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Der Aufstand und die Analyse der Linken, Teil 1

Revolutionärer Marxismus 8, Herbst 1992, wieder veröffentlicht Juni 2011

Im diesem Teil setzen wir uns mit wichtigen Analysen des 17. Juni 1953 in der Linken - insbesondere der von Rudi Dutschke und Ernest Mandel - auseinander.

Rudi Dutschke: Kritischer Wegbegleiter der SED

Rudi Dutschke, einst charismatischer Führer des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), gibt in seinem Aufsatz „Der Kommunismus, die despotische Verfremdung desselben in der UdSSR und der Weg der DDR zum Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953“ (1) seine Einschätzung des Aufstands wider. Interessieren soll uns hier aber nicht seine Analyse der UdSSR, des Leninismus und Stalinismus, ein eigenartiges Gemisch aus Halbbegrifflichkeiten. So wird einerseits vom Staatskapitalismus, dann wieder von „rohem Kommunismus“ und „asiatischer Despotie“ gesprochen, um den Klassencharakter der SU zu erhellen bzw. eigentlich gründlich zu verkleistern. Das Scheitern des russischen Modells wird einerseits in subjektivem Versagen der Bolschewiki geortet, die die Möglichkeit des direkten Übergangs von urkommunistischen Formen der Dorfgemeinde zum Kommunismus unter Umgehung des Kapitalismus “übersehen“ sowie die bürgerliche „wissenschaftliche Arbeitsorganisation“ (Taylorismus) zu unkritisch übernommen hätten. Letztere habe durch ihre Trennung von Kopf- und Handarbeit die Arbeiterkontrolle verunmöglicht. Dieser idealistisch-normative Ansatz - der ja die junge Sowjetunion am Ideal einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft misst - verkennt neben den realen, schwierigen Voraussetzungen nach dem 1. Weltkrieg (Kriegszerstörungen, Bürgerkrieg, internationales Embargo) den Unterschied zwischen bürokratischen Deformationen, die eine Zeitlang aus der Not heraus ihre historische Berechtigung haben mögen und der stalinistischen Bürokratie, die bereits aus der Not eine Tugend machte. Kurz, er verkennt den Unterschied zwischen Revolution und politischer Konterrevolution (Thermidor)!

Gepaart oder - besser ausgedrückt - undurchdringlich vermengt mit seinem idealistischen Herangehen ist Dutschkes Objektivismus nicht nur in punkto UdSSR, wo er nach dem Scheitern der Revolution in den kapitalistischen Zentren den qualvollen Weg (staats-)kapitalistischer Industrialisierung für im Wesentlichen unvermeidlich hält. (2) Auch für Nachkriegsdeutschland schließt er von vornherein eine proletarische Revolution aufgrund der Zerschlagung der Arbeiterklasse im Faschismus aus:

„Wie kann eine im Verhältnis zum 1. Weltkrieg viel stärker und länger unterdrückte und zerschlagene Arbeiterklasse eine proletarische Revolution im originären Sinne des Begriffs durchführen? Sie kann es nicht.“ (3)

Und er fährt in einem Zug fort:

"Die einzige historische Chance für eine real antikapitalistische Wendung lag unvermeidlicherweise in der Ostzone. Dass aber die dortige Wendung schließlich einen spezifisch deformierten Charakter tragen musste, ergab sich aus dem undurchbrochenen Entartungsprozeß der sowjetischen Gesellschaftsstruktur und ihrer Partei- und Staatsmaschine." (4)

Dutschke macht einen qualitativen Unterschied zwischen der jungen, „tendenziell demokratischen“ SED, solange sie noch unmittelbar nach ihrer Gründung vom „spezifisch-deutschen Weg zum Sozialismus“ sprechen durfte, und der KPdSU bzw. der späteren DDR-Staatspartei. Die Übernahme des sowjetischen Industrialisierungsmodells wird nur verurteilt, weil die DDR höher entwickelt war als die UdSSR. Darum war es keine Übernahme eines revolutionären Fortschritts (war es das denn in der SU selbst?), sondern eines "unvermeidlich gewordenen, darum progressiven (?!. Anm. d. Verf.) Rückschritts". (5)

