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Brasilien

Lulas Weg nach Rechts

Stuart King, Neue Internationale 84, Oktober 2003

Als Lula im letzten Jahr die Präsidentschaftswahlen gewann, wurde sein Sieg von GewerkschafterInnen, Linken und vielen SozialistInnen auf der ganzen Welt gefeiert.

Castro und Venezuelas Präsident Chavez gratulierten. Der US-amerikanische Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO organisierte eine Wahl-Party. Viele aus der Sozialforums-Bewegung sehen die Wahl Lulas und seiner PT (Arbeiterpartei) als Bestätigung dafür, dass "eine andere Welt möglich" ist.

Die Bilanz der ersten sechs Monate von Lulas Amtszeit ist jedoch ernüchternd. Die Regierung plant, das Renteneintrittsalter für Staatsangestellte auf 63 Jahre zu erhöhen. Gleichzeitig sollen die Renten auf 70% des letzten Gehalts reduziert werden. Die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst haben darauf mit Massenstreiks und Demonstrationen geantwortet. Am 1. Mai zog über eine Million ArbeiterInnen durch die Straßen Sao Paulos, der größten Industriestadt Brasiliens. 500.000 Staatsangestellte legten die Arbeit nieder. Anfang August demonstrierten rund 50.000 aus allen Landesteilen vor dem Parlament in Brasilia. Der "Arbeiterführer" und Präsident Lula empfing sie mit Tränengas.

Die Rentenfrage ist für die Zukunft der Regierung Lula und der Arbeiterbewegung von großer Bedeutung. Die Kürzungen sind eine der wichtigsten Auflagen, die der Internationale Währungsfonds und die Gläubigerbanken der Regierung für die Gewährung neuer Kredite erteilten. Schon Lulas neoliberale Vorgänger Cardoso hatte eine solche Reform versucht, musste sie aber wegen des Widerstandes der Opposition unter Lula und seiner PT zurücknehmen. Nun setzen sie die Angriffe selbst um!

Das zeigt unverhohlen den Charakter der neuen Regierung. Brasilien ist ein Land, das durch eine riesige Kluft zwischen Arm und Reich gekennzeichnet ist. Einem Prozent der Bevölkerung gehören über 13 Prozent aller Einkommen. Umgekehrt verfügt die Hälfte der Bevölkerung, immerhin 85 Millionen, gerade über 10% aller Einkommen. 44 Millionen verdienen weniger als einen Dollar pro Tag. Nur ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung hat einen gemeldeten Job. Zwei Drittel sind im "informellen Sektor" als Tagelöhner oder befristet Beschäftigte, als Kleinhändler o.ä. tätig und leben in den riesigen Elendsvierteln der Großstädte.

Die Regierung Lula greift aber nicht die Reichen an, sondern die etwas besser gestellten Schichten der Arbeiterklasse. Dafür gibt es neben dem Abkommen mit dem IWF eine Reihe von Gründen. Schon zur Wahl trat Lula im Bündnis mit einer wichtigen Partei des brasilianischen Bürgertums, den Liberalen, an. Diese Allianz, eine Volksfront zur Kontrolle der Unterdrückten im Interesse der Kapitalistenklasse, prägt die Regierung.

Eine der ersten Maßnahmen Lulas bestand darin, die Nationalbank (ähnlich der deutschen Bundesbank) von jedem direkten Regierungseinfluss unabhängig zu machen und an ihre Spitze einen Vertreter der Kapitalistenklasse zu stellen: Henrique Meirelles, den früheren Vorstandsvorsitzenden der US-amerikanischen First Boston Bank.

Andere Schlüsselpositionen wurde ebenfalls mit Unternehmern oder Managern besetzt. So leitet nun Luiz Fernando Forla, vordem Vorstandschef des größten Nahrungsmittelherstellers Brasiliens, das Ministerium für Entwicklung, Handel und Industrie. Der Agrarminister war früher Präsident der Vereinigung der Agrarindustrie. Vizepräsident Jose Alencar nicht nur Vertreter der Liberalen Partei, sondern auch einer der größten Textilunternehmer des Landes.

