Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Die SAV und der Antikapitalismus

Global daneben

Hannes Hohn, Neue Internationale 84, Oktober 2003

Ende 2002 veröffentlichte die Sozialistische Alternative Voran (SAV) - deutsche Sektion der CWI (Militant) - ihr Buch "Die Ideen von Seattle und Genua", das einen guten Einblick in die Politik der SAV ermöglicht.

Im Februar 2002 tagte in Porto Alegre das Weltsozialforum (WSF). Die große Teilnehmerzahl, schreibt Autor Sascha Stanicic, wäre an sich schon ein "großer politischer Erfolg" (S. 39). Zweifellos ist das Wachstum der antikapitalistischen Bewegung ermutigend. Doch wichtiger als jede Zahl ist die Frage, welchen sozialen Charakter die Bewegung hat und welches Ziel sie verfolgt: Reform oder Revolution? Das Buch stellt korrekt dar, dass die Basis, v.a. die Jugend radikaler und subjektiv antikapitalistischer ist, als die FührerInnen der Bewegung.

Doch entscheidend ist, ob die reformistische, konservative politische Dominanz der Bewegung schwächer geworden ist. Das ist in Porto Alegre - anders beim Europäischen Sozialforum in Florenz - eben nicht der Fall gewesen. Stanicic führt selbst zahlreiche Belege dafür an.

Die reformistische Allianz aus NGOs, linken SozialdemokratInnen und GewerkschafterInnen etc. hat es erneut verstanden, die Bewegung auf dem Niveau von Diskussionen zu halten - eine lebendige und zugleich verbindliche demokratische Struktur zu blockieren und effektive Mobilisierungen zu verhindern. Gerade letztere würden eine Orientierung auf die Arbeiterbewegung und einen Kampf gegen dessen reformistische Führungen bedeuten. Wenig verwunderlich, dass der eine Reformist dem anderen kein Auge auskratzt.

Dass SAV-Führungsmitglied Stanicic das WSF trotzdem so positiv sieht, ist kein Zufall, sondern Resultat der zentristischen politischen Methode der SAV.

Führungskrise

Zuerst wird Trotzkis historische Einschätzung relativiert, dass die Krise der Zivilisation in der Krise der politischen Führung des Proletariats kulminiert. Trotzkis Auffassung schloss die Ansicht ein, dass das Fehlen einer revolutionären internationalen Klassenführung sich eben auch in fehlendem Klassenbewusstsein und im Fehlen revolutionärer Organisierung ausdrückt. Es ist noch nie so gewesen - wie die SAV meint -, "dass sich Unzufriedenheit, Wut und soziale Kämpfe … sofort in politische Bewegungen und sozialistische Organisationen verwandeln." (S. 31)

Hier geht es nicht um Wortklauberei, sondern um die falsche Vorstellung der SAV, wie eine revolutionäre Organisation und revolutionäres Bewusstsein entstehen. Beide kommen eben nicht spontan zustande, beide ergeben sich nicht einfach "sofort" oder etwas später aus der Bewegung. Sie können nur entstehen, wenn sie von organisierten RevolutionärInnen in die Klasse, in die Bewegung getragen werden. Genau das war auch die Auffassung von Lenin, die er u.a. in "Was tun?" darlegte.

Natürlich interveniert auch die SAV in die vorhandene Bewegung - doch leider nicht auf Basis eines revolutionären Programms. Auf über 100 Seiten wird diese Frage nicht ein Mal erwähnt! Stattdessen wimmelt es von Allgemeinplätzen, die allesamt im Kern eine Auffassung wiedergeben: revolutionäre Führung und revolutionäres Bewusstsein entstehen aus der Bewegung selbst. So heißt es u.a.: "Arbeiterklasse und Jugend brauchen Zeit …" (S. 31) oder "Aus diesen Kämpfen, Protesten und Debatten heraus werden neues sozialistisches Bewusstsein entstehen und neue starke sozialistische Arbeiterorganisationen hervorgehen." (S. 32) Man müsste hinzufügen " … wenn es RevolutionärInnen gelingt, in der Bewegung, in der Klasse erfolgreich zu intervenieren."

Die brasilianische PT ist für die SAV richtigerweise eine reformistische Arbeiterpartei. Die europäische Sozialdemokratie - d.h. auch die SPD - hingegen nicht, was bedeuten würde, dass sich diese sozial nicht mehr auf die Arbeiterbewegung stützt. Um zu dieser Einschätzung zu kommen, muss man nahezu alle empirischen Fakten ignorieren, z.B. dass die Mehrzahl der ArbeiterInnen, besonders deren fortgeschrittenere, gewerkschaftlich organisierte Schichten, SPD wählt, dass die SPD via Gewerkschaftsführung und -apparat (der selbst formell und politisch sozialdemokratisch ist!) die Klasse kontrolliert usw. usf.

