Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Bolivien

Arbeiter und Bauern
an die Macht!

Simon Sucre, Neue Internationale 85, November 2003

In den letzten Wochen wurde Lateinamerika von einem politischen Erdbeben erschüttert - dem heroischen Kampf der bolivianischen Massen.

Mehr als Hundert Menschen wurden im Kampf gegen die Privatisierung der Ergasreserven des Landes getötet, viele mehr wurden verletzt.

Aber die Entschlossenheit der bolivianischen ArbeiterInnen und armen Bauern machte die Pläne des US-Imperialismus und der bolivianischen Regierung vorerst zur Makulatur.

Nach mehr als einem Monat des Kampfes wurden Präsident Gonzalo Sanchez de Lozada und seine Regierung zum Rücktritt gezwungen. Ein Generalstreik der wichtigsten Gewerkschaften und ein Aufstand im Armenviertel El Alto, das bei der Hauptstadt La Paz liegt, zwang den Präsidenten zur Flucht. Er floh ins Exil nach Miami, nachdem die Streikkräfte der Protestbewegung nicht mehr Herr wurden.

Bolivien ist eines der ärmsten Länder der Region, aber es verfügt gleichzeitig über die zweitgrößten Gasreserven auf dem Kontinent. Seit 1985 hat Bolivien allerdings seine Staatsbetriebe unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) privatisiert. Besonders zwischen 1992 und 1996 wurden unzählige Dekrete und Gesetze verabschiedet, um den Ausverkauf legal durchzuführen.

Neoliberale Reformen

Durch die Privatisierung des staatlichen Öl-Konzerns YPFB und die Übergabe der Gasreserven wurden folgende internationale Firmen begünstigt: British Gas, British Petroleum, Chaco, Pluspetrol, Petrobras, Total, Andina, Amoco, Repsol-YPF.

Roberto Mallea, Manager aus Repsol-YPF (Spanien) verkündete erfreut, dass jeder Dollar, der in Bolivien investiert wird, mindestens 10 US $ Ertrag erzielt. Im Gegensatz zu anderen Länder sind die Produktionskosten in Bolivien sehr niedrig. In Venezuela, Mexiko oder Argentinien sind sie etwa viermal so hoch.

Sanchez de Lozada verkörpert geradezu den geplanten Ausverkauf des Landes. Er wurde mit nur 22,5% der Stimmen gewählt. Er ist Millionär und Bergwerksbesitzer und wuchs in den USA auf. In seiner ersten Amtszeit, Mitte der 1990er Jahre, hatte er schon mehrere neoliberale Programme auf den Weg gebracht. Kein Wunder, dass er von der Bevölkerung spöttisch "Gringo" genannt wird.

Die große Masse der Bevölkerung lehnte den Gas-Deal von Anfang an ab. Sie wissen, dass die Profite in den Taschen amerikanischer Konzerne und des Präsidenten und einiger bolivianischen Kapitalisten landen werden. Sie wissen, dass das Naturgas in Chile rafineriert werden wird, wo auch der Großteil des Gewinns gemacht werden wird. Kurzum: der Reichtum des Landes würde nur die Not der BolivianierInnen mehren.

Der Bolivianische Gewerkschaftsdachverband COB hat sich daher für die Verstaatlichung der Gas-Industrie ausgesprochen - als Vorbedingung für jeden Verkauf des Rohstoffs. Außerdem fordert er höhere Löhne und Renten, eine Landreform sowie den Austritt Boliviens aus der Lateinamerikanischen Freihandelszone.

Aber nicht nur die Feindschaft gegenüber dem Gas-Verkauf hat den Protest angeheizt. Unter den militantesten GegnerInnen sind die Bauern aus den Coca-Anbauregionen, die durch die US-gestützten Versuche, den Coca-Anbau zu stoppen - den sog. "Krieg gegen die Drogen" - radikalisiert wurden. Sie wurden und werden von Evo Morales geführt, einen Kongressabgeordenten und Führer des MAS (Moviement al Socialismo = Bewegung zum Sozialismus), der bei den letzten Präsidentschaftswahlen den zweiten Rang hinter Lozada einnahm. Die Straßenblockaden im ganzen Land wurden in der Regel von den Bauern organisiert.

Die MAS ist eine relativ neue Partei, die in den letzten 14 Jahren im Widerstand gegen die Vernichtung der Koka-Plantagen entstanden ist. Da durch die Vernichtung der Koka-Plantagen der Lebensunterhalt Tausender Bauern vernichtet wurde, haben viele Menschen in der MAS eine Zuflucht gesucht bzw. eine Hoffnung gesehen. Die Straßenblockaden, sie seit Wochen das Land lahm legen, wurden vor allem von den Bauern und Bäuerinnen organisiert und durchgeführt.

Sie wurden im letzten Monat immer kämpferischer und weiteten sich aus. Sie schnitten praktisch die Zufuhr zur Hauptstadt La Paz ab. Die Repression durch die Polizei kostete mindestens 70 Bauern das Leben.