Der 'radikale' Ex-Studentenführer billigt die Politik des 'Neuen Kurses' gerade auch bezüglich seiner Komponente, die deutsche Wiedervereinigung auf die Tagesordnung zu setzen. (6) Wir hatten nachgewiesen, dass unter den damaligen historischen Umständen ein neutraler, blockfreier, gesamtdeutscher Imperialismus eine komplette Illusion war. Die Arbeiterklasse hat kein historisches Interesse an einer Restauration, wohl aber an einer Verteidigung der proletarischen Eigentumsformen und ihrer revolutionären Ausdehnung auf Westdeutschland. Die strategische Formel lautete deshalb: Für revolutionäre Wiedervereinigung in Form einer alldeutschen Räterepublik! Dies beinhaltete die internationale Ausdehnung der Revolution: soziale Revolution im Westen, politische im Osten! Sie war nur durchsetzbar gegen die jeweiligen imperialistischen und stalinistischen Machthaber. Von der Fraktion um Herrnstadt hatte die DDR-Arbeiterklasse genausowenig Unterstützung wie von Ulbricht zu erwarten. Jene kritisierte zwar die Belastung der (klein-) bürgerlichen Elemente, aber nicht die Normenerhöhung. Gemeinsam mit der sowjetischen Führung schmiedete sie den Plan, die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse zur Disposition zu stellen.

In der konkreten Einschätzung des Charakters des Ostberliner Aufstands selbst vertritt Dutschke eine Variante des kritischen Stalinismus wie vor ihm Brecht und Stefan Heym. Für Brecht zeigten die Demonstrationen, dass die Arbeiter als aufsteigende Klasse handeln. Es entstanden aber keine Räte, kein Plan. Die Losungen bezeichnete er als verworren und eingeschleust. Trotzdem brauchte die SED darüber nicht zu verzweifeln, sondern nur zu erschrecken. Für Stefan Heym (vgl. seinen Roman '5 Tage im Juni') handelte die Klasse objektiv gegen ihre eigenen Interessen. Als Beleg wurden Plünderungen und der Streikaufruf im RIAS angeführt. Nach unseren Quellen waren hauptsächlich Westberliner Provokateure für die Brandschatzungen verantwortlich. Und es erscheint uns völlig legitim, alle nur erdenklichen Kanäle für die Ankündigung des Generalstreiks auszunutzen, sofern die Hilfe von Seiten des “Teufels bzw. seiner Großmutter” keinen Verrat an den fortschrittlichen Zielen beinhaltet und keine politischen Zugeständnisse, in diesem Fall an die US-Alliierten. Gegen eine politische Komplizenschaft der Streikenden mit dem amerikanischen Sender spricht im Übrigen, dass dieser sich weigerte, den Streikaufruf für Gesamtberlin zu senden! Mit der 'Logik' unseres Literaten müsste man schließlich die streikenden Bauarbeiter, die sich den Lautsprecherwagen der SED-Bezirksleitung für ihre Aufrufe zunutze machten, der Zusammenarbeit mit den Stalinisten bezichtigen!

Brecht und Heym ist gemeinsam, dass sie sich bei aller Kritik an einzelnen Fehlern der Partei den sozialistischen Fortschritt nur unter einer Führung der Arbeiter durch die SED erhofften. Auch Dutschke sieht, dass die westlichen Geheimdienste Lunte ans Pulverfass zu legen versuchten, um dem 'Neuen Kurs' und seiner Wiedervereinigungsoffensive den Garaus zu machen. In völliger Verkennung der Tatsachen schiebt er dieser Politik unter, den Widerstand der Arbeiterklasse erst ermöglicht zu haben. (7) Dabei war doch gerade der Zündfunke des Protestes, dass der 'Neue Kurs' Erleichterungen für alle anderen gesellschaftlichen Schichten, nur nicht für die Arbeiterschaft gebracht hatte - im Gegenteil! Westdeutsche Regierung und Westalliierte zitterten auch nicht vor dem Angebot der Wiedervereinigung, sondern vor der möglichen Ausdehnung der Klassenkämpfe auf Westberlin und die BRD! Dutschke verwahrt sich deutlicher als Heym gegen die Legende vom imperialistischen Tag X, zugleich behauptet er aber, trotz proletarischer Basis und Berechtigung des Widerstands sei der 17. Juni keine spontane Arbeiterrebellion gewesen. (8) Wie reimt sich das zusammen? Ganz 'einfach': indem das Zauberwort 'Dialektik' ins Spiel kommt. Aufgrund des Einflusses der Massenmedien West und Ost könne sich nur eine "Dialektik von proletarischer Spontaneität und imperialistischer Agententätigkeit" (9) im Lande entfalten.

