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Türkei

Im Osten die Häuser verlassen, im Westen die Straßen

Svenja Spunck, Infomail 874, 5. April 2016

Wenn es nicht die traurige Realität wäre, dann wäre es eine gelungene Satire. Als der türkische Präsident Erdogan auf seiner USA-Reise in einem Interview mit der britisch-iranischen Journalistin Christiane Amanpour mit stolzer Brust behauptete, er würde ja überhaupt nicht repressiv gegen die Presse im eigenen Land vorgehen, da fiel auch ihr die Kinnlade runter. Auf der Rangliste der Pressefreiheit, die von der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ erstellt wird, liegt die Türkei mittlerweile auf Platz 149 von 180 und unterbietet damit zum Beispiel Afghanistan.

Repression

Mit dem kürzlich begonnenen Prozess gegen die Chefredakteure Can Dündar und Erdem Gül der Zeitung Cumhuriyet wegen angeblicher Spionage und terroristischer Handlungen dürfte es noch einmal ein paar Plätze weiter bergab gehen. Der wahre Grund, warum die beiden eventuell eine lebenslange Haftstrafe erwartet, war ihre Veröffentlichung von Fotos aus dem letzten Jahr, die eine Waffenlieferung nach Syrien in einem Transporter aus der Türkei dokumentieren, der eigentlich humane Hilfsgüter enthalten sollte. Dies ist nur das aktuellste und bekannteste Beispiel, was sich jedoch in eine lange Reihe von Repressionen gegen die Presse einreiht. Seit März 2015 ist es legal, ohne richterlichen Beschluss Webseiten zu sperren, in Universitäten mit Polizeigewalt einzudringen und willkürlich Menschen abzuhören. Davon macht die Polizei nun regelmäßig Gebrauch und so stand letzte Woche ein Haufen PolizistInnen, die stärker ausgerüstet sind als die deutsche BFE (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten), in der Mimar Sinan-Universität in Istanbul und nahm zahlreiche StudentInnen auf Grund politischer Aktivitäten fest.

Es ist auffällig und erschreckend zugleich, wie stark sich die Türkei in weniger als einem Jahr verändert hat. Seit dem Anschlag in Suruç im Juli 2015 und dem deutlichen Verlust von Wählerstimmen für die AKP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 wächst der Druck auf alles, was auch nur ansatzweise oppositionell erscheint, wozu eben auch kritische Medien zählen. Auch gegen AkademikerInnen, die einen Friedensaufruf unterzeichneten, laufen Verfahren, und vom staatlichen Bildungsministerium YÖK sollen neue Gesetze erlassen werden, nach denen faktisch zwischen solchen AkademikerInnen und Mitgliedern bewaffneter Organisationen kein Unterschied mehr besteht. Das ach so fortschrittliche Europa hüllt sich in scheinheiliges Schweigen darüber, ebenso wie über den Krieg im Osten der Landes, der seit vielen Monaten dort tobt, mit dem Ziel, sämtliche kurdische Autonomiebestrebungen und mögliche Unterstützung der PYD in Nord-Syrien zu zerschlagen.

Krieg

In einem der Kampfgebiete feiert die türkische Regierung schon erste Erfolge. So fuhr der Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in den Stadtteil Sur in Diyarbakir, um zu verkünden, dass nun, nachdem die bisherigen BewohnerInnen durch eine große Militäraktion vertrieben oder ermordet und ihre Häuser zerstört wurden, eine neue große Moschee sowie Wohnblocks und ein Einkaufszentrum des staatlichen Bauunternehmens TOKI gebaut werden sollen. Er bezog sich dabei auf den Satz, Diyarbakir sei das Paris des Ostens und meinte hämisch, er wisse gar nicht, was die Menschen am Eiffelturm fänden, aber an einer Mosche mit vier Minaretten, da könne jedeR Gefallen finden.

Unerwähnt blieb dabei, dass im Krieg der letzten Monate viele muslimische und Jahrhunderte alte Bauwerke niedergebrannt wurden. Solch ein triumphierender Auftritt ist jedoch auch ein wichtiges Warnsignal. Denn wenn die höchsten Regierungsvertreter sich wieder mitten ins einst umkämpfte Stadtzentrum trauen, so soll das auch die Schwäche der Verteidigungseinheiten der kurdischen Widerstandsbewegung symbolisch darstellen. Auch innerhalb dieser gibt es unterschiedliche Strömungen, wie die PKK, die sich auf den Kampf in den kurdischen östlichen Gebieten konzentriert, während deren Abspaltung TAK (Freiheitsfalken Kurdistans) gezielt auch in der Westtürkei Anschläge auf öffentliche Plätze verüben, wie es zuletzt in Ankara der Fall war. Obwohl sie in ihren Statements verkünden, dass sie keine zivilen Opfer beabsichtigen würden, trafen die Anschläge fast ausschließlich ZivilistInnen und sogar politische AktivistInnen, die sich für Gerechtigkeit und Gleichheit zwischen KurdInnen und TürkInnen einsetzten. Dies und die willkürlichen Anschläge von IS-Sympathisanten verbreiten ein Klima der permanenten Angst auf öffentlichen Plätzen und bieten einen guten Vorwand, sämtliche politische Versammlungen aus „Sicherheitsgründen“ zu verbieten.

