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Der Aufstand und die Analyse der Linken, Teil 2

Revolutionärer Marxismus 10, Winter 1993/1994, wieder veröffentlich Juni 2011

Im abschließenden Teil der Analyse des Juni 1953 führen wir die Untersuchung an weiteren, sich auf den Trotzkismus berufenden Strömungen fort und skizzieren die Eckpfeiler eines kommunistischen Aktionsprogramms.

Die deutsche Einheit und die SPD

Aus Anlass des Brandt-Besuchs 1970 in Erfurt untersuchte die IKD (1) die Rolle der deutschen Frage im Allgemeinen und der SPD im Besonderen (2). Der Autor, P.B. (3), führte die spontane Demonstration vieler DDR-Bürger für Brandt bei dessen Besuch in Erfurt darauf zurück, dass der SPD-Vorsitzende und seine Regierung der „Kleinen Koalition“ (SPD/FDP) einen grundlegenden Wechsel in der BRD-Politik anzubahnen schienen. Dies ist richtig, bedeuteten doch die Reiseerleichterungen einen Fortschritt gegenüber dem früheren Zustand, dass sich seit Jahrzehnten getrennte Familien z.B. erstmals wieder treffen konnten. Diesen Aspekt der 'Neuen Ostpolitik' konnten und mussten zweifellos auch revolutionäre Kommunisten kritisch unterstützen. Gleichzeitig aber mussten sie den entscheidenden Teil de Strategie des BRD-Kapitals entschieden ablehnen: den Versuch, über „friedliche Wirtschaftsbeziehungen“ die Grundlagen des degenerierten Arbeiterstaats DDR aufzuweichen, sie in technologische und wirtschaftliche Abhängigkeit zu bringen (Verschuldungsfalle, zunehmende Produktion für Devisen).

Der Artikel der IKD gelangt zu einer grob-richtigen Einschätzung des Charakters des Aufstands vom 17. Juni 1953: Bourgeoisie und SED hätten ihn als antikommunistischer Volksaufstand bzw. konterrevolutionärer Putschversuch verfälscht.

Trotz fehlender revolutionärer Führung und entwickelter Arbeiterräte wie in Ungarn und Polen 1956  wies die Dynamik in eine fortschrittliche Richtung: "Welches Phänomen man auch betrachtet: das Verhalten der einzelner Klassen und Schichten zur Aufstandsbewegung, die Disziplin der Demonstranten, die Losungen und Forderungen, alles beleuchtet den Charakter des 17. Juni als Beginn der politischen antibürokratischen Revolution des Proletariats" (4).

Viel weiter können wir dem Schreiber aber schor nicht mehr folgen. So suggeriert er auf S. 55, dass das vorherrschende Bewusstsein der ostdeutschen Arbeiter - wie 1970 in Erfurt - pro SPD gewesen sei und zitiert als Beispiel das Transparent der Magdeburger Eisenbahner. Illusionen in die SED, in der die Ost-SPD ja aufgegangen war, waren mindestens gleichrangig vertreten. Aber zugegeben, natürlich waren Illusionen in die (West-) SPD stark ausgeprägt. Wie lässt sich das erklären?

“Die Fixierung großer Teile des ostdeutschen Proletariats auf die Sozialdemokratie stammt aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als die SPD als reformistische Arbeiterpartei durchaus noch gewisse Kämpfe initiierte, die sie dann zwar sämtlich verriet und abwürgte, ihr aber dennoch ein qualitativ anderer Charakter zu Eigen war als heute. Damals übte sie gerade deswegen eine solche Faszination auf die ostdeutschen Arbeiter aus, weil ihr Eintreten für ein unter der Führung der SPD wiedervereinigtes Deutschland auf demokratisch-sozialistischer Grundlage diesen die einzige realistische Alternative zur Stabilisierung des westdeutschen Imperialismus und des Stalinismus in der DDR zu sein schien. Das Auftreten der SPD gegen die Westintegration, die Wiederbewaffnung und das Betriebsverfassungsgesetz, gegen die NATO und die geplante Atombewaffnung fand daher die wärmste Sympathie der ostdeutschen Arbeiter, die darin einen Beweis für ihr wahrhaft sozialistisches Wesen sahen." (5)

Zunächst einmal stammt die Fixierung auch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, denn wie groß auch immer der Druck der SPD-Basis im Osten für eine Vereinigung mit der KPD gewesen ist, so verhinderte deren bürokratische Durchführung doch, dass sie aus 'eigener Kraft' einen politischen Bruch mit dem sozialdemokratischen Reformismus vollziehen konnte. Zweitens war doch aber 1970 die SPD - gemäß der IKD - schon keine reformistische Arbeiterpartei mehr, sondern seit dem Parteitag in Bad Godesberg 1959 eine offen bürgerliche Partei wie die Demokraten in den USA ('Volkspartei der kleinen Leute'). Und für diese schwärmten die Erfurter Demonstranten! Die angeblich neue Qualität existiert einfach (noch) nicht: Weder führte die SPD - v.a. vermittelt über die Gewerkschaftsbürokratie - nach 1959 keine politischen Kämpfe mehr (Notstandsgesetze, Barzel-Coup, Friedensbewegung gegen die Nachrüstung, § 116), noch strich sie das Lippenbekenntnis zum 'demokratischen Sozialismus' aus dem Godesberger oder selbst dem jüngsten Irseer Grundsatzprogramm. In der Praxis unterwarf sich die Partei zudem schon immer nach dem Weltkrieg der Westintegration! Besonders deutlich wird das an ihrem Verhalten 1953 selbst, wo sie sich voll und ganz in die Bürgerfront einreihte und jede Arbeitersolidarität in der BRD und Westberlin im Keim unterdrückte!

Wie rechtfertigt denn die IKD darüber hinaus nachträglich den Integrationsentrismus der deutschen Sektion, in der ihre Genossen und Genossinnen ja tätig waren, also in einer offen bürgerlichen Partei bis 1969? Die Antwort kennt nur der Wind! Die sektiererische Position in Bezug auf die SPD paarte sich also mit einer opportunistischen Praxis und Schönfärberei der 'guten, alten' SPD. 1972 zerbrach sie dann nicht zufällig, als massive politische Demonstrationen und Streiks für die SPD gegen das Misstrauensvotum der CDU/CSU unter Barzel ihr Konzept ad absurdum führten. Viele Genossinnen und Genossen fanden da individuell den Weg zurück in die SPD!

