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Der Marxismus und die "Judenfrage"

XXIV. Marx selbst war Jude, entstammte aber einer assimilierten, aufgeklärten Familie. Er zeigte sehr wenig Sympathie für die alte Ghettokultur des Ostjudentums. Dazu identifizierte er noch in den frühen 40er Jahren den Judaismus als die Verkörperung des kapitalistischen Geistes (das Christentum war für ihn nur eine weniger reine Form der gleichen Sache). Das bedeutet nicht, dass Marx Antisemit oder dem Selbsthass verfallen gewesen wäre, wie zionistische Apologeten behaupten. Es bedeutet, dass weder Marx noch Engels eine "moderne", d.h. wissenschaftlich-materialistische Analyse der Judenfrage unternahmen.

Die Gründe dafür waren einfach. Beide unterstellten einen geradlinigen Assimilationsprozess der Juden gemäß der Entwicklung des Kapitalismus. Die jüdische Kultur war für sie ein mittelalterliches Fossil, ein reaktionäres Überbleibsel, das in der modernen bürgerlichen Kultur aufgehen würde. Marx starb gerade zu jenem Zeitpunkt, als der moderne Antisemitismus entstand.

Engels und seine Schüler in der deutschen Sozialdemokratie verurteilten ihn als "Sozialismus der Dummköpfe", nämlich als falschen, demagogischen "Antikapitalismus". Gemäß dieser Auffassung verurteilte die II. Internationale in ihren frühen Jahren Antisemitismus und Philosemitismus gleichermaßen; sie verurteilte den beginnenden Zionismus ebenso wie die zaristischen Pogrome und Anti-Dreyfus-Reaktionäre in Frankreich. Jean Jaurès und Rosa Luxemburg traten beide für eine aktive Teilnahme der Arbeiterbewegung am Kampf gegen den Antisemitismus ein. Die marxistische Analyse der Judenfrage und des Zionismus sollte im Werk von Lenin, Kautsky und später Trotzki erst tatsächlich ihre Grundlage erhalten.

XXV. Lenins Haltung zur Judenfrage kristallisierte sich im Konflikt mit den Führern des jüdischen "Bund" heraus. Der "Bund, 1897 gegründet, begann in den 90er Jahren als Bewegung unter den jüdischen Arbeitern, die in Polen unter der Herrschaft des Zaren lebten. Der Bund lehnte den Zionismus als reaktionäre Utopie ab, das heißt, er verlangte die volle politische Emanzipation der Juden in Russland als Teil des Kampfes der Arbeiterbewegung gegen den Zarismus. Auf dem Zweiten Kongress der russischen Sozialdemokratie stellte sich der Bund gegen die Auffassung einer zentralisierten Partei für das ganze Russische Reich. Lenin opponierte gegen die Idee der föderativen Partei, die aus politisch autonomen Sektionen bestünde. Stattdessen schlug er vor, dass der Bund Agitation und Propaganda auf Jiddisch in den Gemeinden der jüdischen Arbeiter im Ghettogebiet durchführen sollte - jedoch als Teil der sozialdemokratischen Gesamtpartei und ihren Kongressen und. Leitungsorganen unterstellt. Zusätzlich dazu trat Lenin für das Recht der Nationalitäten Russlands auf Selbstbestimmung und Lostrennung - sofern sie dies wünschten - ein; ebenso wie für den freien Gebrauch und die Ausübung ihrer Sprache auf den staatlichen Schulen und im öffentlichen Leben als Methode des Kampfes gegen jegliche nationale Unterdrückung. Lenins Ziel war nicht die Schaffung eines Flickwerks von Nationen als positiver Endzweck, sondern die Beendigung der nationalen Unterdrückung als trennender Faktor zwischen der Arbeiterklasse aller Nationen. Nur wenn das Proletariat aktiv gegen Privilegien, Zwang und Betrug kämpfte, konnte es dies erreichen.

