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Der Aufstand der Arbeiter gegen die stalinistische Bürokratie

Revolutionärer Marxismus 3 und 6 (Sommer 1990, Herbst 1991), wieder veröffentlicht Juni 2011

Zum 37. Mal jährt sich die Feier des 'Tags der deutschen Einheit' im Westen Deutlands und zum ersten Mal sind auch Huldigungen von DDR-Staatsseite zu erwarten. Im Licht der jüngsten Ereignisse scheint alles ganz klar: der Sozialismus ist gescheitert, die Arbeiter in der DDR umjubeln den BRD-Kapitalismus und dieser hat eine leuchtende Zukunft vor sich. Folglich scheint der 17. Juni 1953, von heute aus betrachtet, nichts anderes als ein gescheiterter Versuch der Bevölkerung der DDR gewesen zu sein, die gesellschaftlichen Grundlagen der BRD auf ihr Territorium auszudehnen. In dieser Beurteilung der damaligen und jetzigen Begebenheiten sind sich imperialistische Bourgeoisie und große Teile der Linken merkwürdig einig. Wir haben in unseren aktuellen Analysen zur DDR immer wieder hervorgehoben, dass die Arbeiterklasse nicht Krupp, Thyssen & Co., sondern den gegen das Großkapital erkämpften Lebensstandard für sich haben will. Umso mehr ist eine genaue Untersuchung der Geschehnisse von 1953 geboten, gerade wenn Revolutionäre die heute durchaus gegebene Chance nutzen wollen, die Geschichte aktiv zu beeinflussen. Dazu müssen Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden. Beginnen wir also mit einer groben Skizze der DDR nach dem 2. Weltkrieg.

Die politökonomische Situation nach dem 2. Weltkrieg

Die Bedingungen für den Wiederaufbau der Wirtschaft waren in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ungleich schwieriger als im westlichen Teil Deutschlands: in über 2/3 dominierte die Landwirtschaft, die verarbeitende Industrie benötigte als Rohstoffe dringend Steinkohle, Eisen und Stahl, die hier kaum produziert werden konnten. Die Zerstörungen betrugen 40% der Vorkriegskapazität (Westdeutschland: 20%). Die Demontagen, Reparationszahlungen und laufenden Entnahmen aus der Produktion für die UdSSR stellten eine zusätzliche, harte Belastung dar. Im September 1945 wurden alle landwirtschaftlichen Güter der „Kriegsverbrecher“ sowie von mehr als 100 ha Betriebsfläche zugunsten von über 200.000 Neubauern enteignet, gleichzeitig wurden die ersten „Volkseigenen Güter“ (VEG) geschaffen.

Die politischen Verhältnisse sollten nach Auffassung der KPD auf die "Aufrichtung einer parlamentarisch-demokratischen Republik" (Aufruf der KPD vom 11.6.45) hinauslaufen. Diese Ideologie der „antifaschistisch-demokratischen Etappe“ fiel weit hinter den damaligen Bewußtseinsstand des Proletariats in ganz Deutschland zurück. Noch Mitte 1946 forderte eine klare Mehrheit in den Volksabstimmungen Hessens, Nordrhein-Westfalens und Sachsens die Verstaatlichung der großen Industrie! Erst 1947, als der Druck des US-Kapitalismus stärker wurde (Marshall-Plan), begann die Sowjetbürokratie als Schutzmaßnahme (!) mit der Verstaatlichung von 4.000 Industriebetrieben und der Umwandlung von 200 Großbetrieben in Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG), die v.a. Reparationsgüter herstellen mußten. 1951 umfassten diese 32% der Industrieproduktion, erst Ende 1953 wurden sie als „Volkseigene Betriebe“ (VEB) an die DDR zurückgegeben - mit Ausnahme des Uranbergbaus (Wismut-SAG)!