1959 in Godesberg änderte die SPD also nicht ihren grundlegenden Charakter als reformistische Arbeiterpartei. Der kann erst dann verschwinden, wenn die organische Beziehung zu den Gewerkschaften gekappt wird. Dann wird aber wahrscheinlich von der Partei nicht viel überbleiben, organisiert sie doch im Gegensatz zu den US-Demokraten keinen einflussreichen Flügel der Bourgeoisie. Es änderte sich 1959 aber ihre Rhetorik, passte sich längst eingeübter Praxis an. NATO und Westintegration wurden akzeptiert, der „3. Weg“ zum bürgerlichen, neutralen Gesamtdeutschland und die formale Klassenrhetorik, der Bezug auf den Marxismus, aufgegeben ('Volkspartei'). Die deutsche Spaltung verlieh dem Konflikt zwischen beiden reformistischen Arbeiterparteien (SPD und KPD) eine besonders aggressive Note. In einem Land mit zwei verschiedenen Gesellschaftsordnungen bekommt die 'normale' innerreformistische Konkurrenz den Charakter eines Auslöschungskriegs, um jeden Brückenkopf der anderen Produktionsverhältnisse in der `eigenen' Landeshälfte zu liquidieren.

In der BRD richtete sich der extreme Antikommunismus der SPD stets mehr gegen die KPD und die DDR, verhinderte jede Aktionseinheit von vornherein (Gewerkschaftsverbot für KPDIer 1951, Debatte über Parteienvereinigung usw.), als dass ihr „demokratischer Sozialismus“ sich gegen die offen bürgerliche Adenauer-Regierung oder die Westalliierten wandte! Die schwere politische Niederlage 1952, als der Generalstreik gegen das Betriebsverfassungsgesetz von der DGB-Spitze abgeblasen wurde, drückte das politische Bewusstsein der BRD-Arbeiterschaft auf ein strategisch tiefes Niveau. Diese Faktoren machten den Weg frei für Bad Godesberg und eine im europäischen Vergleich seitdem extrem rechte Sozialdemokratie, die sich mit dem widerstandslosen Überbordwerfen funktionslos gewordener Formeln das Ticket für spätere Regierungsreife im Bonner Staat erwarb. Man darf also nicht ins nostalgische Ultralinkstum der IKD gegenüber der SPD verfallen, das die Oberfläche (verbaler Marxismus oder nicht) zum entscheidenden Kriterium macht, muss ihr gleichzeitig aber doch zugestehen, dass sie die Bedeutung der beiden Niederlagen (BetrVG, 17. Juni) korrekt einschätzte:

"Die Jahre 1952/53 bedeuteten eine entscheidende Niederlage der deutschen Arbeiterklasse und ermöglichten die weitere Zementierung der deutschen Spaltung. Sie leiteten jene Demoralisierung ein, die seitdem jeden politischen Klassenkampf verhinderte (...). Auf deutschem Boden und durch das Mittel der deutschen Spaltung haben Imperialismus und Stalinismus ihre Machtsphären gesichert. Die Liquidierung des Klassenbewusstseins in seiner politischen Form kann von der Spaltung Deutschlands unmöglich getrennt werden. Nicht zufällig bilden BRD und DDR in ihrem Machtbereich den jeweils stabilsten Faktor." (6)

Dem Autor P.B. müssen wir auch heute noch zugute halten, dass er die revolutionäre Rolle des Trotzkismus bezüglich der deutschen Frage hervorhebt. Er irrt aber darin, dass es außer den Trotzkisten keine andere internationale Tendenz der Arbeiterbewegung gab, die für das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und gegen die These von der Kollektivschuld eintrat. Der Ehrlichkeit halber müssen wir zumindest als nationale Tendenz die Gruppe um August Thalheimer und Heinrich Brandler erwähnen (7).

Unser IKD-Theoretiker führte zu Recht den extrem niedrigen Stand der Klassenkämpfe als Ursache für das Desinteresse zumindest des westdeutschen Proletariats an der Wiedervereinigungsfrage ins Feld. Klar ist, dass diese nur in einer Zeit sich verschärfender Klassenkämpfe den zentralen Punkt in der Radikalisierung der deutschen Arbeiterschaft bilden hätte können. Den fortgeschrittensten Arbeitern mussten Revolutionäre nichtsdestotrotz schon damals mit den wesentlichen Perspektiven der deutschen Revolution gegenübertreten! Aber was leisteten hier die IKD und dieser Aufsatz?

"Im Verlauf des Kampfes gegen die Bourgeoisie in der BRD und gegen die Bürokratie in der DDR wird sich die zentrale Losung der revolutionären Wiedervereinigung konkretisieren." (8)

Außer konkreten Einzelforderungen wie Abzug der ausländischen Truppen, vollständige Versammlungs-, Koalitions- und Bewegungsfreiheit für die Arbeiterklasse in ganz Deutschland finden wir keinen Versuch, ein Aktionsprogramm für die damalige Lage in Angriff zu nehmen, das im strategischen Ziel der gesamtdeutschen Arbeitermacht gipfelt. Diese beständige Aufgabe für Kommunisten wird nicht einmal als Anspruch formuliert! Und bis auf die Feststellung, 1953 habe es in der DDR an einer revolutionären Führung gefehlt, gibt es keinen Vorschlag, um welche Achsen und Antworten sie sich denn hätte bilden sollen. Es werden keine Lehren gezogen, die einer zukünftigen Vorhut, einer trotzkistischen Partei schneller zur Geburt verhelfen und Perspektiven für eine erfolgreiche Machtergreifung ihrer Klasse an die Hand geben können. Lassen wir's bei der Feststellung bewenden, dass dies beim falschen Parteiaufbau- und Programmverständnis der IKD auch gar nicht möglich war.

Eine Analyse der OCI/IAK

Im Artikel "Die Wahrheit über den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR" (9) untersucht ein Sympathisant der französischen lambertistischen (10) Gruppe OCI (Organisation Communiste Internationaliste) die Ereignisse des Juni 1953, aber auch seine Vorgeschichte einschließlich der Gründung der DDR sowie der Besatzungspolitik der UdSSR.

Der Autor verweist zu Recht auf die konterrevolutionäre Kollaboration der Sowjetunion mit den westlichen Besatzungsmächten und dass diese keineswegs die Absicht hatte, ein planwirtschaftliches System einzuführen. Erst unter dem Zwang, ihre Reparationsforderungen nur noch in der Ostzone befriedigen zu dürfen, sei die SU zur Gründung von Plankommissionen und der Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) und nach der Währungsreform in der Ostzone 1948 zu langfristiger Planung übergegangen. Unklar bleibt bei seiner Beschreibung, ab wann die DDR ein degenerierten Arbeiterstaat war. Nach unserer Meinung handelte es sich 1946 um Lenkungsversuche in einer staatskapitalistischen Wirtschaft (gemeinsame Währung mit dem Westen, kein Außenhandelsmonopol etc.) und 1948 um den Beginn einer zweijährigen Übergangsphase, an dem eine bürokratisch-antikapitalistische Arbeiterregierung die Transformation vom Kapitalismus zur Planwirtschaft einleitete. (11)

An Faktenreichtum übertrifft dieser Artikel alle von uns rezensierten. Details wie jenes, dass die sowjetrussische Besatzungsmacht die beim Herannahen der Roten Armee gebildeten sozialdemokratischen und kommunistischen Gruppen wieder auflöste und antifaschistische Parteien erst nach dem Eintreffen der Gruppe Ulbricht zuließ, findet man ansonsten nicht so leicht.