Was ist Reformismus?

Aktuell zeigt sich, dass der Ablösungsprozess relevanter Teile der Klasse von der SPD erst begonnen hat. Das äußert sich in den Wahlergebnissen, den Mitgliederverlusten, der Debatte in den Gewerkschaften über die Frage, welche Partei die Klasse braucht, in der Entwicklung der Gewerkschaftslinken usw.

Für die SAV hingegen ist das ganze Problem schon lange erledigt. Man fragt sich nur, wo und wie die SPD ihren Einfluss in der Klasse verloren hätte? Gab es Fraktionskämpfe, Abspaltungen (in SPD und Gewerkschaften)? Fehlanzeige! Leider geht der historische Bruch mit dem Reformismus in der Klasse nicht so leicht vonstatten, wie die SAV ihre Analysen aus der Hosentasche zaubert.

Warum ist die PT für die SAV noch eine reformistische Arbeiterpartei, die SPD aber nicht? Die PT "formuliert nach wie vor Reformforderungen … in ihr wirken verschiedene linke und sozialistische Strömungen" (S. 31). Reformismus ist also, wenn Reformen gefordert und linke Strömungen agieren dürfen! Ein Vergleich der Regierungspolitik von Lula und Schröder zeigt jedoch, wie wenig unterschiedlich sie an der Macht agieren - und aufgrund der Logik ihrer bürgerlichen Politik auch agieren müssen!

Reformismus ist für MarxistInnen nicht zuerst durch Reformen gekennzeichnet. Er ist eine besondere Form bürgerlicher Politik - innerhalb! der Arbeiterbewegung - zur Beherrschung und Einbindung der Klasse in den Kapitalismus. Reformen waren selbst in den "besseren" Zeiten des Reformismus nicht einfach Verbesserungen für die Klasse; sie bewegten sich immer in einem Spielraum, der mit den Gesamtinteressen des Kapitals und der Konjunktur kompatibel war.

Wenn die SAV Reformen und den linken Reformismus quasi als "das Gute oder das Bessere" am Reformismus hält, dann liegt es nahe, dass sie selbst diesem Aspekt des Reformismus politisch Tribut zollt.

Tatsächlich folgert die SAV daraus, dass die Bewegung von sich aus nach links, zum Linksreformismus drängt und dass RevolutionärInnen diesen Trend unterstützen müssen.

Diese Ansicht teilen auch wir - soweit, als jede Hinwendung zum Klassenkampf, auch wenn sie von linken Reformisten angeführt wird, unterstützt werden muss. Wir sind jedoch nicht der Meinung der SAV und teilen nicht deren Praxis, dass der (linke) Reformismus quasi ein notwendiges Durchgangsstadium wäre, dem man sich - und das ist entscheidend! - politisch anpassen muss. Die SAV geht einen programmatischen Schritt in die Niederungen des Linksreformismus, anstatt links-reformistische ArbeiterInnen auf die Höhe des revolutionären Programms zu heben.

ATTAC und die SAV

Die SAV begrüßte die Entstehung von ATTAC und trat ihr offiziell bei. Das wäre akzeptabel, wenn ATTAC zum linken, kämpferischsten Teil der antikapitalistischen Bewegung gehören würde. Das ist jedoch nicht der Fall und wird noch nicht einmal von ATTAC selbst so gesehen.

Doch im Offenen Brief der SAV an ATTAC (S. 72-48) wird die Sache so schön geredet, dass man Grund hat, nicht nur in ATTAC zu arbeiten, sondern sogar einzutreten. "ATTAC ist international …, ATTAC arbeitet aktionsorientiert und ATTAC ist offen für verschiedene Ideen und Debatten." (S. 73) So weit, so falsch.

Wie "international" die Politik von ATTAC ist, zeigt sich u.a. daran, dass jede ernsthafte und verbindliche Organisierung und programmatische Klärung abgelehnt wird. Die "Aktionsorientierung" hat u.a. den Pferdefuß, dass Streiks nicht unterstützt wurden (IGM, IG BAU) und politische Massenstreiks gegen die Agenda - den zentralen Angriff des Kapitals auf die Klasse - weder ernsthaft diskutiert, geschweige denn gefordert werden. So hat es ATTAC-Deutschland bislang auch abgelehnt, zur bundesweiten Demo gegen die Agenda am 1. November aufzurufen!

