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Die Union und die Sozialreformen

Pest oder Cholera

Jürgen Roth, Neue Internationale 85, November 2003

Die Vorschläge der Herzog-Kommission für radikale Sozialdemontage entzweien die Union, kaum dass die Bundesregierung die Agenda 2010 durchs Parlament gebracht hat. Obwohl die Enttäuschung der sozialdemokratischen WählerInnen von Rot-Grün der Union einen Wahlerfolg nach dem anderen beschert, ist diese von einer Lösung der Führungskrise der BRD-Bourgeoisie noch weit entfernt. Hinter den Kulissen dieses Theaters in der Union stecken tiefer liegende Probleme dieser offen bürgerlichen "Volkspartei".

Ex-Bundespräsident Roman Herzog ("Ein Ruck muss durch Deutschland gehen!") hat am 30.9. in Berlin den Bericht seiner Kommission zur Zukunft der Sozialsysteme vorgelegt, der einen noch radikaleren Systemwechsel (nicht nur) in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) andeutet, als das, was Ulla Schmidt, Rürup, Hartz und Konsorten vorgeschlagen haben.

Neoliberalismus plus

Für die GKV schlägt dieses Gremium den Wechsel vom Umlage- in ein kapitalgedecktes, einkommensunabhängiges Verfahren vor. Zur Entlastung der "Arbeitgeber" sollen deren Krankenkassenbeiträge vom Lohn entkoppelt und bei 6,5 % festgeschrieben werden. Alle Erwerbseinkünfte der Versicherten sollen für die Beiträge herangezogen werden.

Ab 2013 kommt es zu unterschiedlich hohen Prämien - je nach Eintrittsalter. Angeblich sollen ab dann alle den gleichen Monatsbeitrag von 264 € zahlen; auch die Älteren, da zuvor ein Kapitalstock für Rücklagen gebildet worden sein soll. Für Geringverdiener sollen Steuermittel in Höhe von jährlich 27 Mrd. € fließen. Zahnbehandlungen - nicht "nur" Zahnersatz - sollen "ArbeitnehmerInnen" gefälligst allein absichern, dafür soll die Zuständigkeit für Krankengeld auf die "Arbeitgeber" überwechseln.

In diesem Modell wird bis auf Kleinigkeiten (z.B. Gesundheitsuntersuchung vor Eintritt) bereits das Prinzip der Privatversicherung (PV) eingeführt - Riester bereitete den Boden dafür! Privatversicherte sollen dafür leichter als bisher wechseln können. Da die bei einer PV angesparten Beiträge bisher bei einem Kassenwechsel beim alten Unternehmen verblieben, ist für dort Versicherte ab einem bestimmten Alter der Wechsel nur zu wesentlich höheren Prämien möglich.

Die privaten Assekuranzen arbeiten schließlich auf allen Feldern (Lebensversicherung, Rente, Pflege) nach dem Profitprinzip und die Gewinnerwartungen fallen mit höherem Lebensalter und angeschlagener Gesundheit dementsprechend niedriger aus. Konsequente Verschreibung von Nachahmerpräparaten, Senkung des Mehrwertsteuersatzes für Arzneimittel auf 7% und mehr Wettbewerb unter "Anbietern" im Gesundheitswesen sind Zutaten der Herzog-Kommission, die die Bevölkerungsmehrheit zumindest nicht direkt treffen.

Die Herzog-Kommission empfiehlt, die gesetzliche Pflegeversicherung (GPV) noch schneller als die GKV komplett vom Umlage- auf ein kapitalgedecktes Verfahren umzustellen. In der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) soll die Altersgrenze auf 67 Jahre hochgeschraubt werden.

Angela Merkel und Friedrich Merz spannten sich wie der CDU-Bundesvorstand sogleich vor den neoliberalen Karren. Merkel verteidigte die Kopfpauschale von 330 € monatlich für GKV und GPV und plädierte für längere Wochen- und Lebensarbeitszeiten. Fraktionsvize Merz kündigte Steuerreformvorschläge an, die niedrige Steuersätze vorsieht sowie Abschaffung des Sparerfreibetrags, der Pendlerpauschale, des "Arbeitnehmer"pauschbetrags und der steuerlichen Freistellung von Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit.

Insbesondere aus der CSU hagelte es heftige Kritik am radikalen Kurs. Seehofer, Stoiber und die bayerische Sozialministerin Stewens zeigten sich "schockiert". Seehofer warf der Herzog-Kommission falsche Berechnungen vor, da die unterstellten Entlastungen "nicht in dem erwarteten Umfang eintreten". Eine Erhöhung des von den "ArbeitnehmerInnen" zu tragenden Beitragsanteils von heute 7,2 % auf über 10 % sei die Folge. Zudem müsse in dem Modell der Höchstbetrag für Selbstbehalte von 2 auf 4 % verdoppelt werden; alles in allem eine Belastung von 1200 € jährlich für DurchschnittsverdienerInnen!