Auch halbstaatliche Betriebe entstanden: Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) und Privatbetriebe im Einzelhandel, die durch Kommissionsverträge mit staatlichen oder genossenschaftlichen Handelsorganisationen (HO, Konsum) verbunden waren.

Die zentrale Planung setzte sich etappenweise durch: der erste Zweijahresplan 1949/¬50 war noch ein sowjetischer Plan für Ostdeutschland, obwohl die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) schon 1948 die Kompetenzen der Sowjetischen Wirtschaftsadministration (SMAD) übernommen hatte. Bei der Staatsgründung der DDR im Oktober 1949 wurde die DWK zur „Provisorischen Regierung der DDR“ und 1950 wurde die „Staatliche Plankommission“ als oberste Planinstanz gegründet.

Der 1. Fünfjahresplan (1951-55) sollte v.a., die Produktion der Grundstoffe und Inves tionsgüter gegenüber 1950 verdoppeln. Parallel erfolgte die „Kollektivierung der Landwirtschaft“, so dass 1960 19.000 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) auf ca. 85% der Nutzfläche existierten.

Der „Aufbau des Sozialismus“

Das bürokratische Verwaltungs- und Planungssystem der UdSSR wurde auch auf die DDR übertragen (Prämiensystem, Arbeitsnormen, Planerstellung und -durchführung, Ersatz der traditionellen Betriebsräte durch Betriebsgewerkschaftsleitungen). Schon 1950/51 drückten die Arbeiter (v.a. in Leuna/Chemie und Riesa/Stahl) ihren Unmut darüber aus.

Auf der 2. Konferenz der SED im Juli 1952 wurde der „Neue Kurs zum Aufbau des Sozialismus“ proklamiert. Beschlossen wurden die Forcierung der schwerindustriellen Produktion, die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Aufbau von Streitkräften (NVA). Für auftretende Versorgungsengpässe mit Konsumgütern trugen lt. Partei- und Staatsführung zuerst der Handel und die noch privaten Betriebe die Verantwortung und mussten daher Einschränkungen hin¬nehmen. Dadurch wurde aber auch der Lebensstandard der Arbeiter extrem gesenkt. Die Aufhebung der Lebensmittelkarten für 2 Mio. Menschen, Preiserhöhungen, die Senkung der Sozialversicherungsleistungen, die Streichung der Subventionen für die Fahrt zum Arbeitsplatz usw. trugen dazu bei. Das Kleinbürgertum flüchtete massenhaft in den Westen: 80% der von Anfang 1952 bis Mai 1953 Geflüchteten waren Bauern, Handwerker und Ladenbesitzer.

Am 9.6. 53 erfolgte ein scharfer Kurswechsel. Der „Neue Kurs“ brachte große Zugeständnisse an Bourgeoisie und Kleinbürgertum: günstige Kredite, mehr Bewegungsspielraum für CDU, LDP und Kirche, z.T. Rückgabe von Fabriken an ihre alten Besitzer, Verminderung der Abgabelasten der Bauern, die jetzt die LPG's wieder verlassen durften. Dagegen wurde die Arbeiterklasse durch Teuerung und Normenerhöhung noch mehr belastet. Das Regierungsdekret vom 28. Mai verfügte neue Akkordsätze in der Bau- und Metallindustrie. Auf dem Bau waren die Normenerhöhungen besonders hoch: 10-50%!

Die Kampagne der SED für eine "freiwillige" Normenerhöhung traf auf erbitterten Widerstand. Schon im Vorfeld hatte es auf einer Vollversammlung in Fabriken in Halle einen Aufruhr gegeben, als dort am 16. April Funktionäre wegen ihrer "unproduktiven Arbeit" und "hohen Einkommen" angegriffen wurden. Ein Arbeiter namens Wilhelm sagte lt. dem Hallenser SED-Organ „Freiheit“:

„Genossen, was sich hier bei uns abspielt, ist eine Schande für die Arbeiter. 70 Jahre nach dem Tode von Karl Marx müssen wir noch über die elementarsten Lebensbedürfnisse diskutieren. Wenn Karl Marx das  miterlebte, würde er sich im Grabe umdrehen."