Sinnen und Trachten der Geheimdienste und Medien bestand im Mitwirken am Aufstand gegen die unterdrückende Staatsmaschine, um ihn in eine Richtung - in welche, verschweigt uns Dutschke - zu treiben, die das Ende von besagten Teilen des 'Neuen Kurses' bedeutet hätte. Man kann jetzt spekulieren, ob das Scheitern dieser Politik des Herrnstadt/Ackermann-Flügels für Dutschke Sieg oder Niederlage des Aufstands bedeutet. Er selbst scheint der Theorie anzuhängen, dass die westlichen Besatzungsmächte und die Adenauerregierung eine Niederschlagung durch die sowjetische Militäradministration herbeiwünschten, weil sie durch einen Sieg Ulbrichts und der Hardliner in der Kremlführung die deutsche Wiedervereinigung zum Scheitern zu bringen hofften. Bei der SPD ist er unsicherer. So wirft er ihr nur vor, auf die Viermächteverhandlungen zu warten, statt auf die Klassenkämpfe zu setzen. Ausgerechnet die SPD, die jede Solidaritätsaktion in Westberliner Betrieben aktiv verhindert hat und sich vollkommen mit Alliierten und allen anderen Bonner Parteien arrangierte! Entscheidend aber ist, dass er die DDR-Arbeiterschaft für objektiv unfähig hält, dieses Spiel zu durchschauen oder das SED-Regime zu stürzen und in Richtung Sozialismus vorwärtszuschreiten. Als Folge vergangener Niederlagen, des Stalinismus usw. seien sie objektiv in der Logik - KGB oder CIA? - gefangen:

"Darum kann er (Heinz Brandt, d. Verf.) nicht sehen, dass die Arbeiterklasse und ihr Klassenbewusstsein doppelt pervertiert und depraviert waren: von der eigenen Partei, der KPD-SPD (= SED) seit Jahrzehnten entfernt und so permanent dem Klassenfeind ausgeliefert.“

Entweder Stalinismus oder Klassenfeind! Deutlicher kann man's nicht sagen. Klar wird auch, dass Dutschke sich keine andere Klassenführung als die SED vorstellen kann ("ihre Partei"). Fazit: Die Ostberliner und DDR-Aufständischen waren aus besagten Gründen zu mehr als spontanem Protest unfähig. Die 'einzig' richtige Antwort und Weiterentwicklung in Richtung Sozialismus wäre die Ausdehnung der Aktion auf ganz Deutschland gewesen. Das aber war objektiv unmöglich, weil Wirtschaftsaufschwung, amerikanische Hilfe und die abschreckende Form des Moskauer und Pankower 'Kommunismus' das Klassenbewusstsein verschüttet hatten. Also konnten die Bürgerlichen den Aufstand nur zu ihren Gunsten ausschlachten. So wie im Osten die russischen Panzer dem Spiel ein Ende machten, standen die BRD und ihre Verbündeten bereit, jeden Aufstand zu ersticken.

Anamnese: Ungenügend entwickeltes Klassenbewusstsein. Diagnose: Folglich kam alles so, wie es kommen musste. Therapie: abwarten, bis es 'genügend' weit entwickelt ist.