Lang und breit lässt er sich über den wirtschaftlichen Unsinn sowie die verheerenden Folgen der Demontagen auf das Klassenbewusstsein der ostdeutschen Arbeiter aus. Äußerst aufschlussreich sind die Passagen über Betriebsräte und Gewerkschaften. Die Betriebsräte waren in den Großbetrieben zugleich Arbeitervertretung und Verwaltungsorgan; sie entschieden über die zu leistende Arbeit, Produktionsmenge, Verbindungen zu anderen Betrieben usw. Als zweite Macht existierte daneben die Militäradministration, die sich alle Bereiche der Gesellschaft unterordnete, die die Betriebsräte unbeachtet gelassen hatten: zentrale und lokale Verwaltung. Die Illusionen vieler Arbeiter auf ein friedliches Nebeneinander in der Doppelmacht zerstörten die Demontagen gründlich. Die staatliche Autorität erklärte die von den Arbeitern übernommenen Fabriken als besitzerlos; die Gemeindeverwaltungen ernannten Verwaltungsdirektoren zur obersten Autorität in der Fabrik. Den Betriebsräten blieb nur noch ein Recht auf Mitbestimmung.

Gleichzeitig wurde in Berlin ein zentrales Gewerkschaftskomitee gebildet, das die örtlichen, spontan entstandenen Gewerkschaftsgruppen unter seine Kontrolle nehmen sollte. Diese waren zunächst nur auf zweitrangige Aufgaben beschränkt: Kantinenverwaltung, Lebensmittelverteilung etc. Unser Verfasser sieht die Niederlage der Betriebsräte-Bewegung zurecht in objektiven Faktoren (chaotische Wirtschaftslage, Naturaltausch), aber auch subjektiven begründet: Ihnen fehlte eine Führung, die ihre Errungenschaften verteidigt und die Doppelmacht dadurch aufgelöst hätte, dass sie sich zu wirklichen Arbeiterräten entwickelten, die die Geschicke der ganzen Gesellschaft in die Hände hätten nehmen können.

Mit der Vereinigung von SPD und KPD, die der OCI-Sympathisant zu einseitig als von den Stalinisten ausgeübten Zwang interpretiert, erlangte die SED das Monopol über die Gewerkschaften und schaffte sofort das Streikrecht ab! Die Betriebsräte leisteten passiven Widerstand (Verweigerung der Zusammenarbeit, Diebstahl, Schwarzmarktgeschäfte zur Aufbesserung der Werkskantinen usw.). Die Bürokratie brauchte aber ihre Mitwirkung als anerkannte Arbeitervertretung in der einsetzenden Produktionsschlacht. Als sie das verweigerten, schränkte sie 1947 zunächst ihre Befugnisse ein, um sie 1948 mit Beginn des 2-Jahresplans ganz zu beseitigen. Nun übernahmen die Gewerkschaften diese Aufgabe, organisierten die Stachanow-Hennecke-Aktivistenbewegung und den 'Wettbewerb' (und damit die Zersplitterung der Arbeiterschaft durch verzweigte Lohndifferenzierung im Akkordsystem), bereiteten die Diskussion von Betriebsplan und Betriebskollektivvertrag vor, beteiligten sich an der Festlegung der Arbeitsnormen und an der Regelung der Konflikte zwischen Direktor und Belegschaft. Trotz ihrer Umwandlung in Transmissionsriemen von der Bürokratie zur Arbeiterschaft versuchten sie aber doch, den Forderungen der Arbeiter hier immer wieder Ausdruck zu verschaffen, so in den von den Gewerkschaften geschaffenen Organisationsformen der Brigade (Arbeitskollektiv). Dies veranlasst die Partei, 1950 ihre Gewerkschaftskader durch gefügigere Leute weitgehend zu ersetzen.

1951 wurden die Betriebskollektivverträge (BKV) eingeführt, die bedeutende Verschlechterungen gegenüber den alten Tarifverträgen mit sich brachten. Dagegen erprobten die Arbeiter zum ersten Mal ihre Kraft gegen das neue System, so dass die Regierung in einer Pressekampagne gegen die Gewerkschaften zu Felde zog, die sie vorher als Schrittmacher bei der Einführung der BKV bezeichnet hatte! Daraufhin sollten hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre in die Betriebe versetzt werden. Dieser Plan scheiterte am hartnäckigen Widerstand dieses um seine Privilegien fürchtenden Kontingents, so dass viele Betriebsgewerkschaftsleitungen neu gewählt werden mussten. Dies bekam für den Aufstand eine wichtige Bedeutung, lösten doch die Arbeiter das entscheidende erste Problem, nämlich sich zu versammeln, oft, indem sie die Betriebsgewerkschaftsleitungen anriefen, so taten, als handele es sich beim Anrufer um einen Vorgesetzten, und eine Belegschaftsversammlung einberufen ließen!

Weit kritischer als etwa Mandel verhält sich der lambertistische Genosse gegenüber dem aktuellen Bewusstsein der Aufständischen. Dokumentierten einesteils die Reden der Bauarbeiter am 16. Juni vor dem Haus der Ministerien eine Spontaneität, die den Konflikt um Normen und Preise schon überschritten hatte, so zeigten sich auch zugleich deren Grenzen. Nach dieser Kampfansage folgte nämlich erst einmal eine Zeit des Zögerns und der Unsicherheit bis zur Idee mit dem Aufruf zum Generalstreik. Neben Rundfunk- und Lautsprecherdurchsagen, der Mobilität der Bauarbeiter etc. kam der Ausbreitung des Generalstreiks auch der glückliche Zufall zu Hilfe, dass das Politbüro auf seiner Tagung am Vormittag des 16. Juni die Situation unterschätzte. Im Glauben, dass den Demonstrationen des Vormittags dadurch die Grundlage genommen sei, da die Partei Verhandlungsbereitschaft über die Normenerhöhung signalisiert hatte, blies sie die für denselben Abend anberaumte Parteiaktivtagung im Friedrichstadtpalast nicht ab.

Staatssicherheitsminister Zaisser bestellte sogar viele Abteilungs- und Dienststellenleiter zur Unterstützung de Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre nach Berlin, daneben auch noch viele Wirtschaftsfunktionäre, um über die Umstellungen des Plans nach dem „Neuen Kurs“ beraten zu können. Am nächsten Tag war der ganze Staatsapparat den Ereignissen hilflos ausgeliefert, zumal die Tagung ideologisch keinerlei Vorbereitung für die Auseinandersetzungen lieferte, weil sie nur über die Gewährung von Konzessionen an die Mittelschichten und Kirchen debattierte.