Jede Aktionsorientierung muss sich aber daran messen lassen, ob man sich zentral auf die Arbeiterbewegung bezieht und diese zum Kampf führen will. Wer das von ATTAC glaubt, muss realitätsblind sein oder so naiv wie die Führung der SAV.

Die "Offenheit für Ideen und Debatten" zeigt sich vor allem darin, dass in ATTAC zwar über alles geredet werden kann, doch hat das eben keine Auswirkungen auf die Gesamtpolitik von ATTAC.

Die euphorische SAV-Sicht auf ATTAC steht nicht nur im Widerspruch zu den Fakten. Autor Stanicic selbst gibt - unbewusst? - etliche Beispiele, dass die Realität von ATTAC anders aussieht, als die offiziellen Einschätzungen der SAV.

ATTAC war von Anfang an reformistisch: in Führung, Programmatik und Struktur. Inzwischen kann man auch bilanzierend sagen, dass ATTAC trotz allen Wachstums sich politisch nicht nach links entwickelt hat. Das oft beschworene "linke Potential" in ATTAC gibt es allerdings tatsächlich - es sind die Linken aus SAV, Linksruck usw., die in ATTAC gegangen sind.

Wo es ATTAC nicht gab, wurde dieses reformistische Hindernis von der SAV noch selbst gegründet. Das nennt man Kampf gegen den Reformismus!

Natürlich sagt auch die SAV, dass ATTAC reformistisch ist. Doch ihre Kritik an ATTAC ist nicht nur äußerst inkonsequent; wirklich fatal ist die politische Alternative. An zwei Stellen präsentiert das Buch programmatische Vorschläge der SAV für ATTAC (S. 76 und 93). Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie diverse (überwiegend richtige) Teilforderungen aufstellen, aber jegliche revolutionäre Forderung und Fragestellung ausmerzen. Arbeiterkontrolle, Räte, Milizen, Arbeiterregierung usw. usf. - kein Wort davon.

Alles, was wirklich den Unterschied zwischen dem Reformismus von ATTAC und einer revolutionären Politik ausmacht, verschweigt die SAV. Die Machtfrage, die Frage des Staates, jede Form von Übergangsforderung fehlt. Zufall? Nein, denn ein Blick auf das Programm der SAV offenbart, dass dieses Manko dort genauso besteht.

Programmatik

Auf dieser linksreformistischen Programmatik mit sozialistischen Ornamenten lässt sich freilich nett in ATTAC diskutieren; den Bruch mit dem Reformismus befördert das nicht, garantiert aber die Illusionen in ihn. Anstatt dem eigenen Namen Ehre zu machen und eine sozialistische Alternative aufzubauen, dient man ATTAC als linkes Feigenblatt und Aufbauhelfer.

Es gibt schon sehr zu denken, wenn auf 100 Seiten nicht ein einziges Mal! erwähnt wird, dass es dringend notwendig ist, eine revolutionäre Internationale aufzubauen, die unverzichtbar ist, wenn der Kapitalismus überwunden werden soll. Außer Allgemeinplätzen und Statements auf dutzenden Seiten darüber, welch großartige Perspektiven ATTAC hat, haben die versammelten SAV-AutorInnen keine konkrete Idee, keine Losung, keinen Satz darüber übrig, welche konkreten Probleme es beim Aufbau einer solchen Internationale gibt.

Im Unterschied zur SAV haben wir eine klare Position dazu. Statt darauf zu hoffen, dass ATTAC zwei Schritte nach links geht, treten wir für den Aufbau einer neuen, 5. Internationale ein! Was das bedeutet, wie das erfolgen soll, was unsere Politik dabei ist, haben wir in zahlreichen Dokumenten dargelegt.

Leserbrief schreiben   zur Startseite

neue internationale
Nr. 84, Oktober 2003

*  Demo am 1. November: Heißer Herbst für Schröder!
*  Gewerkschaften: Kampf oder Friedenspflicht?
*  Heile Welt
*  München: Braune Terroristen, blinder Staat
*  Brasilien: Lulas Weg nach Rechts
*  Volksfront in Brasilien: Vierte Internationale regiert mit
*  30. Jahrestag des Pinochet-Putsches: Vom Traum zum Trauma
*  Palästina: Verteidigt die Intifada-AktivistInnen!
*  27. September: Aktionstag ohne Action
*  Die SAV und der Antikapitalismus: Global daneben
*  WTO-Gipfel in Cancún: No pasarán!
*  Europäisches Sozialforum: Auf nach Paris!