In vielen Betrieben äußert sich der Unmut gegen die neuen Richtsätze: in den Gießerei- und Maschinenfabriken von Lichtenberg, den Konstruktionsbüros für Wohnungen in Berlin, bei Osram-Elektroindustrie oder in der Textilindustrie. Hier verabschieden die Arbeiter eine "provokatorische" Deklaration, in der sie mitteilen, dass sie die Normenerhöhungen nicht freiwillig annehmen, sondern dass diese ihnen aufgezwungen werden! Die Stahlarbeiter von Fürstenwalde, die Bergleute von Zwickau sowie klassenbewußte Bauarbeiter der Berliner Großbaustellen Friedrichshain und Stalinallee - größtenteils SED- und frühere KPD-Mitglieder - hatten eine lange und erfolglose Kampagne gegen politische Unterdrückung und Entmündigung, bürokratische Arbeitsorganisation, "Planung" und Verschwendung geführt. Die neuen Normen waren v.a. für die Bauarbeiter eine große Provokation, weil sie trotz freiwilliger Einsätze ihr Soll 1953 bis dahin nur zu 77% erfüllen konnten. Am 8. Juni forderte der Block Stalinallee in einer Resolution von "ihrer" Regierung und Partei die Zurücknahme der Norm-Steigerungen. Sie erhielten von "ihren" Genossen Grotewohl und Pieck keine Antwort, im Gegenteil: am 10. Juni wurde der neue Akkord angewandt. Am selben Tag beschlossen die Stahlarbeiter von Henningsdorf den Streik ab dem 11. Juni. Am 15. traten Maurer und Zimmerleute von Friedrichshain in einen Teilstreik.

Die Erhebung der Arbeiter vom 16.-19. Juni in Berlin

Die Selbstkritik des ZK der SED im Zuge der Verkündigung des „Neuen Kurses“ trug zum Aufstand mit bei, weil viele Arbeiter jetzt überzeugt waren, dass die UdSSR das Ulbricht-Regime fallengelassen habe - mussten doch die Bürokraten schwere Versäumnisse eingestehen. Hinzu kamen offene Risse in der Parteiführung. Am 14. Juni veröffentlicht das SED-Zentralorgan “Neues Deutschland“ einen Artikel des oppositionellen Führers Rudolf Herrnstadt unter der bezeichnenden Überschrift: "Es wird Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen."

Die Streikenden von Berlin-Friedrichshain verabschiedeten am 15. 6. eine Resolution an Grotewohl, in der sie die sofortige Rücknahme der Normerhöhungen fordern und beklagen, der „Neue Kurs“ habe nur den Kapitalisten etwas gebracht! Am selben Tag legte ein Parteifunktionär auf einer Versammlung des Blocks 40 der Stalinallee eine Erklärung vor, in der die Arbeiter der Regierung ihren Dank für den „Neuen Kurs“ zollen sollten. Diese verlangen aber, dass die Forderung nach Rücknahme der Normenerhöhung aufgenommen wird. Sie wählten schließlich zwei Delegierte, die die Resolution der Regierung überbringen sollten, warteten aber noch auf einen Gewerkschaftsvertreter, um mit ihm die Normenfrage zu diskutieren.

Am 16. Juni erschien dann im Gewerkschaftsorgan „Tribüne“ ein Artikel von Otto Lehmann, der die neuen Normen energisch verteidigte und von vielen als Auslöser der Erregungswelle bezeichnet wird.