Und hier schließt sich der Kreis des scheinbar Unvereinbaren. Verpassten die Bolschewiki den Sprung zum Kommunismus, weil sie Marx nicht richtig gelesen hatten und sich nicht vorstellen konnten, die kapitalistische Industrialisierung zu überspringen, so war andererseits der Stalinismus reaktionär, aber nach diesem Anfangsfehler fast unvermeidlich. Ja, die Arbeiterklasse ist schlecht beraten, sich vom Stalinismus zu weit zu entfernen, handelt es sich doch dabei immerhin um eine "despotische Form des rohen Kommunismus". Bestenfalls kann sie Druck auf ihn ausüben, sie wieder den "aufrechten" Gang zu lehren. Die Aufgabe 'radikaler Philosophen' vom Schlage eines Dutschke besteht nicht in der Erarbeitung eines Programms, das in den aktuellen Klassenkämpfen das Ziel der Emanzipation der Klasse vermittelt, sondern darin, intellektueller Mahner und Warner für die stalinistischen, kleinbürgerlich-nationalistischen oder sozialdemokratischen Klassenführungen zu sein. Marsch durch die Institutionen statt durch die Illusionen!

Ernest Mandel und das Sekretariat der IV. Internationale: Zentristischer Optimismus

In seinem Artikel "Der Arbeiteraufstand in Ostdeutschland“ (12) befasste sich E. Mandel - führendes Mitglied des Internationalen Sekretariats (IS) der IV. Internationale, der Hauptströmung unter den sich auf Trotzki berufenden Kräften nach dem 2.Weltkrieg (13) - mit dem Arbeiteraufstand von 1953. An der Darstellung der Ereignisse gibt es von unserer Seite nichts auszusetzen. Unsere Kritik beginnt, wo Mandel die Bedeutung der Ereignisse auf den Punkt zu bringen und ihnen eine Perspektive zu weisen versucht.

Im Kapitel „Der 17., 18. und 19. Juni in den übrigen Städten“ schildert er den Fehlschlag Ulbrichts, als auf sein Erscheinen hin von 23.000 Beschäftigten nur 1.300 zur anberaumten Betriebsversammlung erschienen und das Gros stattdessen bis zum 23. Juni weiterstreikte:

"In der Geschichte des Arbeiterkampfes gegen die sowjetische Bürokratie stellt dieser Streik einen Erfolg ohnegleichen dar." (14)

Dies erscheint uns stark übertreiben. Richtig ist, dass die Leunaer Streikenden die Speerspitze des Aufstands waren. Ihr 'Erfolg', ein paar Tage läng zu streiken als die übrigen Aufständischen, sollte aber nicht überbewertet werden. Es gab vor- und nachher heroischere Kämpfe (Workuta, Ungarn), die zudem offen für die Rätemacht stritten. Auch die  Betriebsrätebewegung in der Ostzone bis 1948 hat Elemente betrieblicher Doppelmacht entwickelt, die 1953 nicht wieder erreicht wurden.

Am Abend des 17. Juni trafen sich 30.000 Metallarbeiter der Reichsbahn-Bau-Union Velten und der Hennigsdorfer Stahlwerke im Walter-Ulbricht-Stadion, wo sie den Sturz der Regierung und die Einsetzung einer 'Metallarbeiter-Regierung' diskutierten. Mandel setzt diese Forderung gleich mit: "d.h. einer Regierung der Arbeiterräte." (15)

Schön wär's, möchte man da ausrufen! Aber, dieser Wunsch der im Stadion versammelten Arbeiter kann  schon deshalb nicht mit einer Räteregierung identifiziert werden, weil es keine Räte gab! Und schon gar nicht existierte die Vorstellung von einer politische Revolution gegen die stalinistische Bürokratie. Sehr wohl waren Illusionen der Arbeiter in Teile der SED (und/oder SPD) wahrscheinlich, und es hätte einer klaren, trotzkistischen Klassenführung bedurft, sie zu überwinden, um wirkliche nationale Doppelherrschaftsorgane aufzubauen, die die Macht  tatsächlich in die Hände der Arbeiter legten, wobei natürlich an der Losung 'Für eine Metallarbeiter-Regierung!' taktisch angeknüpft werden musste.