Am Beispiel der Leuna-Werke und Bitterfelds verdeutlicht der Verfasser die ergriffenen Maßnahmen, Widersprüche und Illusionen. Die Belegschaftsversammlung wählte ein Streikkomitee und forderte die Auflösung der SED-Parteizelle. Der Streikausschuss setzte den Direktor ab, übernahm Notdienst und Sabotagesicherung. 20.000 Chemiewerker forderten: Schluss mit der Normenkampagne, Entwaffnung der Werkspolizei, Absetzung der BGL, Streichung des Namens 'Walter Ulbricht' aus der Firmenbezeichnung, Rücktritt der Regierung.

Analog zu 1945/46 lag die Macht auf Betriebsebene in Arbeiterhand, nur war diesmal das Bewusstsein klarer ausgeprägt, darüber hinauszugehen. Zu benachbarten Fabriken wurden Beziehungen geknüpft, aber die örtlichen Gegebenheiten drückten doch der Bewegung der nicht auf die Führung vorbereiteten Arbeiterschaft den Stempel auf. Im 'roten' mitteldeutschen Industriegebiet nahmen die Komitees die Verwaltung den Behörden aus der Hand; in Halle wurden der Radiosender und eine Zeitungsdruckerei besetzt. Kampfgruppen schalteten Volkspolizei und Bürgermeister aus; politische Gefangene wurden befreit. Darüber hinaus gab es nur sporadische Versuche, auf nationaler bzw. ortsübergreifender Ebene die Leitung und Bewegung zu zentralisieren (Halle-Bitterfeld, Hennigsdorf, Lauchhammer).

"Wenn nun aber der Aufstand weiter führen und die schon am Vortag gestellte Forderung, der Rücktritt der Regierung und, wie das Komitee in Bitterfeld dann forderte, die Bildung einer Arbeiterregierung verwirklicht werden sollte, so hätte die Bewegung über die einzelnen Städte hinausgehend eine zentrale Führung finden müssen (...) Aber nun waren der spontanen Aktion endgültige Grenzen gesetzt. Denn bis zum 17. Juni hatte die Arbeiterschaft in der DDR hoffen mögen, der stalinistische Apparat ließe sich von innen heraus reformieren. Nun, da sie in einer selbständigen Aktion diesem Apparat mit ihren Klassenforderungen gegenübertrat und sich beide als Todfeinde Auge in Auge blickten, sah sich die Arbeiterschaft vor die unlösbare Aufgabe gestellt, aus sich heraus binnen weniger Stunden eine selbständige zentrale Führung schaffen zu müssen." (12)

Richtig sahen OCl/IAK auch die Motive hinter dem Stillhalten der SPD, der Adenauer-Regierung und der westlichen Alliierten. Sie waren genauso wie die Herrschenden jenseits des 'Eisernen Vorhangs' von dem spontanen Ausbruch überrascht, ein Indiz gegen die SED-These, das SPD-Ostbüro habe neben Faschisten die Revolte provoziert. Dann wäre es sicher logisch gewesen, dass die Sozialdemokraten zu Solidaritätsstreiks im Westen aufgerufen hätten! Die BRD-Regierung und ihre Schutzmächte verfolgten zwar das Ziel der Wiedereingliederung Ostdeutschlands in den Kapitalismus, aber durch wirtschaftlichen, politischen und militärischen Druck auf die Kreml-Bürokratie. Die Kompromissangebote nach Stalins Tod hatten allerdings den Nachteil, dass sie an den Preis der Finnlandisierung Gesamtdeutschlands geknüpft waren, was die USA, Frankreich und Großbritannien und folglich auch Adenauer keinesfalls dulden konnten. CDU-Bundesminister Jakob Kaiser am 16. und Adenauer in seiner Regierungserklärung vom 17. warnten denn auch vor unbedachten Handlungen!

Für Bonn war die deutsche Wiedervereinigung gleichbedeutend mit der Erlangung voller, auch militärischer Bewegungsfreiheit im imperialistischen Lager - für seine 'Verbündeten' ein Alptraum. Für beide stand ein militärisches Eingreifen angesichts der Atombewaffnung der UdSSR (und solange diese sich auf ihre Einflusszone beschränkte) außerhalb des Vorstellungsvermögens, zumal es in dieser Situation zunächst die Gefahr des Ausbreitens der Revolte auf Westdeutschland zu verhindern galt. Die seit Stalins Tod dargebotene Offerte zur Preisgabe der DDR als Arbeiterstaat und weitere 'Öffnungsmöglichkeiten' im Gefolge (Tolerierung eines bürgerlichen vereinigten Deutschlands außerhalb der NATO z.B.) konnten unter einer Parteinahme für die Aufständischen zudem nur leiden. Der Vorwurf der Komplizenschaft zwischen Stalinismus und bürgerlichem Lager bei der Niederwerfung der Arbeiterschaft der DDR und Ostberlins bleibt in diesem allgemeinen Sinn richtig. Falsch und typisch für die lambertistische Stalinophobie ist jedoch die Schlussfolgerung:

"Sie (die Bourgeoisie Westdeutschlands; die Red.) hatte mit dem Stalinismus ein friedliches Auskommen gefunden." (13)

Das stillschweigende Einvernehmen der Bürokraten mit den Imperialisten begünstigte aber sicher auch den spontanen Drang der Rebellen in Richtung deutsche Einheit zu ihren Konditionen, jedoch auch mit ihren Illusionen. Gab es denn dazu im Westen überhaupt Ansätze? Der Artikel erwähnt hier den Massenprotest der HBV (20.000 in München am 20.6.) gegen das neue Ladenschlussgesetz und den stürmischen Beifall für einen Redner im Oktober 1953 auf einer Gewerkschaftsversammlung in Westberlin, der den Generalstreik gegen Adenauer und die Kapitalisten als einzigen Weg für die Solidarität mit den Arbeitern am 17. Juni bezeichnete. Nach der Bundestagswahl im September 1953 richteten die offen-bürgerlichen Wahlsieger schwere Angriffe auf die Gewerkschaften und verlangten eine paritätische Vertretung der kleinen christlichen Tendenz im DGB und den Industriegewerkschaften, was ihnen z.T. auch zugestanden wurde. Dies war die bittere Frucht der Passivität! Die kampflose Niederlage gegen das Betriebsverfassungsgesetz 1952 war außerdem noch in aller Gedächtnis.

Harmlose freie Wahlen?

