde.

Die Anberaumung der Wahlen durch Präsident Duhalde im Juni 2002 war ein kluger Schachzug, Legitimation für eine Regierung zurück zu gewinnen, die das Vertrauen bei der Masse der Bevölkerung eingebüßt hatte. Daraus zogen Organisationen wie die PTS den Schluss, dass dieser Stimmung am besten durch eine Weigerung, sich an die bürgerlichen Spielregeln bei Wahlen zu halten, Rechnung zu tragen wäre. Die PTS hoffte, durch eine aktive Boykottkampagne den Ausbau der verschiedenen Volksversammlungen, besetzten Fabriken und versprengten örtlichen Coordinadoras als alternativen Pol der politischen Autorität der Regierung entgegensetzen zu können. Das Wahlergebnis verdeutlicht jedoch, dass sie sich damit total verrechnet hatte.

Die Situation in der Arbeiterklasse

60 Jahre lang hat die mafiose peronistische Gewerkschaftsbürokratie die Masse der organisierten ArbeiterInnen an die Peronistische Partei gekettet. Bei diesen Wahlen haben die verschiedenen Gewerkschaftsfürsten unterschiedliche peronistische Kandidaten unterstützt. Seit den revolutionären Tagen im Dezember 2001 krankt die politische Lage hauptsächlich daran, dass die einige 10.000 Kader umfassende Vorhut es nicht vermochte, die mehrere Millionen starke organisierte Arbeiterklasse, v.a. in den beiden Gewerkschaftsverbänden CGT und CTA, in eine Schlacht zur Absetzung der Duhalde-Regierung durch einen unbefristeten Generalstreik hineinzuziehen. Die Gewerkschaftsführer der konkurrierenden CGT-Gewerkschaftsverbände haben dies ausdrücklich verweigert.

Um eine Brücke zwischen dem Bewusstsein der Vorhut und dem der Masse der ArbeiterInnen zu schlagen, war es für die Vorhut notwendig, jede Gelegenheit zur Propagierung des politischen Bruchs mit dem Peronismus und zur Formierung einer Arbeiterpartei zu ergreifen. Im vergangenen Jahr schaffte es Präsident Duhalde vor allem mit Hilfe der CGT-Bürokraten, einen Generalstreik gegen seine Regierung abzuwenden und eine Versöhnung mit dem IWF anzubahnen.

Hilfreich für die letzte Regierung war auch, dass die Massenbewegungen an die Grenzen ihrer spontanen Entwicklung stießen. Das vielfältige Netzwerk von Asambleas (Nachbarschafts- oder Stadtteilversammlungen), welches das ganze Land durchzog, versucht zwar, nach dem weitest gehenden Zusammenbruch des staatlichen Wohlfahrtssystems, die dringlichsten Probleme zu verringern, aber aufgrund der tief sitzenden Abneigung gegenüber einer parteipolitischen Vertretung konnte von hier aus keine Perspektive zu einer Vertretung auf parlamentarischer Ebene geschaffen werden. Inzwischen sind die Asambleas, die sich ohnehin vor allem auf die Mittelschichten stützten, geschrumpft. Wirkliche Machtorgane oder Vorstufen zu Arbeiterräten, wie die PO meinte, waren sie nie.

Als ebenso politisch machtlos erwiesen sich wirtschaftliche Notmaßnahmen wie die Clubs de Treuques, die sich mit zunehmendem Verfall der Wirtschaft entwickelten und im ganzen Land einen wöchentlichen Markt für einen Tauschhandel mit Creditos als eigener Währung organisieren.

Weit beunruhigender für die Bourgeoisie war, dass zahlreiche Fabriken von den ArbeiterInnen besetzt wurden. In solchen Beispielen zeigten die ArbeiterInnen, dass sie die Produktion selbst übernehmen können. Der Ausspruch "Ein Betrieb ohne Arbeiter ist nicht möglich. Ein Betrieb ohne Kapitalisten schon" wurde zum Symbol. Aber die inzwischen erfolgte Räumung der symbolträchtigen Textilfabrik Brukman in Buenos Aires durch die Polizei verweist auch darauf, dass das Kapital die Arbeiterkontrolle über die Produktion nicht hinzunehmen bereit ist.