Welche Voraussetzungen hielt Mandel für den Sieg notwendig? Er widmete dieser Frage ein eigenes Kapitel: "Die Voraussetzungen, die für den Sieg notwendig waren". Was sind seine Antworten?

"Damit der Streik siegreich verlaufen konnte, musste er sich auf Westberlin und auf Westdeutschland ausdehnen." (16) Mandel beklagt zurecht, dass statt der Westberliner Kollegen, die in den Fabriken blieben, das faschistisch Lumpengesindel in den Ostteil der Stadt kam. Richtig ist auch, dass das im Ostteil der Stadt die einfachen Soldaten provozierte (Verbrennen roter Fahnen etc.), während in den Provinzstädten die heftigen Demonstrationen einen proletarischeren Charakter trugen und z.B. in Halle die Sowjetsoldaten demonstrativ in die Luft schossen! Wer ist aber für den Fehlschlag, den Streik auf den Westen auszudehnen, verantwortlich?

"Die Tatenlosigkeit der SPD war die natürliche Ergänzung zu sorgfältig vorbereiteten und geführten Aktion de reaktionären Banden ( ... ) Was sie (die Besatzungsmächte und die deutsche Bourgeoisie; Anm. d. Verf.) wollten, waren einige blutige Zwischenfälle, um die Sowjetarmee zu diskreditieren und kein erfolgreicher Arbeiterstreik, der die Arbeiterklasse in ihrer Überzeugung bestärkt hätte, dass sie die einzige aktive Kraft im Land darstellt!"

Nun, zunächst einmal konnte der Streik durchaus in der DDR siegen! Nach Mandels Worten war er ja sogar in Leuna ein Erfolg ohnegleichen! Siegen sowohl im Sinne der politischen Streikziele ("Metallarbeiterregierung") wie auch dem der politischen Revolution konnte die DDR-Arbeiterklasse indes tatsächlich nur dauerhaft, wenn sie die Revolution nach West und Ost gleichzeitig ausdehnte. Mit anderen Worten: Es bedurfte von vornherein einer Kraft, die unter den sowjetischen Besatzungssoldaten mit dem Ziel der Fraternisierung mit den Streikenden agitierte wie auch gemeinsame Klassenorgane mit ihren westdeutschen Klassenbrüdern und -schwestern aufzubauen versuchte. Das kann doch nur eine trotzkistische Massenpartei bewältigen, oder - Genosse Mandel? Unser Autor aber ist weit davon entfernt, sich der mühevollen Aufbauarbeit einer solchen politischen, revolutionären Kraft zu widmen. Wie kann man sich darauf beschränken, über die Untätigkeit der SPD zu lamentieren, ohne ihren bürgerlichen Charakter zu erwähnen, dass sie nichts weiter als eine soziale Agentur des Imperialismus in den Reihen der Arbeiterbewegung ist, kurz, dass sie so handeln musste, wie sie handelte?

Mandel weist aber nicht nur mit Blick auf die westdeutsche Arbeiterklasse keine Perspektive - wozu selbstverständlich die Taktik zählt, gegenüber den westdeutschen Arbeitern zu Solidaritätsstreiks aufzurufen und dies von ihren Führern in KPD und SPD zu verlangen. Mandel erwähnt aber weder das strategische Ziel des Aufstands im Osten - politische Revolution - noch das der anzustrebenden Solidaritätsaktionen im Westen - soziale Revolution! Und eine Taktik gegenüber den Sowjetsoldaten fehlt gleichfalls; dass sie in Arbeiter- und Soldatenräte einbezogen werden müssen - nicht zuletzt mit dem Ziel, die politische Revolution in ihre Heimat zu tragen!