Das Vorgehen in Bitterfeld erhellte die Widersprüchlichkeit der Arbeiter. Es ist nicht wahr, dass sie von vorneherein auf die Machtübernahme verzichtet hätten, wie manche Kommentatoren behaupteten, sondern dort, wo sie dabei waren, sie zu erobern, dieses Ziel aufgrund ihrer mangelnden Organisiertheit und fast vollständigen Isolierung verfehlt haben. Allerdings auch aufgrund von Illusionen, die den Sieg der Konterrevolution erleichtert haben! Das erste Telegramm des lokalen Streikkomitees, gerichtet an die Regierung in Pankow im Namen aller Werktätigen im Kreis Bitterfeld, forderte:

"1) Rücktritt der sogenannten Deutschen Demokratischen Regierung, die sich durch Wahlmanöver an die Macht gebracht hat,

2) Bildung einer provisorischen Regierung aus den fortschrittlichen Werktätigen,

3) Zulassung sämtlicher großen demokratischen Parteien Westdeutschlands,

4) Freie, geheime, direkte Wahlen in vier Monaten,

5) Freilassung sämtlicher politischen Gefangenen (direkt politischer, sogenannter ‘Wirtschaftsverbrecher’ und konfessionell verfolgter,

6) sofortige Abschaffung der Zonengrenzen und Zurückziehung der VoPo,

7) sofortige Normalisierung des sozialen Lebensstandards,

8) sofortige Auflösung der sogenannten 'Nationalarmee',

9) Keine Repressalien gegen Streikende." (14)

Wie interpretierte der lambertistische Autor die Forderung nach 'Freien Wahlen'? Zunächst einmal sah er sehr viel klarer als seine internationale Tendenz danach und vor allem heute deren "Gefahren":

"Für sich genommen scheint in diesem Zusammenhang eine der zentralen Forderungen der aufständischen Arbeiter in der DDR, diejenige nach 'freien gesamtdeutschen Wahlen', eine reaktionäre Forderung zu bedeuten, nämlich die, die bürgerlich-parlamentarische Herrschaft des Kapitals auch auf die DDR auszudehnen. So ist jedenfalls diese Forderung nachher von der deutschen Bourgeoisie ausgelegt worden. Denn die Bourgeoisie gebraucht die Teilung Deutschlands als ein Mittel, um die Kämpfe der Arbeiterklasse zu bremsen. Und ein entscheidendes Moment im Aufstand der Arbeiter am 17. Juni war die Notwendigkeit, ihren Kampf über die Grenzen der DDR auszudehnen. Welchen Sinn die Ausdehnung dieses Kampfs hatte, nämlich den Sturz des Kapitalismus in der Bundesrepublik, haben wir bereits an den an die Interzonenfahrer an der Autobahn Helmstedt und in Halle gerichteten Parolen gesehen. Indem aber die Bourgeoisie die Forderung nach freien Wahlen in ihrem Sinn hat verfälschen können, da in der Bundesrepublik die revolutionäre Arbeiterorganisation fehlte, die darauf hätte antworten müssen, hatte erstere auf  lange Zeit hinaus ihr Spiel gewonnen und der Aufstand der ostdeutschen Arbeiter blieb isoliert (...)

Das Streikkomitee, das in Form eines Sowjets die reale Macht in Bitterfeld ausübte, fordert einerseits die Bildung einer Arbeiterregierung, auf der anderen Seite scheint es, mit der Forderung nach Zulassung der großen Parteien Westdeutschlands, d.h. auch der bürgerlichen Parteien, ein bürgerlich-parlamentarisches Regierungssystem zu fordern. Aber bleiben wir nicht beim rein logischen Aspekt der Sache stehen. Die Forderung entsprang, wie gesagt, der Notwendigkeit, den Kampf auf Westdeutschland auszudehnen. Und, wie Trotzki im Übergangsprogramm sagt, die Arbeiter selbst werden bestimmen, welche Parteien sie als sowjetische Parteien ansehen. Denn indem die ostdeutschen Arbeiter Streikkomitees gebildet hatten, die an ihrem Ort die Macht ausübten, schufen sie einen politischen Rahmen, der den bürgerlichen Parteien es äußerst schwer gemacht hätte, einzudringen. Einzig die Sozialdemokratie hätte dort vielleicht Fuß fassen können. Insoweit wäre die Sache aber auch noch nicht gewonnen gewesen, denn auch die Arbeiterräte sind keine Wundergebilde, die automatisch alle Probleme der proletarischen Revolution lösen. Auf jeden Fall aber hätte dann dieser politische Rahmen zerstört werden müssen - sei es von innen heraus durch die Sozialdemokratie, die schon 1918/19 ihre wichtigste Aufgabe darin gesehen hatte, die Macht der Arbeiterräte an die Bourgeoisie wieder auszuliefern, sei es durch militärisches Eingreifen von außen - wahrscheinlich durch eine Kombination von beiden". (15)

Es ist ein Verdienst, hier die vorhandenen bürgerlich-demokratischen Illusionen im Arbeiterbewusstsein beim Namen genannt, den Widerspruch in ihrer Koexistenz mit dem Willen zur Ausübung der eigenen Klassenmacht erkannt und auf die konterrevolutionäre Gefahr hingewiesen zu haben, wenn es Revolutionären nicht gelingt, ihn in Richtung Arbeitermacht aufzulösen! Unter den Bedingungen stalinistischer Diktatur ist es fast unvermeidlich, dass das erste Stadium der politischen Revolution, ihr 'Februar', sich primär um allgemeine demokratische Forderungen zuspitzt. Darüber hinaus ist es scheinorthodox, einen Kampf für bürgerlich-demokratische Rechte in einem degenerierten Arbeiterstaat als von der Definition her reaktionär abzutun. Lenin und Trotzki haben die Existenz bürgerlicher Kräfte im Arbeiterstaat nicht prinzipiell verboten. Die Kadetten saßen 1917/1918 in den Sowjets. Lenin ließ die Wahl einer Konstituierenden Versammlung zu. Er argumentierte nur deshalb gegen ihr Zusammentreten, weil sie nicht länger die politischen Kräfteverhältnisse im Land widerspiegelte. Die Diktatur des Proletariats ist weder das Land der Freiheit und Vielfalt aller Parteien unter allen Umständen, noch der Bann und ihre gnadenlose Unterdrückung als Prinzip. Nur wenn sie versuchen, die Diktatur zu stürzen, versuchen wir, sie zu zermalmen. Übrigens werden die Arbeiter und ihre Räte entscheiden, welchen Parteien sie erlauben, um einen Einfluss auf ihr Bewusstsein zu konkurrieren. Am wenigsten gewähren wir den Stalinisten das Recht, für uns zu entscheiden, wer zugelassen werden soll und wer nicht!

An der von der stalinistischen Bürokratie gehandhabten Staatsform ist nichts Sozialistisches! Trotzki bemerkte, dass die UdSSR ohne ihre proletarische Eigentumsformen unter Stalins Regime nicht vom Faschismus zu unterscheiden sei! So stellte er, als er noch eine Reform der UdSSR durch Regeneration der Sowjets für möglich hielt, die Arbeiterdemokratie den bürgerlich demokratischen Rechten entgegen. Als er den revolutionären Sturz der Bürokratie für notwendig hielt und den demokratische Inhalt der Sowjets für ausgehöhlt ansah, gab er diese Gegenüberstellung auf und erkannte an, dass die Arbeiter in eigener, freier Entscheidung bestimmen sollten, welch politischen Organisationen sie im Arbeiterstaat dulden und legalisieren wollen.