Zum einen paralysiert von der Situation an sich, zum anderen ohne politisches Programm, das über den kurdischen Befreiungskampf hinausgeht, ist die HDP (Demokratische Partei der Völker) in die völlige Passivität abgerutscht und versucht, durch Anbiederung und Opportunismus gegenüber der Regierung ihren legalen Status zu behalten. Dieses Ziel ist zwar an sich verständlich, jedoch zeugt das auch von einer Illusion in den tatsächlichen Verhandlungswillen der AKP-Regierung. Diese hat die Friedensverhandlungen mit der PKK im Sommer bewusst aufgekündigt, obwohl die Konsequenzen einer solchen Handlung absehbar waren.

Warum sollte sie sich nun, da die Situation noch zugespitzter und die Abhängigkeit von der EU auf Grund der Flüchtlingskrise noch deutlicher geworden sind, auf einmal einen anderen Kurs einschlagen? Es scheint ein wenig so, als ob der einzige Grund zur Opposition gegen die AKP „nur“ der aktuelle Krieg sei. Doch dabei darf man nicht vergessen, dass es ja einen großen Wahlkampf gab, der sich von Seiten der HDP darauf konzentrierte, die Einführung des Präsidialsystems unter Erdogan zu verhindern. Jetzt wirkt es so, als ob das Ende des Krieges das einzige Problem sei, obwohl dieser ja nicht aus dem Nichts kam.

Die AKP stellt eine generelle Gefahr für die türkischen und alle anderen BewohnerInnen des Nahen Ostens dar. Es ist nicht nur ihre Kriegstreiberei, die eine menschenverachtende Gefahr in sich birgt. Es ist die allgemeine Feindschaft gegen alles Fortschrittliche, gegen die Organisierung der ArbeiterInnenklasse, der Frauen, der Jugend und derjenigen, die sich nicht dem Islamismus ergeben wollen. Da es jedoch keine klare Antwort, keine gemeinsame Organisierung dieser Kräfte gibt, ist es bislang ein Leichtes für die AKP, die Spaltung unter denen auszunutzen, die sie selbst unterdrückt.

So wachsen momentan Proteste der hauptsächlich alevitischen Minderheit im Süden der Türkei gegen Flüchtlingsunterkünfte an, die dort gebaut werden sollen. Die syrischen Flüchtlinge seien nur Islamisten, die weiter Chaos in der Türkei stiften würden, behaupten sie. Die wahren Islamisten sind aber mit Sicherheit weiterhin jenseits der Grenzen und kämpfen gut ausgerüstet mit den Waffen, die mit Duldung der AKP-Regierung über die Grenze geschmuggelt werden. Die Aleviten sind selbst eine unterdrückte Minderheit in der Türkei, die viel soziale Benachteiligung erleben und in Städten wie Istanbul gut organisiert sind und ganze Stadtteile kontrollieren.

Jedoch ist auch in diesen die Verfolgung und öffentliche Demütigung von linken Gruppen, Prostituierten und DrogenkonsumentInnen an der Tagesordnung. Eine tiefe Spaltung prägt die Linke in der Türkei, sei es in der Frage, ob Assad nicht eigentlich als Vertreter einer religiösen Minderheit verteidigt werden müsse, oder ob die Autonomiebestrebungen der KurdInnen das türkische Vaterland zerteilen und dadurch schwächen wollen.

Ein geringer Teil der fortschrittlichsten Gruppen versucht nach wie vor die Perspektive und den unbedingten Kampf der ArbeiterInnenklasse als einziges Mittel eines revolutionären Kampfes gegen die Regierung zu betonen. Doch auch diese Gruppen haben nur geringen Einfluss beziehungsweise werden durch die stalinistischen Traditionen in der türkischen Linken als gefährliche Spalter und Sektierer dargestellt. Doch sie dürfen sich nicht entmutigen lassen!

Innerhalb der HDP ist es heute umso wichtiger, die Hegemonie der kurdisch-nationalistischen Führung herauszufordern und öffentlich vorzuführen, dass sie im Grunde keine Perspektive zu bieten hat für all diejenigen, die aktuell unterdrückt werden und in Frieden und Gerechtigkeit leben wollen. Zugleich ist es ein extrem wichtiger Schritt, eine geschlossene Einheitsfront gegen die Angriffe der AKP auf die KurdInnen, die Presse und alle demokratischen Rechte zu bilden, um mit vereinter Kraft zu verhindern, dass die Türkei weiter in den Bürgerkrieg hineinrutscht.

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Nr. 208, April 2016

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