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Interview Zur Lage in der Türkei

Kann Erdogan gestoppt werden?

Interview mit Isa (SYKP), Neue Internationale 217, März 17

Isa ist Mitglied der Partei SYKP (Partei des sozialistischen Wiederaufbaus), einer der Gründerorganisation der HDP in der Türkei. Er ist ebenfalls Journalist bei der Nachrichtenagentur Siyasi Haber und ein langjähriger Aktivist in der Türkei. Seit kurzem lebt er in Berlin und sprach mit uns über die politische Entwicklung unter der AKP sowie seine und der SYKP-Sicht auf die Aufgaben und Perspektiven der Linken. Auch wenn wir in etlichen Fragen unterschiedliche politische Auffassungen vertreten als HDP und SYKP, halten wir es gerade angesichts der Angriffe auf sämtliche demokratischen Rechte durch das Erdogan-Regime für notwendig, die Linke aus der Türkei zu Wort kommen zu lassen.

GAM: 2014 fanden dann Präsidentschaftswahlen statt, bei denen Demirtas als Kandidat nicht nur der kurdischen Bevölkerung, sondern vieler unterdrückter Gruppen antrat. Dass er nicht gewinnen konnte, war klar, aber was war das Ziel, ihn aufzustellen und später auch die HDP zu gründen?

I: Wir wollten diese Partei als Vertreterin aller Unterdrückten in der Türkei gründen. Wer kein Türke oder Sunnit ist, wird in seiner Existenz praktisch verleugnet. Die AKP hatte eine Weile versucht, die Kurden in ihre Politik zu integrieren, aber als sie von denen nicht genug Stimmen bekommen konnte, hat sie die Kriegspolitik fortgeführt. In der Türkei gibt es so viele Völker, die allein durch die türkische Verfassung nicht berücksichtigt werden. Armenier gilt in der Türkei immer noch als Beleidigung, doch in unserer Partei sollten auch Armenier Platz finden und sie sind in der Partei vertreten. Es sollte auch eine Partei sein, die die Rechte der Frauen vertritt. Den Versuch eines solchen Dachprojektes gibt es schon seit 10 Jahren, also schon lange vor den Gezi-Protesten. Die Partei kam zum richtigen Zeitpunkt, denn durch Gezi wurde das Bewusstsein der gesamten türkischen Bevölkerung für die Existenz der Kurden verändert. Vorher gab es viele, die meinten, es gäbe gar keine Kurden, aber 2013 gab es sogar in Istanbul Solidaritätsproteste mit den kurdischen Jugendlichen. Das ist eine sehr wichtige Veränderung. Danach war es keine Schuld mehr, ein Kurde zu sein. Die Partei wurde von LGBT-Menschen, von KurdInnen, von ArmenierInnen als ihre Partei anerkannt und konnte sich in einer positiven Sprache ausdrücken. Während des Wahlkampfs hat das Volk dann sehen können, dass das, was Demirtas erzählte, richtig war und so konnte sie die 13 Prozent bei den Wahlen im Juni 2015 erreichen.

GAM: Du beschreibst, dass die Unterdrückung in der Türkei vor allem in einer ethnischen, nationalistischen Unterdrückung besteht. Als MarxistInnen würden wir jedoch sagen, dass die ArbeiterInnenklasse führende Kraft im Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und nationale Unterdrückung werden muss. Eine Arbeiterpartei gab es in der Türkei nie. War es denn das Ziel der HDP, auch dies zu thematisieren?