Was sind bürgerlich-demokratische Rechte? Sie erstrecken sich auf alle Staatsbürger unbeschadet der Klassenherkunft und ob jede/r sie ausüben kann. Bürgerlich-demokratische Institutionen sind insoweit beschränkt, als sie nur gesetzgebende parlamentarische Körperschaften darstellen, in denen die wahre Staatsmacht (nämlich die bewaffneten Kräfte zur Verteidigung des Klasseneigentums) nicht liegt und die  Illusion der Gleichheit aller Klassen vor Recht und Verfassung erzeugen.

Eben deshalb kämpfen wir nicht dafür, bürgerliche Körperschaften in einem Arbeiterstaat ins Leben zu rufen. In unsere Propaganda und Agitation stellen wir ihnen Arbeiterräte, -milizen usw. entgegen. Aber wenn wir mit Argumenten vorläufig nicht überzeugen können und die Arbeiter selbst sich für ihre Schaffung entscheiden, müsse wir Taktiken anwenden, die den Schaden begrenzen helfen, den sie unter Führung der Restaurateure anrichten, und sie zur Stärkung der Unabhängigkeit der Arbeiterklasse aus nutzen. Inmitten stalinistischer Diktatur und in Abwesenheit voller Arbeiterdemokratie ziehen wir das weitere Funktionieren dieser Freiheiten sogar vor.

Diese schwierige Gratwanderung zwischen revolutionären Prinzipien und taktischem Eingehen auf demokratische Illusionen hält jedoch der lambertistische Historiker nicht durch. Vielmehr rutscht er auf die schiefe Ebene des Opportunismus gegenüber der bürgerlichen Demokratie und trabt hier dem aktuellen, widersprüchlichen Arbeiterbewusstsein hinterher, statt dessen revolutionärer Potenz zum Durchbruch zu verhelfen, und zwar, um mittels eines in Taktik übersetzten Aktionsprogramms der politischen (Ost) und sozialen Revolution (West) die Überwindung der bürgerlich-(sozial-)demokratischen Illusionen der deutschen Arbeiterklasse zu organisieren.

Geendet hat dieses Herangehen in der heutigen lambertistischen Generalthese: bürgerliche Demokratie als Synonym für Arbeiterdemokratie! Der Kardinalfehler liegt bereits im ersten Abschnitt des obigen Zitats. Richtig ist sicher, dass die Bourgeoisie im Ruf der aufständischen Arbeiter nach freien gesamtdeutschen Wahlen nichts anderes sehen konnte als ihr altes restauratives Klassenziel, während die Streikenden damit etwas anderes verbanden. Falsch wird aber schon in der Folge suggeriert, dass die deutsche Teilung das einzige Mittel sei, die Kämpfe der Lohnabhängigen abzublocken, als ob die herrschende Klasse in Westdeutschland immer und unter allen Umständen die Vereinigung in kapitalistischer Form der Spaltung des Landes unterordnen würde. Die Ereignisse nach 1989 haben diese Frage konterrevolutionär beantwortet.

Egal, wie die Aufständischen von 1953 darüber dachten, Revolutionäre hätten klipp und klar erklären müssen: Ein vereinigtes Arbeiterdeutschland kann nur durch die bewaffnete Machtergreifung von Arbeiterräten entstehen, nicht durch freie Wahlen zu irgendetwas Beliebigem! Dass der Sinn der Ausdehnung des Kampfs im Sturz des Kapitalismus in der BRD lag, das galt und gilt sicher für Revolutionäre, jedoch nicht für die Losungen auf den Transparenten an den Interzonenstrecken: Ihr 'Sinn' lag vielleicht in einer Arbeiterregierung, aber einer unechten, nicht auf siegreiche Räte, sondern ein pro-restaurationistisches Parlament gestützten Ollenhauerschen SPD-Regierung für ganz Deutschland.

Der Artikel setzt aber dieser widersprüchlichen Forderung nicht die Schaffung, Zentralisierung, Ausdehnung nach Westen durch Machtergreifung von Arbeiterräten entgegen und fördert damit den Anschein, als ob die Forderung nach freien Wahlen die einzige mögliche Form des grenzüberschreitenden Arbeiterkampfs sei (als ob sie ihn nicht vielauch ersticken könnte!), sondern schließt auch aufgrund der Existenz von embryonalen Streikkomitees aus, dass die Forderungen 3 und 4 des Bitterfelder Aktionsrates (s.o.) z.B. irgendwelchen Schaden hätten anrichten können. Es gab ja Räte, genauer gesagt lokale Ansätze dazu, also passten die doch schließlich auf, dass ein gewähltes Parlament keine arbeiterfeindlichen Maßnahmen durchsetzen konnte, oder? Dabei war es doch gerade die Tragik der Novemberrevolution 1918 gewesen, dass die Räte die Macht zunächst an den im Rahmen des bürgerlichen Staats agierenden Ausschuss der Volksdeputierten und dann an eine noch zu wählende Nationalversammlung abgaben, statt sie selbst in die Hand zu nehmen, d.h. den bürgerlichen Staatsapparat durch ihre eigene Herrschaft zu zerschlagen und zu ersetzen!

Oder glauben OCI und ihre politischen Erben an ein ewiges Patt zwischen bürgerlichen und proletarischen Machtorganen, eine ständige Doppelmacht? Nein, die Verweigerung der Machtübernahme lässt die Ansätze von Gegenmacht entweder verfaulen, oder diese werden gleich, ideologisch verworren und unvorbereitet, zerschlagen! Ohne diese revolutionäre Konsequenz, d.h. unter der Führung einer revolutionär-kommunistischen Partei in den Räten, zerstört die Sozialdemokratie diesen 'Rahmen' eben zwangsläufig. Als revolutionäres Lippenbekenntnis formuliert der Artikel sehr wohl in groben Zügen unser Ziel, anknüpfend an den vorhandenen Kampf- und Organisationsansätzen:

"Umgekehrt stellte sich für die Arbeiter die Aufgabe, die Komitees auf Westdeutschland auszudehnen, eine zentrale Macht aufzubau¬en und eine revolutionäre Partei für ganz Deutschland zu schaffen." (16)