In den letzten Tagen vor der Flucht des Präsidenten musste das Volk viele Schikanen und Skandale von den Regierungsparteien (MNR, MIR, FRN) ertragen.

Ein Beispiel ist das Massaker von Warisata. Nachdem die Indios aus der Hochebene die Hauptstrasse zwischen der Ortschaft Sorata und La Paz. für mehrere Tage blockiert hatten, schickte die Regierung am 20. September die Armee, um die Ausländer zu evakuieren. Danach plünderte die Armee das Büro des Bürgermeisters und tötete dabei zwei Erwachsene und ein Mädchen. Zahlreiche Bauern wurden festgenommen.

Außerdem wurden die Prozesse gegen die Verantwortlichen der Morde vom Februar - als es mehr als zwanzig Tote gab - von der Regierung blockiert. Sanchez Berzain wurde zum Verteidigungsminister ernannt, obwohl er als politisch Verantwortlicher für diese Verbrechen gilt.

Im Oktober marschierten Zehntausende StudentInnen, Bergarbeiter, Bauern - die meisten von ihnen Indios - durch La Paz und forderten den Rücktritt des Präsidenten. Allein am 18.10. waren es 50.000 -genug, um den Präsidenten zur Flucht zu veranlassen.

In El Alto führte der Kampf gegen die Gas-Privatisierung zur Bildung von Juntas (Räten) in den über 500 Wohngebieten. Die Juntas wurden durch Massenversammlungen der EinwohnerInnen, der ArbeiterInnen und der städtischen Armut gewählt. Sie bildenen eine Föderation in der ganzen Stadt, die FEJUVE (Föderation der Nachbarschaftsräte). Daraufhin wurde ein Kommunaler Zentralrat in der Stadt aus VertreterInnen des COR (die regionale Gliederung des Gewerkschaftsdachverbandes COB), der FEJUVE und der CSUTCB (die Vereinigung der Bolivianischen LandarbeiterInnen) gebildet. Die Koordination soll insbesondere die Verteidigung der Aufstandsbewegung und Proteste gegen die Angriffe der Polizei und der Armee organisieren soll. Angesichts der Angriffe durch die Staatsmacht (bis hin zur Ermordung von AktivistInnen) hatte die FEJUVE schon zuvor zur Bildung "bewaffneter Brigaden zur Selbstverteidigung" aufgerufen. In einer Resolution der FEJUVE wurde außerdem beschlossen, dass diese Freiwilligenverbände mit Molotiv-Coctails, Bomben und anderen Waffen ausgerüstet werden sollen.

Die Proteste, die trotz der vielen Toten und Ermordeten weiter zunahmen, hatten dazu geführt, dass ein Teil der Regierungskoalition - die rechts-liberale Neue Republikanische Kraft - von der Regierung abrückte. Am 18.10. versprach ihr Vorsitzender, Carlos Mesa, ein Referendum über die Ausbeutung der Gasreserven Boliviens.

Demobilisierung

Er schlug außerdem baldige Neuwahlen vor. Mesa entzog zwar Lozada seine Unterstützung - er hat aber auch deutlich gemacht, dass er den "Krieg gegen die Drogen" fortsetzen will. Eine solche Personalrochade darf die Proteste nicht zum Verstummen bringen. Um sich selbst mehr Glaubwürdigkeit zu verliehen, hat sich Mesa für politisch unabhängig erklärt und "Experten" in die Regierung berufen.

Die bürgerliche Presse berichtete, dass sich die Straße wieder "beruhigt" hätte und die Bauern in ihre Dörfer zurückkehren würden. Die Präsidenten Brasiliens und Argentiniens haben sich gleichzeitig für die Übergangsregierung Mesas ausgesprochen.

Es scheint, das die FührerInnen der wichtigsten Massenorganisationen der Arbeiter und Bauern eine Art Waffenstillstand mit der Regierung geschlossen haben. Der Vorsitzenden der Landarbeiter- und Bauernföderation CSTUCB, Filipe Quispe, hat dem Prädident eine 90 Tage lange Frist gewährt, um den Forderungen des Volkes nachzukommen. Auch die COB Führer haben den ursprünglich auch nach Lozadas Rücktritt fortgesetzten Generalstreik nun ausgesetzt (so jedenfalls die Berichte aus den Medien). Evo Morales, der Oppositionsführer und Vorsitzender der MAS, sprach sich dafür aus, der neuen Regierung Zeit zu geben, "um ihre Angelegenheiten zu ordnen".

Diese verräterische Politik - der bürgerlichen Klasse die eigene "Reorganisation", d.h. Zeit zur Stabilisierung ihrer Herrschaft zu geben, ist im Moment ein riesiges Plus für Mesa und den Imperialismus. Während Morales und andere die Massen vertrösten und demobilisieren, wird die Regierung die Gegenoffensive vorbereiten.

Die Bewegung, die Lozada gestürzt hat, muss jetzt die Mobilisierung weitertreiben und jeden Deal mit der Regierung Mesas zurückweisen!