I: Wir sehen die HDP nicht als Arbeiterpartei und es war auch nie ihr Ziel, eine zu sein. Es war auch nicht unser Ziel, aus der HDP eine sozialistische Partei zu machen. Es stimmt, dass Arbeiter auch in der Türkei unterdrückt sind, aber wer ein Arbeiter, eine Frau und eine Kurdin gleichzeitig ist, wird dreifach unterdrückt. Wir haben eine Partei gesucht, die LGBT-Menschen, Frauen, Kurden und Arbeiter vereinen kann. Ich kann keine klare Antwort geben, ob die HDP eine Arbeiterpartei sein könnte oder nicht, aber ich kann sagen, dass einige Arbeiter der HDP ihre Stimme gegeben haben. Die Frage ist, haben sie das getan, weil sie Arbeiter sind oder weil sie Kurden und Aleviten sind? In der Türkei ist die ethnische Spaltung so groß, dass eine Organisierung über die Arbeiterklasse sehr schwierig ist. Man versucht deshalb, zuerst über die ethnische Unterdrückung die Leute anzusprechen und danach ein Klassenbewusstsein zu entwickeln. Aber die Situation der Gewerkschaften in der Türkei ist momentan auch sehr schlecht. Die linkeren Gewerkschaften zum Beispiel haben legal so viele Hürden zu überwinden, dass sie kaum Leute organisieren können. Lediglich in Regionen der kurdischen oder linkeren Bourgeoisie und in deren Medien sind sie präsent. Die gelben Gewerkschaften sind viel größer, da sie eng mit der AKP verknüpft sind, wie zum Beispiel Türk-IS. Der Druck, sich dort zu organisieren, steigt, je mehr Kollegen aus deinem Betrieb dort drin sind, auch wenn diese Gewerkschaft die Kollegen bei jedem Streik betrügt.

GAM: Man soll also zuerst eine ethnisch pluralistische Partei aufbauen und sich danach auf den Klassenkampf konzentrieren?

I: Danach nicht, ich glaube, es ist immer wichtig Klassenkämpfe zu unterstützen. In der HDP gibt es da ein Komitee für Arbeitskämpfe und die Abgeordneten haben auch immer die Streiks unterstützt. Aber wenn man das jetzt im marxistischen Sinne betrachtet, ist die HDP natürlich keine Arbeiterpartei, aber sie hat das getan, was eine linke, sozialdemokratische Partei machen kann.

GAM: Mittlerweile hat sich die Situation für die gesamte Opposition noch weiter verschärft, Abgeordnete sind verhaftet etc. Das Referendum über die Verfassung steht an, doch es ist kein genaues Ergebnis in Sicht, da die Umfragen beiden Lagern den Sieg voraussagen. Wie schätzt du das Kräfteverhältnis ein? Würdest du sagen, die Opposition unternimmt alles in ihrer Macht Stehende, um genug Nein-Stimmen zu sammeln?

I: Als die HDP-Abgeordneten ins Parlament eingezogen sind, haben wir uns gefreut, aber gleichzeitig betont, dass dies nur ein Schritt, nur ein Hilfsmittel sein kann. Die politische Arbeit der Partei hat sich jedoch stark auf die parlamentarische Arbeit beschränkt, was wir kritisieren. Unsere 80 Abgeordneten haben die drittgrößte Fraktion gestellt, aber wir haben davor gewarnt, die außerparlamentarische Arbeit zu vernachlässigen, denn unsere Kraft lag immer in der Mobilisierung auf der Straße. Aber in der Realität blieb dafür nie richtig Zeit. Nach den Juni-Wahlen ist der Krieg ausgebrochen, auf den Kundgebungen explodierten Bomben und dann standen schon wieder die nächsten Wahlen an. Die Angriffe haben vielleicht nicht die Kader, aber die Basis verängstigt, das ist ja menschlich. Die Mobilisierung der Basis war die größte Stärke der türkischen Linken. Eine Organisation alleine konnte innerhalb von einem Tag tausend Leute auf die Straße bringen, aber durch die Anschläge ist diese Stärke verloren gegangen. Es gibt unterschiedliche Phasen und die jetzige ist eine der härtesten, wo man das Wort Kurdistan nicht mal in den Mund nehmen darf. Die Opposition steht unter diesem extremen Druck des Staates, da geht es weniger darum, was sie selbst tun möchte. Es liegt nicht in ihrer Hand, sondern in der Hand des Staates, der ja auch die Medien kontrolliert.

GAM: Was erwartest du von dem Referendum?