Dass dieses Ziel aber nur erreicht werden kann, wenn die Aufständischen mit ihrer Illusion brechen, die Arbeitermacht durch freie Wahlen zu errichten, das verschweigt diese Spielart des Zentrismus! Ebenso wenig kritisiert der Artikel weitere Halbherzigkeiten der Bitterfelder Resolution: Auf welche Organe soll sich eine provisorische Regierung fortschrittlicher Werktätiger stützen? Welche Hindernisse muss sie zu ihrer uneingeschränkten Machtausübung und wie aus dem Wege räumen? Warum nur Zurückziehung der VoPo und hinter welche Linie? Warum dann aber (richtigerweise) die Auflösung der Nationalarmee? Ist die Polizei arbeiterfreundlicher? In beiden bewaffneten Körperschaften müssen die Kommandostrukturen gewaltsam zerschlagen werden! Wahl und federzeitige Abwahl von Kommandeuren durch die Mannschaften; Arbeitermiliz statt stehender Polizei und kasernierter Armee bzw. Kontrolle über einstweilen noch unvermeidliche Spezialisten/stehende Einheiten wären eher angesagt. Wir sind nicht für Freilassung sämtlicher politischer Gefangener, aber auch nicht für die Einkerkerung durch die Stalinisten, sondern für Arbeitertribunale und nach Möglichkeit Strafausübung für die durch sie Verurteilten in Form von Arbeitsbewährung unter spezieller Kontrolle ernannter bewaffneter Aufsichtsorgane am Arbeitsplatz und in der Freizeit.

Repression

Im Aufstand bildete sich zwar keine Organisation und Führung heraus, die ihn siegreich hätte beenden können, jedoch hat er den stalinistischen Partei- und Staatsapparat in seinen Grundfesten erschüttert und hätte ihn vielleicht zertrümmert, wenn nicht die sowjetische Armee zum Schutze Ulbrichts eingegriffen hätte. Unser Historiker schildert anschaulich die Repression gegen untere SED-Mitglieder, die sich am 17. Juni offen auf die Seite der Arbeiter schlugen und von der Partei ausge¬schlossen wurden. Der Vorwurf des `Sozialdemokratismus' nimmt sich im Nachhinein umso lächerlicher aus, wenn man bedenkt, dass die 'Abweichlerzentren' gerade Städte waren, die vor 1933 als KPD-Hochburgen galten, und den Anteil der ausgeschlossenen SEDler betrachtet, die bereits vor 1933 der KPD angehört hatten: 71% in Halle, 59% in Leipzig, 52% in Magdeburg, 68% in Ostberlin, 61% in Bautzen. Richtig erwähnt die geschichtliche Analyse auch, dass die innerparteiliche Opposition um Zaisser, Herrnstadt, Dahlem, Ackermann etc. sich während des Aufstands nicht ein einziges Mal von Ulbricht distanziert hatte, ohne deshalb von der Säuberung verschont worden zu sein.

Falsch ist jedoch die Schlussfolgerung, der Arbeiterklasse seien damit die Augen ein für alle Mal geöffnet worden, dass mit der SED keine Kompromisse mehr möglich seien und sie nicht mehr reformiert werden könne. Noch massiver wütete die Ausschlusskampagne in den Gewerkschaften. In Berlin-Weißensee hatten z.B. 31 von 42 Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) den Streik erklärt! Auch die Volkspolizei und der sowjetische Militärapparat versagten nicht selten ihre Dienste als Instrumente der Unterdrückung. Ihre Reaktionen schwankten oft zwischen ostentativer Zurückhaltung und offener Sympathie; viele VoPos zogen sogar in den Demonstrationszügen mit; die anschließende Bestrafung kann man sich vorstellen.

Eckpfeiler eines Aktionsprogramms

Angesichts der extrem kurzen Zeit bis zur Niederwerfung der Erhebung wird sich mancher fragen: Ohne revolutionäre Führung war die Niederlage unvermeidlich, denn diese kann ja nicht in wenigen Stunden bis Tagen aufgebaut werden; warum da noch über ein Programm grübeln? Nein, die Aufgabe war und ist, für die für die Arbeiterklasse zum Sieg notwendige Politik zu kämpfen - und für eine Partei, die innerhalb der Arbeiterschaft um dieses Aktionsprogramm herum agitiert. Würden die Arbeiter rechtzeitig für unsere Strategie erwachen? Dies kann man vorher nie schlüssig beantworten. Und selbst wenn die Karten gegen uns gemischt waren, mag es im Fall einer Niederlage jene geben, die die revolutionären Argumente prüfen und sagen: "Hätten wir gehandelt, wie sie gesagt haben, litten wir nicht unter den Konsequenzen dieser bitteren Niederlage!"

In der 'Internationale(n) Arbeiterkorrespondenz' wurden richtigerweise schon wichtige Elemente eines Aktionsprogramms skizziert: Schaffung einer revolutionären Partei, Ausdehnung der Komitees auf Westdeutschland und der Bewegung, in die sowjetischen Besatzungstruppen hinein, Aufbau einer zentralen Macht. Dies sind selbst jedoch nur Andeutungen, die ausformuliert und durch andere Forderungen ergänzt werden müssten: Ausbau und Zentralisierung von Räten und Milizen, Betriebskomitees für die Arbeiterkontrolle im Betrieb und über die Planwirtschaft, bewaffneter Aufstand, Verbrüderung mit den Sowjetsoldaten, Aufbau von Soldatenräten dort und in den anderen bewaffneten Verbänden (Betriebskampfgruppen, Vorläufer der NVA, VoPo), Abzug der Roten Armee, aber Verpflichtung zur Verteidigung der proletarischen Eigentumsverhältnisse in Osteuropa, der UdSSR und der VR China. Die Bürokratie muss von Arbeitergerichten abgeurteilt, ihre Privilegien abgeschafft und ihr Vermögen konfisziert werden. Die Planung muss demokratisch erfolgen und auf die Bedürfnisse der breiten Masse umgestellt werden. Gewerkschaftsfunktionäre, Staatsdiener und Offiziere müssen jederzeit abwählbar, rechenschaftspflichtig sein und dürfen nur Durchschnittslohn beziehen. Für das Streikrecht!

Um die demokratischen Illusionen in der Praxis zu überwinden, hätte die Forderung nach einer Revolutionären Verfassunggebenden Versammlung aufgestellt werden müssen. Dies halten wir heute selbst angesichts der großen Illusionen der damaligen DDR-Arbeiterklasse in die bürgerliche Demokratie für richtig und selbst dann, wenn die Räteansätze noch ausgedehnter gewesen wären als damals. Die Arbeiter sollen aber die Wahl kontrollieren, d.h.: Keine Zulassung von Faschisten! Keine Sperrklausel! Bei der Debatte über den Klassencharakter der zukünftigen Republik in der Konstituante schlagen Kommunisten das Rätesystem vor. Gibt es nicht die Möglichkeit einer Eigenkandidatur, schlagen wir die Taktik der Arbeiterkandidaten, die Massenversammlungen gegenüber rechenschaftspflichtig sein sollen, vor. Dies gilt analog bei Wahlen zu einem Parlament, wenn ein Wahlboykott unangebracht wäre. Kleine revolutionäre Kerne sollten auch die Taktik des kurzfristigen fraktionellen Eintritts in die SED nicht verwerfen, wenn diese Partei in Gärung ist, um ihre Basis für trotzkistische Positionen zu gewinnen.