90 Tage das Abwartens würden zu einem Niedergang der Versammlungen und Juntas führen und sie auf ihre KernaktivistInnen schrumpfen lassen. In einer revolutionären Situation, wenn die Machtfrage steht und Organe der Doppelmacht (die Juntas und Selbstverteidigungsbrigaden) gebildet werden, heißt Stillstand und Abwarten für die Massen Rückschritt und Schwächung. Wenn die entstehende Doppelmacht nicht auf Seiten der ArbeiterInnen und Bauern gefestigt und zu ihren Gunsten gelöst wird (also der bürgerliche Staatsapparat zerschlagen und die Herrschaft von Bürgertum und Imperialismus gebrochen wird), wird die Bourgeoisie -gestützt auf Polizei, Armee, die ganze übrige Staatsmaschinerie und die Hilfe des Imperialismus - ihrerseits die Machtorgane der Massen zerstören.

Die herrschende Klasse mag zwar in der Stunde der Not alle möglichen Zugeständnisse und Versprechungen machen, eine Verfassungsgebende Versammlung, Neuwahlen, usw. versprechen. Mesa mag sogar so weit gehen, Morales oder FührerInnen der Arbeiter und Bauern in die Regierung zu holen. Alle diese Maßnahmen haben aber nur einen Zweck: Zeit zu gewinnen, um den konter-revolutionären Gegenschlag in der einen oder anderen Form vorzubereiten.

Die ArbeiterInnen und Bauern müssen daher von ihren Organisationen und FührerInnen fordern, dass jede Zusammenarbeit mit der Regierung aufgekündigt wird und keiner ihrer FührerInnen in die Regierung eintritt.

Die Massen haben gezeigt, dass sie ihre Städte und Kommunen selbst verwalten können. Warum also sollten sie nicht das ganze Land beherrschen können? Das Stillhalteabkommen der wichtigsten Organisationen der ArbeiterInnen und Bauern zeigt aber: die Massen brauchen eine neue revolutionäre Partei, die sie zum Sturz von Mesa und zur Machtergreifung führt.

Keine kapitalistische Regierung kann und wird die Forderungen der Massen - Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Sicherung des Mindestlohns für die Massen; Landreform; Selbstbestimmungsrecht für die indigene Bevölkerung; Streichung der Auslandsschulden; Beendigung der neoliberalen Angriffe und entschädigungslose Enteignung der Bergwerke, Öl-und Gaskonzerne, aller Großunternehmen und Banken unter Arbeiterkontrolle - erfüllen. Das kann nur eine Arbeiter- und Bauernregierung, die sich auf die revolutionären Organe der Massen und des Aufstandes - die Juntas - stützt, diese ausweitet und bewaffnet.

Arbeiter- und Bauernregierung

Die Errungenschaften und Lehren des Kampfes in El Alto müssen verallgemeinert, Arbeiterräte in allen Städten und Räte der armen Bauern geschaffen werden. Ein landesweiter Rätekongress muss so rasch wie möglich einberufen werden, alle Kooperation mit Mesa aufkündigt und der Generalstreik zum Sturz der Regierung organisiert werden.

Angesichts einer solchen Bedrohung wird die herrschende Klasse Boliviens sicher nicht einfach klein beigeben, sondern versuchen, Militär und Polizei einzusetzen.

Dageben müssen Selbstverteidigungsgruppen wie in El Alto organisiert werden und zu einer landesweiten Arbeiter- und Bauernmiliz vereint werden. Die Juntas und die Brigaden müssen außerdem unter den Soldaten und einfachen Polizisten agitieren, um so die Kommandokette im Repressionsapparat zu unterminieren und sie zur Befehlsverweigerung zu bringen.

Eine wirklich revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung ist nur möglich, wenn die Massen eine revolutionäre politische Führung, eine revolutionäre Arbeiterpartei schaffen. Nur so kann die Macht der Bourgeoisie durch die sozialistische Revolution gebrochen werden. Eine solche Revolution dürfte nicht auf Bolivien gegrenzt bleiben. Es muss viel mehr alles unternommen werden, um den revolutionären Kampf über die Landesgrenzen hinaus auszudehnen.

Leserbrief schreiben   zur Startseite

neue internationale
Nr. 85, November 2003

*  Von der Demo zum Massenstreik: Agenda kippen!
*  Nach dem Gewerkschaftstag der IG Metall: Waffenstillstand
*  Bildung: Leere statt Lehre
*  Ausbildungsplatzabgabe: Wer nicht ausbildet, zahlt!
*  Die Union und die Sozialreformen: Pest oder Cholera
*  Klassenkampf in Europa: Das Kapital schlägt zu
*  Europäische Antikapitalistische Linke: Weg aus der Sackgasse?
*  Bolivien: Arbeiter und Bauern an die Macht!
*  Palästina: Solidarität mit der Intifada!
*  Heile Welt
*  Europäisches Sozialforum: Paris, wir kommen!