"Ihre (der Bourgeoisie und der Alliierten; Anm. d. Verf.) Angst war so groß, dass sie sofort jede Demonstration oder öffentliche Versammlung in Westberlin verboten, für die nicht im voraus um Erlaubnis nachgesucht wurde ( ... ) während die westliche Propaganda behauptete, die Arbeiter im Osten streikten für die 'demokratische Freiheit', begannen westliche Militärpotentaten eben diese Freiheit in Westberlin zu unterbinden." (17)

Soweit ist den Ausführungen zuzustimmen. Problematisch wird es nur, wenn Mandel immer wieder suggeriert, das spontane politische Bewusstsein der Massen sei gegen bürgerliche Einflüsse irgendwie immun. Doch zweifellos hätten Trotzkisten 1953 in der DDR vor der Aufgabe gestanden, aus den Kampferfahrungen der Arbeiterklasse heraus durch Intervention mittels eines geeigneten Programms erst revolutionäres Klassenbewusstsein massenhaft zu verankern. Wie erklärt sich Mandel denn die Anfälligkeit für die Forderung nach gesamtdeutschen 'freien', d.h. bürgerlichen Parlamentswahlen? Gar nicht! Für ihn sind die Widersprüche im realen Klassenbewusstsein nicht eine Zeile der Erwähnung wert.

Weiter geht's mit ungebrochenem Optimismus über das unaufhaltsame Voranschreiten des revolutionären Prozesses:

“Die Repression der sowjetischen Truppen, so hart sie auch gewesen sein mag - man spricht von 30 Toten - war trotz allem zu sehr begrenzt, um die riesigen Massen wirklich einzuschüchtern, die sich ihrer eigenen Kraft bewusst geworden sind. Angesichts des andauernden, hartnäckigen Widerstandes der Arbeiter versuchen es die stalinistischen Führer abwechslungsweise mit Versprechungen und Drohungen, kündigen dann die Freilassung der meisten verhafteten Arbeiter an und sind bereit, eine rasche Verbesserung der Lebensbedingungen zu versprechen (...) Unter solchen Bedingungen kann es in der Arbeiterklasse kein Gefühl der Niederlage geben. Ja mehr sogar: die bedeutenden Konzessionen, die die stalinistischen Führer zugestanden haben und weiterhin zugestehen, verstärken bei den Arbeitern den Eindruck, dass ihre Bewegung zu einem bedeutenden Erfolg geführt hat." (18)

Will unser 'Trotzkist' allen Ernstes behaupten, dass die Niederschlagung des Aufstands von den Arbeitern so locker weggesteckt wurde, dass sie quasi nur mal eine Weile mit dem 'objektiv-revolutionären' Aufschwung innegehalten haben, um etwas zu verschnaufen, bevor es richtig losgeht? Es handelte sich in Wirklichkeit um eine Niederlage strategischen Ausmaßes. Danach hat es fast 40 Jahre lang keine politischen Erhebungen in der DDR mehr gegeben. Wie hieß noch die Überschrift dieses Kapitels bei Mandel? „Die Arbeiter Ostdeutschlands wurden nicht geschlagen!“ Alles klar?

Wir haben den ganzen Text mit der Lupe abgesucht, aber kein einziges Mal auch nur eine Erwähnung gefunden, dass Mandel als Führer des IS den Aufbau einer trotzkistischen Partei oder den politisch-revolutionären Sturz der Bürokratenkaste für notwendig, geschweige denn für eine strategische Voraussetzung des Erfolgs der Arbeiterbewegung hält. Noch weniger finden wir ein System von Übergangsforderungen, die taktisch am vorhandenen Bewusstsein anknüpfend eine Brücke zu diesen Zielen schlagen! Wozu auch eine revolutionäre Partei, wenn man blauäugig schwärmt:

"Im Gegensatz zu allen Voraussagen der Skeptiker und Kapitulanten wird dieser Kampf nicht von demoralisierten Sklaven, sondern von bewussten kommunistischen Arbeitern geführt und weiterhin geführt werden. Sie führen ihn nicht unter der Fahne 'westlicher Freiheit', sondern unter der Fahne des echten Kommunismus, der Demokratisierung des Staates und der Arbeiterorganisationen, der direkten Arbeitermacht, d.h. der Macht der Arbeiterräte ( ... ) der revolutionäre Aufschwung gegen die stalinistische Bürokratie hat begonnen." (19)