Am selben Tag wurden zwei Beteiligte des Friedrichshainer Teilstreiks von der Volkspolizei verhaftet, worauf die Bauarbeiter eine Delegation zur Stalinallee entsandten. Nach mehrstündiger Diskussion beschlossen sie, dass die tags zuvor angenommene Entschließung der Regierung überbracht werden sollte. Mehrere Blöcke legten die Arbeit nieder und formierten den "Begleitschutz" für ihre tags zuvor gewählten Delegierten. Am verschlossenen (!) Gewerkschaftshaus vorbei zog der Zug mit inzwischen 6.000 Teilnehmern vor das Haus der Ministerien, dem Regierungssitz, und verlangte nach Ulbricht und Grotewohl. Aber nur die Minister Rau und Selbmann erschienen, versuchten abzuwiegeln und wurden von einem Arbeiter zur Seite gedrängt, der folgende Forderungen bekanntgab:

Sofortige Verringerung der Normen um 10%!

Sofortige Preissenkung für den Grundbedarf um 40%!

Entlassung der Funktionäre, die schwere Irrtümer begangen haben! Demokratisierung von Partei und Gewerkschaften von unten!

Nicht auf die Initiative der Bonner Regierung zur Wiedervereinigung warten. Die DDR-Regierung soll umgehend die trennenden Barrieren niederreißen!

Man muss das Land durch allgemeine, freie und geheime Wahlen einigen und einen Sieg der Arbeiter bei diesen Wahlen sichern!

Nach dieser Kampfansage folgte eine Zeit des Zögerns, weil alle unsicher über den einzuschlagenden Weg waren, bis ein anderer Arbeiter den Generalstreik für den folgenden Tag in ganz Berlin ausrief, nachdem Ulbricht und Grotewohl sich noch immer nicht der Diskussion stellten.

Auf dem Heimweg bemächtigten sich die Demonstranten eines Lautsprecherwagens der Regierung, mit denen der missverständliche Beschluss des SED-Politbüros verbreitet wurde, die Normenfrage solle gemeinsam mit den Gewerkschaften "überprüft" werden. Jetzt verbreitete er den Aufruf zum Generalstreik, beginnend mit einer Versammlung am Morgen des 17. Juni auf dem Strausberger Platz. Schon vorher war eine Abordnung von Bauarbeitern im RIAS-Funkhaus eingetroffen. Sie verlangten, zu ihren Kolleginnen und Kollegen in Ostberlin und der DDR zu sprechen, dies sei ihre einzige Möglichkeit, den Aufruf zum Generalstreik vorm Haus der Ministerien überall bekannt zu machen und die Verbindung unter den Arbeitern herzustellen.

Dies Ansinnen wurde kategorisch abgelehnt, aber der Rundfunkdirektor ließ wenigstens folgende Forderungen bekanntgeben:

Lohnzahlung ab der nächsten Abrechnung wieder nach alten Normen!

Sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten!

Freie und geheime Wahlen!

Keine Maßregelung von Streikenden und Streiksprechern!

Später gab das US-Hauptquartier die Anweisung, der RIAS möge sich auf reine Berichterstattung beschränken und unbedingt das Wort "Generalstreik" vermeiden! So erfuhr die DDR-Bevölkerung von den Vorgängen in Berlin zunächst aus dem Westradio, dann aber auch durch die Nachrichtenmittel im staatlichen Besitz der DDR (Eisenbahntelefon, Fernschreibnetz der Organisation „Deutscher Innen- und Außenhandel“), die von den Angestellten dieser Betriebe zur Verbreitung der Ereignisse benutzt wurden. Bereits am Abend des 16. Juni tritt die Nachtschicht der Berliner Großbetriebe in den Ausstand.