Der Bund beanspruchte jedoch ein ausschließliches Recht auf die Organisierung jüdischer Arbeiter im ganzen Zarenreich, sogar dort, wo sie nur eine verschwindende Minderheit darstellten. Die Russen und die anderen Nationen würde er den anderen Sozialisten überlassen. Dies führte ihn dazu, das austromarxistisch Programm der "national-kulturellen Autonomie" anzunehmen - zur Vereinigung der verstreuten Juden durch die Forderung nach getrennten Schulen und kulturellen Einrichtungen. Lenin wies dies als eine positive Annahme des Nationalismus zurück und nannte die Bundisten "nationalistische Sozialisten". Trotzki wich diesbezüglich niemals von Lenins Ansicht ab.

Die Bolschewiki führten einen unermüdlichen Kampf gegen die Schwarzhundertschaften und Pogromhetzer, wobei sie Verteidigungsabteilungen befürworteten und organisierten. Lenin erläuterte die spezifische Unterdrückung der jüdischen Arbeiter und deren Konsequenz - die Notwendigkeit einer engsten Einheit zwischen den Arbeitern aller Nationalitäten. In diesem Zusammenhang war er ein unversöhnlicher Gegner von Otto Bauers Losung der nationalkulturellen Autonomie, insofern diese dahin neigte, jede Arbeiterklasse mit ihrer eigenen Bourgeoisie zu vereinigen und sie von ihren Klassenbrüdern und -schwestern der anderen Nationalitäten zu trennen. Lenin beharrte darauf, dass die Marxisten sich selbst auf die "internationale Kultur der Demokratie und der Weltarbeiterbewegung" stellen müssten. Diese sei keine abstrakte, unnationale Kultur, sondern eine, die "von jeder nationalen Kultur nur deren demokratische und sozialistische Elemente aufgreift; wir übernehmen sie einzig und absolut in Opposition zu dem bürgerlichen Nationalismus jeder Nation". Daher ist, obwohl die Juden nach Lenins Worten "die am meisten unterdrückte und verfolgte Nation" sind, die Losung der Nationalkultur auch bei ihnen "die Parole der Rabbiner und der Bourgeoisie". Schlimmer noch, sie neigt dazu, die Verherrlichung der Ergebnisse der Unterdrückung in Russland und Galizien, "rückständigen und halbbarbarischen Ländern", zu werden, wo die Juden "gewaltsam im Zustand einer Kaste gehalten werden". Lenin weist auf die andere Seite der jüdischen Kultur hin, wo die Juden ihre Emanzipation erreicht haben: "Dort sind die großen, in der Welt fortschrittlichen Züge der jüdischen Kultur klar enthüllt, ihr Internationalismus, ihre Identifikation mit den fortgeschrittenen Bewegungen der Epoche." (Kritische Anmerkungen zur Nationalen Frage)

Lenin war daher ein konsequenter Integrationalist. Er war absolut gegen jede Zwangsassimilierung an die russische Nationalität und gegen jegliche kulturellen oder sprachlichen Privilegien für die vorherrschende oder majoritäre Nation und Sprache; hinsichtlich der Minderheiten und unterdrückten Völker trat er für eine volle Unterstützung und Erleichterungen bezüglich ihres ungehinderten kulturellen und sprachlichen Lebens ein. Die Arbeiterorganisationen sollten jedoch die demokratischen und proletarischen Komponenten dieser Kulturen in einer allgemeinen, internationalen Kultur integrieren, die jegliches nationalistische Spießertum und Abgesondertheit - sogar bei den unterdrückten Völkern - überwinden konnte.

XXVI. Karl Kautsky widmete eine Arbeit, "Rasse und Judentum", im Jahr 1914 der Judenfrage. Kautsky machte die sozialen Wurzeln des Antisemitismus in dem verzweifelten Kleinbürgertum aus, das vom Großkapital in Industrie, Handel und Bankwesen zerrieben wurde, aber aufgrund seiner eigenen organischen Verbindung mit dem Privateigentum unfähig war, den Kapitalismus insgesamt zu bekämpfen. Kautsky meinte vor 1914, dass "die Juden in Galizien und Russland mehr eine Kaste als eine Nation darstellen und die Versuche, das Judentum als Nation zu konstituieren, Versuche sind, eine Kaste vorzustellen". Noch stärker verläuft in den Ländern, in denen sie politisch vollkommen emanzipiert wurden, der Assimilationsprozess mittels Mischehen und Verweltlichung oder durch die Entwicklung des Judaismus zu einer bloßen Religionsgemeinschaft. Kautsky fährt fort, um das Siedlungsprojekt in Palästina als Utopie aufzuzeigen.