Volksfront

Die Volksfront aus Lulas PT und der Liberalen Partei Alencars hat 61% der Stimmen bei den Wahlen erhalten. Sie hat zugleich zur politischen Unterordnung der brasilianischen Arbeiterpartei unter die Interessen eines wichtigen Teils der Kapitalistenklasse und der internationalen Großbanken geführt. Innerhalb weniger Monate hat die PT die wichtigsten ihrer Wahlversprechen gebrochen.

Die PT verweist dabei auf die "wirtschaftlichen Rahmenbedingungen". Luiz Dulci, ein Vertrauter Lulas, meinte, dass sich die Regierung nach der Wahl einem Akt des "finanziellen Terrors" - der Kapitalflucht in der Höhe von rund 3,5 Mrd. Dollar - ausgesetzt sah. Brasilien wurde zum Spielball der Kreditgeber, die Zinssätze stiegen rasch an. Die einzige Möglichkeit, dieser Erpressung zu begegnen, wäre lt. Dulci die Einbindung der Banker in die Wirtschaftspolitik des Landes gewesen, die Stabilisierung der Währung über die Umsetzung der eigenen politischen Reformen zu stellen - also der Erpressung nachzugeben.

Im April 2003 beschloss die Regierung Lula daher Budgetkürzungen in der Höhe von 14 Mrd. Dollar. So stellte die Regierung das "Vertrauen der Finanzmärkte" wieder her und übertraf sogar die IWF-Forderungen nach einem Budgetüberschuss von 4,5%. Der Zinsfuß stieg und große Unternehmen wie Volkswagen begannen, Beschäftigte zu entlassen. Statt 10 Mill. neue Jobs zu schaffen (ein Wahlversprechen Lulas) wurde eine halbe Million ArbeiterInnen gefeuert. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 12 Prozent. Den größten Rückzieher machte die Regierung jedoch bei ihren Hauptversprechen - dem Programm gegen den Hunger und der Landreform. Davon blieb praktisch nichts.

Landreform

Die Landfrage ist ein zentrales Problem. Rund drei Prozent der Bevölkerung besitzen 60% des Grund und Bodens. Gleichzeitig gibt es Millionen Kleinbauern und landloser LandarbeiterInnen.

Die MST, die militante Bewegung der Landlosen, hat Landbesetzungen seit über zwei Jahrzehnten, oft im blutigen Kampf gegen die Großgrundbesitzer und ihre Privatpolizei geführt. Ab März 2003 nahm sie die Aktionen wieder auf. Sie kündigte ein Stillhalteabkommen mit der Regierung auf, das den Verzicht auf Landbesetzungen vorgesehen hatte, weil Lula und sein Kabinett nichts zur Neuaufteilung von Grund und Boden zugunsten der Landlosen getan hatte.

Lula sah sich zu erneuten Verhandlungen mit der MST gezwungen. Die MST fordert, dass mindestens eine Millionen Familien bis 2006 Land erhalten soll. Die Regierung hat in den ersten sechs Amtsmonaten gerade 60.000 Neuverteilungen durchgeführt und rief im übrigen die MST dazu auf, geduldiger zu sein.

Doch damit nicht genug. Eine Woche nach den Verhandlungen wurde einer der militantesten Anführer des MST, Jose Rainha, verhaftet und wegen illegaler Landbesetzungen angeklagt.

Ansonsten führt die Regierung weiter an, dass es für die Landreform an Mitteln mangele und die Verteilung des Landes nicht rascher erfolgen könne, weil es zu wenig Geld für die Bewässerung und für günstige Kredite gebe. Unter diesen Bedingungen sind selbst jene wenigen Bauern, die bisher Land erhalten haben, zum Ruin verurteilt. Ohne günstige Kredite, um Saatgut, Dünger, Maschinen usw. kaufen zu können, können sie entweder nicht produzieren oder müssen sich bis über beide Ohren bei Kredithaien verschulden. Das Land, das sie erhielten, geht somit bald wieder in die Hände der Großgrundbesitzer über. Die Auswirkungen dieser Politik ließ sich schon unter der Regierung Cardoso beobachten, in dessen Amtszeit eine Million Kleinbauern bankrott ging.