Am Abend des 16. Juni tagte im Berliner Friedrichstadtpalast eine SED-Parteiaktivversammlung. In offensichtlicher Blindheit gegenüber den Ereignissen feiert man die Wende zum „Neuen Kurs“, kritisiert die Fehler beim „verstärkten Aufbau des Sozialismus“, gibt sich aber mit dem Beschluss des Politbüros vom Vormittag zufrieden. Ein Großteil der Führung ist in Ostberlin versammelt, um über die Umstellungen des Fünfjahrplans zu beraten. So ist am nächsten Tag der ganze Staatsapparat den Ereignissen in der DDR hilflos ausgeliefert. Die Tagung traute den Arbeitern so wenig zu, die offiziellen bürokratischen Strukturen im Kampf zu überschreiten, dass selbstherrlich verkündet wurde, "man werde sich durch den Mob der Straße nicht unter Druck setzen lassen". (R. Havemann, "Fragen, Antworten, Frage", Hamburg 1972, 5.115)

Am 17. Juni wurde der Aufruf massenhaft befolgt: Metallarbeiter in Henningsdorf, Beschäftigte der Reichsbahn-Bau-Union u.a. beteiligten sich. Die Parolen der über 30.000 im Walter-Ulbricht-Stadion Versammelten waren noch radikaler als tags zuvor, wo die Menge den Bürokraten Selbmann und Rau entgegengeschrien hatte: "Die wahren Kommunisten sind wir, nicht ihr!" Jetzt forderten sie den Sturz der Regierung und ihre Ersetzung durch eine Arbeiterregierung, deren Aufgabe sei, die Sache der Wiedervereinigung aus den Händen der Reaktion zu entreißen und praktisch durchzuführen.

Vor dem Regierungssitz demonstrierten währenddessen alle Bauarbeiter und Arbeiter der Großbetriebe Kabelwerke Köpenick, Osram, Plania-Siemens/ Lichtenberg, AEG/ Treptow, Eisenbahn, S-Bahn, Straßenbahn usw. Insgesamt streikten ca. 150.000 Beschäftigte in Ostberlin.

Ihre Disziplin war bewundernswert. Dies änderte sich erst mit dem Einsickern reaktionärer Provokateure aus dem Westteil wie der faschistischen BDJ. Sie holten die rote Fahne vom Brandenburger Tor, brandschatzten rund um den Potsdamer Platz und provozierten die Polizei, während die Streikenden nur die Hoheitszeichen des verhaßten Regimes von Gebäuden und Straßen entfernten.

Um 13 Uhr verkündete der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand. Trotz des Einsatzes von Panzern leerten sich die Straßen erst gegen Abend. Insgesamt wurden 16-19 Personen (unterschiedliche Quellenangaben) erschossen, davon 11 Westberliner. Noch am 18. Juni befand sich die Hälfte im Ausstand; in militanten Betrieben (Kabelwerke Köpenick, Block 40 der Stalinallee) war der Streik erst am 21. Juni zu Ende.

Der Aufstand in der DDR

Die Solidaritätsbekundungen und Streiks gingen von den Großbetrieben der industriellen Zentren aus, die schon 1919-23 die Hochburgen der revolutionären Arbeiterschaft gewesen waren: Bitterfeld, Halle, Leipzig, Merseburg, Magdeburg, aber auch Jena, Gera, Brandenburg und Görlitz. In Magdeburg wurden die politischen Gefangenen befreit. Auf der Interzonenzugstrecke im Bahnhof von Halle wurde ein Transparent aufgerichtet:

"Räumt Euren Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus!" Den westdeutschen Fernfahrern auf der Transitautobahn zwischen Helmstedt und Magdeburg hielt man ein Schild entgegen, das Ulbricht und Adenauer am Galgen zeigte, mit der Losung: "Einheit macht stark." Sozialdemokratische Illusionen machten sich stark bemerkbar. So brachten Eisenbahner Plakate an ihren Lokomotiven an mit der Aufschrift:

"Fort mit Ulbricht und Adenauer, wir verhandeln nur mit Ollenhauer." (Ollenhauer war damals SPD-Vorsitzender) In Halle und Erfurt fanden blutige Straßenschlachten mit der Polizei statt, SED-Büros wurden gestürmt, Akten verbrannt, Funktionäre verprügelt, Gefängnisse geöffnet, Rathäuser und Verwaltungsgebäude besetzt. In Leipzig streikte und solidarisierte sich die Mehrzahl der Betriebe, hielt militante Kundgebungen ab, ferner beteiligten sich die Neptun-Werft in Rostock, die Zeiss-Fabriken in Jena, Lowa in Görlitz, Olympia in Erfurt, die Lokomotivfabriken von Babelsberg, Buna in Halle sowie die Stahlwerke in Fürstenwalde und Brandenburg.