Revolution oder Reaktion

Die zentrale Aufgabe der Linken während der Wahlen war die Entfachung einer Kampagne für einen Arbeiterpartei-Kandidaten für die Präsidentschaft. Ein solcher Kandidat hätte aus den Reihen der landesweit bekannten VertreterInnen der besetzten Betriebe gewählt werden können. Er hätte auf einer Plattform kandidieren sollen, welche die Kernfragen der revolutionären Tage aufwirft: für einen den Lebensunterhalt sichernden Lohn, für Preiskontrolle durch Asambleas und gewerkschaftliche Basiskomitees, für die Verstaatlichung der Banken und Schlüsselindustrien unter Arbeiterkontrolle, für eine bewaffnete Arbeitermiliz, Freiheit für alle politischen Gefangenen, Streichung aller Auslandsschulden.

Ein Kandidat auf einem revolutionären Aktionsprogramm hätte mindestens die Vorhut in einer gemeinsamen politischen Kampagne vereinen und Hunderttausende von CGT-Mitgliedern von Kirchner im Großraum Buenos Aires wegziehen können, wo er die Hälfte seiner Stimmen erhielt. Eine solche Kampagne hätte mehr bewirken können als die lächerlichen Ergebnisse für Jorge Altamira und seine PO oder die Unwirksamkeit der Boykott-Kampagne. Im nächsten halben Jahr werden Gouverneurswahlen in verschiedenen Provinzen stattfinden. Die Linke muss die Lehren aus den Präsidentschaftswahlen ziehen und eine Kampagne um KandidatInnen einer Arbeiterpartei führen.

Das Regime hat seine Position aus der Zeit vor dem Ausbruch der 'revolutionären Tage' im Dezember 2001 noch nicht umfassend wiedergewinnen können. Es ist seitdem noch nicht gelungen, ein stabiles und durchsetzungsfähiges bürgerliches Regime zu errichten. Aber die Zeit drängt.

Die Masse der organisierten Arbeiterklasse orientiert sich immer noch an den peronistischen Kandidaten. Das ist die Tragödie der Präsidentschaftswahlen. Die Zersetzung der peronistischen Kontrolle über die Arbeiterklasse bleibt das ungelöste Problem für argentinische SozialistInnen. Ohne dessen Lösung wird eine vorrevolutionäre Krise, wie sie Argentinien erlebt hat, nicht in eine Revolution münden. Wenn die Arbeiterklasse diese tiefe gesellschaftliche Krise nicht zu lösen vermag, indem sie die Macht ergreift, wird sie in der Tat unweigerlich durch die Reaktion ‚gelöst' werden.

Die Annahme einiger Linker, die Krise könne noch Jahre andauern, ignoriert, dass die gegenwärtige Situation für die argentinische Bourgeoisie wie für den IWF nicht ewig hinnehmbar ist. Sie ignoriert auch die Tatsache, dass eine Massenbewegung, die sich nicht vorwärts entwickelt, unweigerlich zurückfluten wird. Schließlich können die Massen die Situation von Aktionismus und Verelendung nicht endlos durchhalten.

Für die argentinische Revolution ist es zu einer Überlebensfrage geworden, das Gewicht der Arbeiterklasse in den Vordergrund zu rücken und eine revolutionäre Arbeiterpartei aufzubauen. Diese Partei müsste die kämpferische Gewerkschaftsbasis, die Piqueteros und die AktivistInnen der Asambleas organisieren, mit dem Ziel einer revolutionären Arbeiterregierung, die sich auf ein Rätesystem und Milizen stützt. Jede andere ‚Lösung', die beansprucht, die Notlage in Argentinien zu beheben, ist nicht nur illusorisch, sondern bereitet den Weg für eine reaktionäre Lösung durch die Bourgeoisie.

 

Solidarität mit Zanon!

Die "Liga für die Fünfte Internationale" und die Jugendorganisation REVOLUTION organisieren seit einiger Zeit eine internationale Solidaritätskampagne für die AktivistInnen in Argentinien.

Dabei wurden u.a. über 400 Euro für die besetzten Betriebe gesammelt und überwiesen. Wer uns dabei unterstützen möchte, sollte mit uns in Kontakt treten. Nach der Räumung der besetzten Brukman-Fabrik steht jetzt die seit über einem Jahr besetzte Zanon-Fabrik in der Provinz Neuquen als wesentlicher Streitpunkt fest.

Es handelt sich hierbei nicht nur um die größte Keramikfabrik Lateinamerikas, sondern auch um den Betrieb mit der radikalsten und kampferprobtesten Arbeiterschaft.

Schickt Unterstützungserklärungen an die ArbeiterInnen von Zanon unter ceramistasneuquen@hotmail.com und unterstützt ihren Kampf mit Spenden über unser Spendenkonto mit dem Stichwort ‚Argentinien'.

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Nr. 81, Juni 2003

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