Es ist kein Wunder, dass die ersten sechs Monate von Lulas Amtszeit dem "Arbeiter"präsidenten viel Lob eingebracht haben - von den Reichen. Time Magazin hat ihn als brasilianischen Tony Blair charakterisiert. John Snow, ein Staatssekretär im US- Finanzministerium, hat Lulas Wirtschaftspolitik - die Budgetkürzungen, die marktwirtschaftlichen Reformen, die Kürzung der Sozialausgaben - als vorbildlich bezeichnet. Auch IWF und Weltbank loben die "verantwortliche" Politik der Regierung.

Nur wenige Monate nach der Regierungsbildung zeigt die Regierung aus Arbeiterpartei und Liberalen ihr wahres Gesicht. Es zeigt sich, dass der Reformismus an der Regierung, auch wenn er deutlich "linker" gewesen sein mag als jener von Schröder oder Blair, immer nur die Geschäfte der herrschenden Klasse erledigen kann. In einem vom Imperialismus beherrschten, halbkolonialen Land zeigen sich die unvermeidlichen Auswirkungen dieser Politik besonders krass. Wer ja zur Klassenkollaboration mit der einheimischen Bourgeoisie und den imperialistischen Banken und Konzern sagt, muss auch deren Interessen gegenüber der Arbeiterklasse und den Bauern durchsetzen.

Doch die letzten Monate zeigen auch, dass die Massen - die ArbeiterInnen im Gewerkschaftsdachverband CUT wie die Landlosen der MST - erkennen, dass von der Regierung Lula nichts zu erwarten ist. Sie nehmen den Kampf gegen "ihre" Regierung auf. Die zentrale Aufgabe besteht darin, in diesen Kämpfen eine neue, revolutionäre Arbeiterpartei zu schaffen, die für eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung kämpft.

Auswirkung

Das ist sicher kein Kampf, der nur auf Brasilien Auswirkungen hat. Die Entwicklung dort ist von zentraler Bedeutung für die Arbeiterklasse und die unterdrückten Massen in ganz Lateinamerika. Sie hat auch große Auswirkungen für die Diskussion und Strategie der anti-kapitalistischen Bewegung international, ist doch die Regierung Lula ein Hoffnungsträger aller reformistischen Kräfte wie attac, die in ihr den praktischen Beweis sehen wollen, dass ein Bündnis der ArbeiterInnen und Bauern mit einem Teil der herrschenden Klasse für die Massen möglich und vorteilhaft wäre.

Doch die Regierung Lula beweist das Gegenteil. Die anti-kapitalistische Bewegung muss diese Erfahrung beim Europäischen Sozialforum in Paris im November 2003 und beim Weltsozialforum in Bombay im Januar 2004 diskutieren und mit der Volksfrontpolitik der PT Lulas und ihren reformistischen VerteidigerInnen brechen: Im Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie und dem internationalen Kapital können die ArbeiterInnen und Bauern nie ihre Interessen durchsetzen - weder in Brasilien noch sonstwo.

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Nr. 84, Oktober 2003

*  Demo am 1. November: Heißer Herbst für Schröder!
*  Gewerkschaften: Kampf oder Friedenspflicht?
*  Heile Welt
*  München: Braune Terroristen, blinder Staat
*  Brasilien: Lulas Weg nach Rechts
*  Volksfront in Brasilien: Vierte Internationale regiert mit
*  30. Jahrestag des Pinochet-Putsches: Vom Traum zum Trauma
*  Palästina: Verteidigt die Intifada-AktivistInnen!
*  27. September: Aktionstag ohne Action
*  Die SAV und der Antikapitalismus: Global daneben
*  WTO-Gipfel in Cancún: No pasarán!
*  Europäisches Sozialforum: Auf nach Paris!