War die Ausbreitung der Revolution nach Westen unabdingbare Voraussetzung oder konnte die Arbeiterklasse der Osthälfte ihre politische Revolution auch ohne soziale Revolution in der BRD zu Ende bringen?

Theoretisch ist letzteres zwar nicht ausgeschlossen, aber nach einer siegreichen politischen Revolution in der DDR hätte die Arbeiterklasse sofort ihren größten Feind im westdeutschen Bürgertum. Oder es gelingt zwar, die bürokratische Kaste zu zerbrechen, aber ohne kommunistische Führung haben die Herrschenden in Bonn leichtes Spiel, insbesondere weil es außer ihr keine Kraft mit einer Antwort zur nationalen Frage gibt, welche Klasse der Wiedervereinigung ihren Stempel aufdrückt. Dies mussten die Bürgerbewegungen in der DDR Anfang 1990 bitter erfahren. Historisch stellt sich die Alternative so dar: entweder soziale Konterrevolution in ganz Deutschland oder soziale Revolution West und politische Ost in einem einzigen geschichtlichen Atemzug, d.h. in Permanenz!

Der erste Schritt, um die Komitees über die innerdeutsche Grenze auszudehnen, wäre gewesen, fliegende Streikposten in die Westbetriebe, besonders in Berlin zu schicken, um Betriebsversammlungen durchzusetzen; ferner Solidarität mit den aktuell im Kampf befindlichen Kollegen (z.B. gegen das Ladenschlussgesetz). Gewerkschaftliche Aktionseinheit und Verbindungskomitees für den gemeinsamen Generalstreik von unten hätten gleichzeitig mit Aufrufen an Gewerkschaftsführer und SPD-Spitze zum Handeln gekoppelt sein müssen. Der Generalstreik hätte geführt werden müssen für die nach dem 2. Weltkrieg verlorene Sozialisierung der Schwerindustrie, den Abzug der alliierten Besatzungstruppen, die Zerschlagung der NATO und den Sturz der Adenauer-Regierung, ihre Ersetzung durch eine Arbeiterregierung. Die SPD hätte aufgefordert werden müssen, sich auf die Komitees und Organe des Generalstreiks zu stützen und mit dem Parlament zu brechen. Gleichzeitig hätten Trotzkisten davor warnen müssen, dass sie es nicht tun wird, um ihre Basis von ihr loszubrechen und über sie hinwegzugehen.

Das Angebot eines Wiederaufbauplans mit den Arbeitern insbesondere der UdSSR hätte eine internationalistische Antwort auf die Kriegszerstörungen durch den deutschen Faschismus bedeutet und eine Alternative zu den Reparationen und Demontagen, aber auch zu den Entschädigungszahlungen der BRD für das zionistische Projekt Israel (stattdessen Entschädigungen an die jüdischen Opfer der Nazi-Barbarei und Kritik an der Kollektivschuldthese). Durchbrechung des kapitalistischen Geschäftsgeheimnisses und die Belebung der Planwirtschaft mit ihrer Kenntnis hockentwickelter Technik hätte eine Schlüsselfunktion für die westdeutsche Lohnabhängigen bei der Entwicklung der Produktivkräfte in den „sozialistischen“ Ländern garantiert.

All das im Nachhinein - mit einem Abstand von 40 Jahren - zu konstatieren, ist Aufgabe der Analyse: Denn der 17. Juni 1953 ist Geschichte. Trotzdem enthebt uns diese nicht der genauen Aufarbeitung - vor allem im Bezug auf die Hintergründe für die Niederlage. Unsere Artikelserie, die sich auch zur Aufgabe setzte, Artikel und Analysen mit revolutionärem Anspruch einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, die z.T. selbst schon der Geschichte der Linken in Deutschland angehören, ist dabei klarerweise nicht Selbstzweck oder Teil eines akademischen Disputes. Der Sinn kam nur in zweierlei liegen: erstens durch ein besseres Verständnis der Geschichte zu eine klareren Einschätzung der Gegenwart zu kommen und am historischen Beispiel unser Analysemethode zu verfeinern. Zweitens: um durch eine bessere Kenntnis der Geschichte der Arbeiterklasse in Deutschland und eine umfassendere Diskussion über taktische Probleme und politische Grundfragen für zukünftige Klassenschlachten besser gerüstet zu sein.

Anmerkungen

1) Internationale Kommunisten Deutschlands, ein Abspaltung von der deutschen Sektion des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale 1969. Die bei Mandel & Co. verbliebene Mehrheit formierte nach der Spaltung die Gruppe Internationale Marxisten (GIM), wie die Sektion sich dann nannte.

2) 'Die deutsche Frage im Lichte des Aufstandes von 17. Juni 1953'; in: Die Vierte Internationale Nr. 1 Jahrg. 1, Westberlin, Juli 1970; S. 55 - 58.

3) Offensichtlich handelt es sich um Peter Brandt, einen Sohn des verstorbenen Ex-Bundeskanzlers Willi Brandt.

4) 'Die deutsche Frage...', aa.O., S. 56

5) aa.O., S. 55

6) a.a.O., S. 56 und 58

7) vgl. Teil 2, in 'Revolutionärer Marxismus' Nr. 6

8) 'Die deutsche Frage...', aa.O., 5.58

9) Zuerst erschienen in der Zeitschrift 'International Arbeiterkorrespondenz' Nr. 2 und 3, 1965. Sie ward herausgegeben von der gleichnamigen deutschen Sektion des Internationalen Komitees für die Vierte Internationale. Wiederabgedruckt hat diesen Artikel dann die Sozialistische Arbeitergruppe (SAG) in ihrer Zeitschrift 'Klassenkampf' Nr. 7, Ffm., o.J., S. 3 - 11 Seitenangaben beziehen sich auf diesen Text.

10) Benannt nach dem Führer der französische Sektion des IK - Pierre Lambert.

11) Vgl. genauer den 2. Teil in 'Revolutionäre Marxismus', Nr.6!

12) 'Die Wahrheit über...', a.a.O., S. 9.

13) ebda.

14) a.a.O., S. 11.

15) a.a.O., S. 10 und 11.

16) a.a.O., S. 11 und Seite 40

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DDR 1953: Aufstand der ArbeiterInnen gegen die stalinistische Bürokratie

Juni 2011

*  Vorwort
*  Der Aufstand der ArbeiterInnen gegen die stalinistische Bürokratie
*  Der Aufstand und die Analyse der Linken, Teil 1
*  Der Aufstand und die Analyse der Linken, Teil 2