Systemverfechter

Stoiber gab zu bedenken, dass die BürgerInnen durch den gerade vereinbarten Gesundheitskonsens 20 Milliarden € an zusätzlichen Belastungen tragen müssten. Auch die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre wurde abgelehnt. Seehofer ("Eine solche Verschiebung von Kosten zu Lasten der kleinen Leute habe ich nicht für möglich gehalten".) vertritt das Konzept einer Bürgerversicherung, also die GKV als Pflichtversicherung für alle Bevölkerungsgruppen - ein Schritt, der von Stoiber aber abgelehnt wird, weil er am traditionellen Konzept festhalten möchte.

Natürlich verfechten auch die "SystemverteidigerInnen" der CSU die radikalen Sozialabbaupläne der Regierung, aber sie fürchten eine Zerreißprobe für die Union als Volkspartei, wenn sich die noch drastischeren Herzog-Pläne durchsetzen. Auch in der Steuerpolitik basteln die Christsozialen an einem eigenen Konzept unter Bayerns Finanzminister Faltlhauser. Der Systemwechsel von der Sozial- zur Individualversicherung in der Gesundheitsvorsorge könnte die Stimmungslage in einem Größenverhältnis ändern, dass die Regierung wieder aus dem Meinungsumfragetief herauskäme und die von Merz vorwärts getriebene Merkel als deutsche Maggie Thatcher verteufeln könnte.

Auch der bürgerlichen Presse fällt auf, dass die 76 Seiten des Berichts der Herzog-Kommission keine Gesamtkonzeption darstellen. Zu viel ist widersprüchlich, willkürlich und nebulös. Einerseits wollen die Unions-ExpertInnen Krankenkassenbeiträge auf Mieten und Zinsen erheben, während sie andererseits für den Umstieg auf ein kapitalgedecktes Prämienmodell plädieren, das völlig unabhängig von individuellen Einkünften kalkuliert wird. Wo sollen jene 43 Mrd. € herkommen, die Herzog für die "Sanierung" der Sozialsysteme vom Staat einklagt, wenn CDU/CSU gleichzeitig nach Steuersenkungen und Subventionsabbau rufen?

Der Abschlussbericht ist weniger ein Dokument der Reformfreude als vielmehr der inneren Zerrissenheit der Union, die sich in fast allen Teilen der Wirtschaftspolitik zeigt. So fordern die einen vehement eine stärkere Unterstützung der Kommunen, während die anderen manche Einnahmequellen von Städten und Gemeinden ganz abschaffen wollen. Thüringens Ministerpräsident Althaus befürwortet ein Vorziehen der Steuerentlastung, sein hessischer Kollege Koch steuert eher auf Blockadekurs. Nein, die Union hat kein alternatives Konzept, sie könnte es auch nicht "besser" als Rot-Grün. Auf dem vom Großkapital gewünschten Radikalkurs Richtung Weltmacht BRD steht der Union zusehends ihre Konstruktion als offen bürgerliche Volkspartei im Wege.

Bürgerliche Volkspartei

Die Gründung der beiden Unionsparteien nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete für die herrschende deutsche Klasse einen Fortschritt im Vergleich zur Zersplitterung des offen bürgerlichen Lagers der Weimarer Republik. Nicht nur, dass religiöse und landsmannschaftliche Spaltungen überwunden werden konnten, es konnten alle sozialen Schichten integriert werden: Bauern/Bäuerinnen, Gewerbetreibende, Intellektuelle, ArbeiterInnen, BeamtInnen, Großkapital, Mittelklassen und -schichten. In bündischer Form spiegeln die Volksparteien scheinbar die Harmonie der Gesellschaft wider und scheinen, weil sie das ganze Volk verkörpern, wie der bürgerliche Staat über den Klassen zu stehen. In Wirklichkeit bilden die verschiedenen Flügel, Stände und Einflussgruppen nur das Fußvolk und den ideologischen Kitt für die Interessen des Monopolkapitals.

Immerhin, handelt es sich bei ihnen aber um Massenparteien, was für offen bürgerliche Parteien keineswegs die Regel ist. Oft sind sie Honoratiorenparteien (Tories in Britannien) oder vollständig in der Hand der besitzenden Klassen und ihrer handverlesenen politischen Elite (FDP).

Die bayerische CSU vollbrachte dabei auf dem Hintergrund des langen Nachkriegsbooms und Bayerns langjähriger Nehmerrolle im Länderfinanzausgleich (!) die einmalige Leistung einer nachholenden Industrialisierung eines rückständigen Agrargebietes ohne die klassischen Geburtswehen der Verelendung (Pauperisierung). Moderne Industrien (Auto, Rüstung, Elektronik), große Versicherungen und Banken konnten mit staatlichen Subventionen und Beteiligungen ins Land geholt oder aufgebaut werden (Siemens, Infineon, BMW, MAN, Hypobank, Allianz, Münchner Rück usw.). Die CSU konnte zudem den auf der früheren Zurückgebliebenheit Bayerns gegründeten Separatismus in ihre Struktur integrieren und spielt heute eine Sonderrolle innerhalb der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Die Abtrennungsabsichten Bayerns landeten dafür im Mülleimer der Geschichte.