Abschließend sei noch bemerkt, dass das IS das Ziel einer politischen Revolution in den stalinistischen Staaten de facto aufgegeben hat, weil sie an die Reformierbarkeit aller Bürokratien unter dem Druck der Massen glaubt, ohne jedoch in der DDR offen Partei für einen der kämpfenden Flügel zu beziehen. In Jugoslawien und China sah die Nachkriegsinternationale in Tito und Mao „unbewusste Trotzkisten“, die unter dem Druck der Massen in revolutionäre Richtung gedrängt wurden. Nun hatten diese zwar ohne Unterstützung der Sowjetarmee in ihren Ländern die Macht ergriffen. Aber, wer einmal A sagt, muss auch B zahlen! Warum sollten unter genügend großem Druck die Herrschenden in der DDR und sogar in der UdSSR nicht gegenüber den Massen einlenken und in Richtung Trotzkismus gehen - 'objektiv' und unbewusst? Hier sehen wir die Wurzel für die kurze Zeit später erfolgende Liquidation der Nachkriegsinternationale in den strategischen Integrationsentrismus, der auch noch auf die Sozialdemokratie ausgedehnt wurde.

"Zwischen dem 16. und 26. Juni müssen die SED-Führer in der Tat eine Selbstkritik üben, die an den Grundfesten der stalinistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik rüttelt. Die Parteiführer geben offen zu, dass verschiedene soziale und ökonomische Spannungen bestehen, die die revolutionär-marxistische Bewegung bereits seit Jahrzehnten aufzeigt und verurteilt ( ... ) Sie anerkennen jetzt die trotzkistische Idee, die bereits von der KP Jugoslawiens und teilweise von der KP Chinas übernommen wurde, dass die Verteidigung der Arbeiterinteressen die Aufgabe der Gewerkschaften ist, wenn nötig gegen den Willen der Leitungen der staatlichen Betriebe; ( ... ) Aber eine Woche später muss auch in dieser Frage (des Streikrechts; Anm. d. Verf.) unter dem zunehmendem Druck der Arbeiter eine Wendung vollzogen werden ( ... ) Die Arbeiter (...) haben bewiesen, dass den VoPo-Kräften und der Drohung der sowjetischen Besatzungskräfte durch die Massenaktion widerstanden werden kann ( ... ) In den industrialisierten Volksdemokratien verschiebt sich das Kräfteverhältnis immer mehr zuungunsten der Bürokratie (...) Objektiv gesehen haben die Streikenden von Ostberlin das trotzkistische Programm und die Perspektiven auf eklatante Weise bestätigt." (20)

Anmerkungen

1) In: Rudi Dutschke/ Manfred Wilke (Hg.), Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke, Reinbek 1975, S. 261 - 304.

2) ebd., S. 269

3) ebd., S. 278

4) a.a.O.

5) ebd., S. 282,287

6) ebd., S. 296

7) ebd., S. 298

8) a.a.O.

9) ebd., S. 299

10) ebd., S. 299

11) ebd., S. 300

12) Ernest Mandel, Der Arbeiteraufstand in Ostdeutschland (3. Juli 1953), in: Die Internationale 5 (Theoretische Zeitschrift der Gruppe Internationale Marxisten), Okt. 1974, Ffm. Laut Angaben der Herausgeber erschien dieser Artikel zuerst in 'Quatrieme Internationale', Juni 1953. Man sieht, dass die Uhren hier schon seit längerem anders gehen!

13) Seit der Fusion mit der US-amerikanischen SWP 1963 zum Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale (VS) vereinigt. Inzwischen befindet sich die SWP nicht mehr im VS.

14) ebd., S. 128

15) ebd., S. 129

16) ebd., S. 131

17) a.a.O.

18) a.a.O.

19) ebd., S. 135 f.

20) ebd., S. 132 ff.

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DDR 1953: Aufstand der ArbeiterInnen gegen die stalinistische Bürokratie

Juni 2011

*  Vorwort
*  Der Aufstand der ArbeiterInnen gegen die stalinistische Bürokratie
*  Der Aufstand und die Analyse der Linken, Teil 1
*  Der Aufstand und die Analyse der Linken, Teil 2