Hier ist jedoch seine Argumentation am schwächsten, denn er unterschätzt und ignoriert zwei miteinander verbundene Tatsachen: Die Unterdrückung der Juden durch den russischen Staat, durch antisemitische Pogromhetzer und das Erlassen von rassistischen Einwanderungsgesetzen in den "fortgeschrittenen" Demokratien schufen - und sollten zusehends schaffen - einen enormen Druck in Richtung "Exodus". Zweitens fand der Imperialismus selbst für die Auswandererbevölkerung Verwendung. Er hatte sie historisch als zusätzliche Reservearmee an Arbeitskräften in den unabhängigen Ländern und zur Besiedlung und Besetzung wertvoller Kolonien gebraucht. Diese zweite Aufgabe rückte im späten 19. und im 20. Jahrhundert in den Vordergrund, besonders in Südafrika und Rhodesien, wo wichtige Rohstoffe (Gold, Diamanten, Kupfer, etc.) vor den "Eingeborenen" bewacht werden mussten.

Kautsky, der schon vor 1914 eine tolerante, versöhnliche Haltung gegenüber der austromarxistischen Position zur Nationalitätenfrage eingenommen hatte, neigte daher auch zu einer positiveren Einschätzung des Nationalismus als Lenin. Im Fall der Juden beharrte er jedoch darauf, dass sie keine Nation seien. Lenin war niemals so dogmatisch und bezeichnete sie manchmal als Nation, Nationalität oder Volk. Für Kautsky entsprang eine positive Haltung der Tatsache einer nationalen Existenz selbst. Für Lenin und Trotzki bestand das Problem darin, wie die Hindernisse für den Internationalismus, die jede Form von Unterdrückung - rassische, nationale oder religiöse - darstellten, zu überwinden seien.

XXVII. Trotzki, obwohl selbst Jude, entstammte einer russischsprachigen Familie und verfügte über keine Erfahrung mit der spezifisch jüdischen Arbeiterbewegung. Erst in den 30er Jahren widmete er dieser Frage besondere Aufmerksamkeit, nachdem er nach eigenem Eingeständnis bislang angenommen hatte, dass, sobald der rückständige, halbfeudale Zarismus einmal verschwunden sei, die Juden mühelos in eine moderne demokratische Gesellschaft assimiliert würden. Ab den 30er Jahren jedoch war er zur Erkenntnis gezwungen, dass der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus und Epoche seines Todeskampfes, den Antisemitismus wiederbelebte.

Das Übergangsprogramm verpflichtete die Vierte Internationale und ihre Sektionen zu "einer kompromisslosen Enthüllung der Wurzeln von Rassenvorurteilen und aller Formen und Schattierungen nationaler Arroganz und des Chauvinismus, insbesondre des Antisemitismus" als Teil der alltäglichen Arbeit der Sektionen der Vierten Internationale. So eröffnete die SWP in den USA eine energische Kampagne gegen die rassistischen Einwanderungsquoten und für die Losung der freien Einwanderung aller Juden, die vor Hitler vor, während und nach dem Krieg geflohen waren.

Trotzki blieb jedoch ein unbeugsamer Gegner des Zionismus. Er nannte Palästina "eine tragische Illusion" und wies darauf hin, dass die Entwicklung der militärischen Ereignisse zwischen dem deutschen und britischen Imperialismus, (d.h. ein Sieg der Nazis) "Palästina sehr wohl in eine Todesfalle für einige hunderttausend Juden verwandeln könne". Auf kurze Sicht sollte sich diese Befürchtung nicht erfüllen, aber Trotzkis andere Voraussage, dass der Krieg die Gefahr der physischen Ausrottung der Juden mit sich bringen würde, war nur allzu gut begründet.