Wir sehen, die CSU ist alles andere als eine Hinterwäldlerpartei, wie sie die meisten Linken gern darstellen wollen. Damit unterschätzen sie nur den Klassenfeind und seine Agenturen. Die Stabilität, der unnachahmliche Erfolg und das "Geheimnis" der CSU liegen in ihrer Struktur als bürgerliche Massenpartei (Volkspartei) wie die CDU, die zudem die ursprüngliche Akkumulation in Bayern sozialverträglich gestaltet hat und Bayern fest als Bundesland - wenn auch mit Sonderstatus als Freistaat - der BRD verankert hat.

Die Achillesferse dieses Modells liegt in der besonderen Abhängigkeit dieses "staatskapitalistischen" Erfolgsmodells von Steuereinnahmen. Auch im relativ prosperierenden Bayern und besonders München ist die Zeit reichlich fließender Steuerquellen seit der rot-grünen Reform vorbei. In München zahlen die 7 im DAX vertretenen Konzerne keinen müden Cent Steuern! Größter Steuerzahler sind hier - die Stadtwerke! Die bayerische Landesregierung musste daraufhin ihre Personalkürzungs- und Ausgabensparpläne jüngst drastisch verschärfen. Das Problem der Volksparteien, was die CSU nicht ganz zufällig klarer als die CDU erkannt hat, besteht darin, dass die neoliberalen Umbaupläne des "Sozialstaats" das Volk in Massen vergrault, dessen überwältigende Mehrheit (auch der Unionsparteienmitglieder) auf das Sozialversicherungswesen angewiesen ist.

Zweifellos hat eine Veränderung des Aufbaus der bürgerlichen Hauptpartei CDU/CSU schwer zu kalkulierende Folgen für das deutsche Kapital insgesamt.

Verschärfung der Krise

In der gegenwärtigen Situation - zwei große offen bürgerliche (Zwillings)Parteien -, die gewisse Rücksichten auf ihre Basis nehmen müssen und sich deshalb oft schwer tun, einen politischen Kurswechsel zu vollziehen bzw. ohne Rücksichten die Interessen des Kapitals umzusetzen, spielt die FDP eine besondere Rolle. Sie bringt diese Positionen viel direkter und schärfer zum Ausdruck, wie z.B. ihre scharfen Attacken gegen die Gewerkschaften und das Tarifsystem zeigen. Insofern ist die FDP im Moment die "pressure group" des Kapitals, die nicht nur Druck auf die Unions-Führungen ausübt, sondern in einer schwarz/gelben Regierung auch die politische Speespitze bilden kann.

Die Streitereien um Tempo und Ausmaß der bürgerlichen "Reformen", um das Wie - natürlich nicht um das Ob - widerspiegeln auch die unterschiedlichen Ansichten innerhalb der deutschen Bourgeoisie über den richtigen Weg, über Tempo und Methoden der Angriffe auf die Arbeiterklasse und die angemessene Vorgehensweise gegenüber anderen imperialistischen Mächten.

Sie spiegeln aber auch wider, dass das deutsche Großkapital seine Partei in Hinblick auf eine kommende Regierungsübernahme fit machen muss. Und das heißt: eine neue Gestaltung der Vorherrschaft der Finanzkapitals in der CDU/CSU. Wenn möglich soll dabei natürlich der Anhang zwecks Stimmenfang erhalten bleiben - zu sagen haben soll er noch weniger als bisher. Die ohne diese schwächer werdenden, auf Klassenkollaboration orientierten Teil der der Union müssen durch forsche neo-liberale Scharfmacher vom Schlage eines Merz oder Koch ersetzt werden, die den von rot-grün begonnen strategischen Angriff auf die Arbeiterklasse zu Ende bringen sollen.

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Nr. 85, November 2003

*  Von der Demo zum Massenstreik: Agenda kippen!
*  Nach dem Gewerkschaftstag der IG Metall: Waffenstillstand
*  Bildung: Leere statt Lehre
*  Ausbildungsplatzabgabe: Wer nicht ausbildet, zahlt!
*  Die Union und die Sozialreformen: Pest oder Cholera
*  Klassenkampf in Europa: Das Kapital schlägt zu
*  Europäische Antikapitalistische Linke: Weg aus der Sackgasse?
*  Bolivien: Arbeiter und Bauern an die Macht!
*  Palästina: Solidarität mit der Intifada!
*  Heile Welt
*  Europäisches Sozialforum: Paris, wir kommen!