Der 17. Juni war also entgegen der westlichen Propagandalüge keine Volkserhebung, sondern ein reiner Arbeiteraufstand. Den diszipliniert aufmarschierenden Belegschaften hatten die örtlichen Machthaber nichts entgegenzusetzen. Nicht zufällig bildeten Grundstoff- und Schwerindustrie die Zentren des Widerstands. Hier waren die Arbeiter am selbstbewußtesten, weil hier der Schwerpunkt beim Aufbau des Sozialismus lag und die Regierung ihnen relative Privilegien eingeräumt hatte. Außerdem waren sie besonders von den Normerhöhungen betroffen.

Der erste unabhängige Schritt der Belegschaften war die Einberufung von Versammlungen. In Berlin übernahmen hierbei die Bauarbeiter die Initiative: sie waren ebenfalls stark konzentriert, an strategisch wichtigen Vorhaben beschäftigt und genossen größere Bewegungsfreiheit als die besser kontrollierbaren, an einen Arbeitsplatz gebundenen Fabrikarbeiter. Zur Einberufung der Belegschaftsversammlungen wurde oft noch der offizielle Weg über die Gewerkschaftsleitungen benutzt, dann bestimmten sie ein unabhängiges Streikkomitee. Oft forderten sie gleichzeitig die Auflösung der SED-Betriebszelle. Die Streikausschüsse setzten die Direktoren ab, sicherten die Betriebe gegen Sabotage und organisierten, wo nötig, den Notdienst. Im Leuna-Werk „Walter Ulbricht“ forderten 20.000 Werksangehörige am 17.6.: Schluss mit der Normenkampagne, Entwaffnung des Werkschutzes, Absetzung der Betriebsgewerkschaftsleitung, Namensänderung des Werks und Rücktritt der Regierung! Die Fabrik war besetzt, ein Fabrikkomitee gab sogar Informationen und Anweisungen übers Radio. Leuna entsandte 1.500 Leute nach Berlin, um den Generalstreik zu vereinheitlichen. Nachdem - wie schon 1945 - auf Betriebsebene weitestgehende proletarische Demokratie errungen worden war, bemühte man sich diesmal, den Fehler der Beschränkung auf Einzelbetriebe zu vermeiden! Innerhalb eines Orts wurden Verbindungen zu anderen Firmen hergestellt - aber darüber hinaus wird für die nicht auf die Führung eines Aufstands vorbereitete Arbeiterklasse die Bewegung unübersichtlich, ihr Verlauf von örtlichen Gegebenheiten abhängig.

Am 18. Juni werden in Ostberlin hunderte Leuna-Arbeiter ins Gefängnis gesperrt, ohne dass der Widerstand sich abschwächte. Er dauerte bis zum 23. Juni. Selbst am 24. musste Ulbricht vor nur 1.300 Teilnehmern im Werk reden (von 28.000 Beschäftigten bzw. 23.000 Streikenden). Noch nicht mal die Hälfte der betrieblichen Parteimitglieder erschien auf dieser Versammlung!