Nach dem Krieg verfolgte die Vierte Internationale weiterhin Trotzkis Strategie des Kampfes um die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge in alle imperialistischen Länder, die noch immer trotz des Holocaust ihre rassistischen Einwanderungsgesetze und Quoten aufrechterhielten. Dazu stand die Vierte internationale jedoch auf der Seite der arabischen Massen bei dem Kampf gegen den zionistischen Chauvinismus und das Projekt der Schaffung eines jüdischen Staates durch den Raub des besten Ackerlandes und der wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen des Landes an der palästinensischen Mehrheit. Sie verurteilte den utopischen und reaktionären Charakter des Zionismus; reaktionär aufgrund dessen, da die Vorstellung einer autarken wirtschaftlichen Entwicklung eines jüdischen Palästina vor dem Hintergrund des sich im Todeskampf befindlichen Kapitalismus unmöglich sei. (Hier sollte sich die Vierte internationale zumindest für eine ganze Periode irren, aber dies war ein allgemeines Problem ihrer Perspektiven.) Er würde niemals fähig sein, die arabische Bevölkerung des Landes und der ganzen Region durch jüdische Einwanderer allein zahlenmäßig zu übertreffen. Er würde gänzlich von den imperialistischen Großmächten abhängig sein - ein Bauer in ihrem Spiel um die Kontrolle der arabischen Welt. Schließlich und endlich konnte er keine Antwort auf den Antisemitismus, der im Kapitalismus in seiner imperialistischen Epoche wurzelt, geben. Sein reaktionäres Wesen war in seiner pro-imperialistischen Rolle zu finden, da er die jüdischen und arabischen Arbeiter nach Rassengrenzen spaltet und die Unterordnung dieser unter ihre eigene Bourgeoisie und feudalen Ausbeuter mit den Mitteln des Nationalismus fördert, da er den Kampf der arabischen Bauern durch seine Ablenkung von den feudalen Grundbesitzern (den Effendis) auf die zionistischen Landräuber schwächt. Zuletzt hindert er die jüdischen Proletarier an der Teilnahme am Klassenkampf auf internationaler Ebene, wo er sie den Phantasien einer Einwanderung nach Palästina überlässt.

Die Vierte internationale verteidigte das Selbstbestimmungsrecht der gesamten Bevölkerung Palästinas und rief zur Vertreibung der Briten und der Einberufung einer souveränen Konstituierenden Versammlung auf, um über alle Probleme - einschließlich des Rechts auf Einwanderung und der Kontrolle darüber - zu entscheiden.

Nach dem Krieg jedoch nahm die Vierte Internationale fälschlicher Weise eine Position des Defätismus auf beiden Seiten im "Unabhängigkeitskrieg" von 1948/1949 ein. Dies hauptsächlich deshalb, weil während der Periode der wirtschaftlichen Prosperität im Laufe des Krieges ein verstärktes Auftreten gemeinsamer Aktionen von jüdischen und arabischen Arbeitern in Palästina zu erkennen war. Sie glaubte, dass der Unabhängigkeitskrieg, auf der einen Seite von den Zionisten, auf der anderen von den feudalen Landeigentümern der Arabischen Liga geführt, eine reaktionäre Ablenkung der jüdischen und arabischen Arbeiter vom Klassenkampf bedeute.

In Wirklichkeit mussten diese speziellen Bedingungen des II. Weltkrieges zwangsläufig zusammenbrechen - und damit die schwache Basis von Einheit und Integration. Die IV. Internationale unterschätzte die Bedeutung der vom Imperialismus getragenen Offensive in der Region und den revolutionär-demokratischen Kampf gegen den Zionismus als Teil des Klassenkampfes. Es wäre wichtig gewesen, für bewaffnete Selbstverteidigungskomitees in den arabischen Dörfern und Städten zu agitieren, für militärische Koordination mit den Kräften der Arabischen Liga, aber ohne deren eigenem annexionistischen Ziel irgendeine politische Unterstützung zu geben.