I: Nach dem Putschversuch vom 15. Juli wurde die gesamte Opposition als terroristisch gebrandmarkt, entweder als Anhänger der Gülen-Bewegung oder der PKK. Die AKP hat es geschafft, diese Angriffe zu normalisieren. Wenn vor einem Jahr eine Firma oder eine Organisation geschlossen wurde, gab es ein gerichtliches Verfahren dagegen, aber heute setzt die AKP das im Ausnahmezustand einfach durch. Tausende Beamte, die selber die AKP gewählt haben, werden entlassen, ganze Familien werden arbeits- und perspektivlos. Diese Masse hat die AKP gegen sich aufgebracht.  Ich vermute, dass höchstens 30 Prozent wirklich hinter Erdogan stehen, der Rest hat aber auch Angst, gegen ihn den Mund aufzumachen. Trotzdem sind wir uns sicher, dass es diesen Widerstand gibt, auch wenn er sich gerade nicht zeigt. Die AKP konnte der Bevölkerung nicht gut genug erklären, wozu sie dieses Referendum durchführt, und sie fürchtet selbst, dass die Nein-Stimmen überwiegen werden. Deswegen fängt sie an, sich zu bewaffnen und paramilitärische Gruppen aufzubauen, die sogenannte HÖH (Besondere Volksoperationseinheit). Sie begründet das damit, dass ein weiterer Putsch folgen könnte, ruft aber auch zur Vorbereitung auf den Bürgerkrieg auf. Das kann sich natürlich auch gegen Linke und Sozialisten wenden, wenn diese auf die Straße gehen.

GAM: Wie kann die Linke darauf reagieren?

I: Unsere Abgeordneten prangern das öffentlich an und dokumentieren, welche Maßnahmen die AKP begonnen hat, damit die Welt das mitbekommt. Sich dagegen selbst zu verteidigen ist ein legitimes Recht der Unterdrückten, die angegriffen werden. Die AKP hat Soldaten und Polizisten und, als ob das nicht reicht, nun auch diese paramilitärischen Kräfte. Mit diesen Kräften kann sie sich morgen ihren faschistischen Staat aufbauen. Je nach dem, wie weit das dann in Richtung Bürgerkrieg getrieben wird, wird sich das Volk auch verteidigen wollen, auch wenn der bewaffnete Kampf niemandes Ziel ist. Vor allem wir als  Sozialisten wollen ja eine demokratische Politik als Grundlage schaffen, die nicht durch Gewalt entstehen soll. Aber wenn die Repression des Staatsapparates und der herrschenden Klasse sich so zuspitzt, dann ist Selbstverteidigung legitim.

GAM: Kann ein Gewinn der Nein-Kampagne beim Referendum die Entwicklung zur Diktatur aufhalten?

I: Das alleine sicher nicht, aber es ist ein wichtiger Faktor. Durch das Nein an sich wird keiner gerettet, aber wenn es gewinnt, bedeutet das, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Einführung des Präsidialsystems ablehnt. Ich möchte noch etwas Wichtiges ergänzen: 2013 wurde ernsthaft diskutiert, ob die 10-Prozenthürde endlich auf 5 Prozent gesenkt werden sollte, und es sind vier Parteien ins Parlament eingezogen. Jetzt sollen im Prinzip eine einzige Partei, die AKP, und die von ihr geduldete Opposition in Form der CHP im Parlament alleine sein. Wo sind wir also hingekommen in den letzten drei Jahren? Jeder weiß, dass die AKP niemals eine Chance gehabt hätte, die Verfassung zu ändern, wenn es eine 5-Prozenthürde gegeben hätte. Wenn nun eine Mehrheit das neue System ablehnt, gewinnt damit auch eine legitime Mehrheit der Bevölkerung und damit kann man doch weiter arbeiten. Die Lügen der staatsnahen Medien und die Repression der Polizei gegen die, die heute die Nein-Kampagne auf der Straße austragen, können wir der Bevölkerung dann besser erklären und der Kampf geht weiter. Selbst wenn das Ja gewinnt und sich ein Faschismus in der Türkei entwickelt, werden sich unsere Genossen weiterhin treffen, zu Hause oder an geheimen Orten. Es könnte natürlich auch wie im Iran werden, wo dann alle politischen Aktivisten in Europa leben und die Türkei ein schrecklicher Ort wird.

Nein zur Verfassungsänderung!

ArbeiterInnenmacht unterstützt den Kampf für ein NEIN zum Referendum Erdogans. Zur ausführlichen Darstellung unserer Position, siehe http://www.arbeitermacht.de/ni/ni216/erdogan.htm

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Nr. 217, März 17

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