Überhaupt entstanden im "roten Herzen Deutschlands" - dem Industriedreieck Halle, Bitterfeld, Merseburg - die bemerkenswertesten revolutionären Organisationen. In Halle versammeln sich alle Streikausschüsse im Stadtzentrum und wählen einen Initiativausschuß, der alle Großbetriebe repräsentiert, aber auch einen Studenten, einen Angestellten und einen Kaufmann umfasst. In Bitterfeld umfasst das zentrale Streikkomitee neben Vertretern der großen Betriebe eine Hausfrau und einen Studenten. In Merseburg wählen die Arbeiter von Buna und Leuna auf einem öffentlichen Platz ein überbetriebliches Streikkomitee durch Zuruf. In all diesen Städten nahmen sie die Verwaltung in ihre Hände: Gas- und Elektrizitätswerke, Feuerwehr - die die Mauern von offiziellen Parolen säubern muss (!) -, örtliches Radio und Druckereien. In Bitterfeld bildete das Streikkomitee Kampfgruppen, die die Stadtviertel kontrollierten: Vopo-Kreisamt, Kripo und Bürgermeisterei wurden ausgeschaltet, politische Gefangene befreit.

Auf dem Land gab es vereinzelte nationalistische, von Pfarrern geführte Demonstrationen. Wo eine Verbindung zur Stadt besteht, dominiert aber die Arbeiterklasse: viele Bauern und Landarbeiter beteiligten sich an Solidaritätskundgebungen in den Städten. Dorfbewohner, die in Magdeburger Fabriken arbeiteten, beriefen Dorfversammlungen ein, die LPG wurden aufgelöst, Arbeiter der MTS (Maschinen-Traktoren-Stationen) streikten.

Wenn auch vielerorts die Notwendigkeit klar gesehen wurde, verfehlten die Aufständischen das Ziel, eine landesweite Kampfesführung aufzubauen.

Die Antwort des Imperialismus

So sehr auch der Aufstand vom Fehlen einer revolutionären Klassenführung geprägt war, was schließlich seine Niederlage besiegelte, zeigte er doch, dass die Arbeiter instinktiv die Notwendigkeit erfasst hatten, ihre Bewegung auf ganz Deutschland auszudehnen. Deshalb wurde dar Generalstreik auch für Gesamtberlin ausgerufen. Deshalb marschierten die Metallarbeiter von Henningsdorf auch in den französischen Sektor. Sie suchten keine Zigaretten oder Schokolade, sondern die Solidarität der Kollegen im Westen. Doch diese blieben an ihrem Arbeitsplatz - nicht zuletzt aufgrund des Einschreitens der SPD-Führung! Bourgeoisie, westliche Stadtkonmandanten und SPD-Arbeiterbürokratie in Partei und DGB fürchteten eine Ausweitung des Streiks wie der Teufel das Weihwasser. Zur selben Zeit, als die bürgerlichen Medien die Vorzüge der westlichen Demokratie priesen, wurde jegliche Solidaritätskundgebung, wie sie die Sozialistische Jugend und einige Betriebe forderten, verboten und nur Protestverstatlungen innerhalb des (Bürger-)“Blocks der Demokratischen Organisationen“ (CDU, FDP, SPD und Westalliierte) erlaubt. Der RIAS weigerte sich auf Anordnung der US-Stadtkommandatur, den  Aufruf zum Generalstreik zu senden. Als der DGB-Landesbezirksvorsitzende mit dem Gedanken spielte, auch in Westberlin zum Solidaritätsstreik aufzurufen, wurde er von seinen Bürokratenkollegen daran gehindert!

Nicht Westberliner Arbeiter gingen nach Ostberlin, sondern faschistische Lumpen (BDJ),  von den Amerikanern bezahlt, um die Rote Armee zu provozieren. Daher stammen die meisten Toten auch aus ihren Reihen! Es ist bezeugt, dass Sowjetsoldaten in Halle u.a. Städten demonstrativ vor den Arbeitern in die Luft geschossen haben (vgl. CSSR 1968). Auch die Vopo reagierte ähnlich; nur so ist es zu erklären, dass nicht mehr als 21-30 Menschen (unterschiedliche Angaben) getötet wurden.

„Selbstkritik“ und Zugeständnisse

Die SED reagierte auf den Druck der Massen mit Drohungen wie mit Versprechungen. Die Arbeiter empfanden die an den Stalinisten geübte "Selbstkritik" als Sieg. Die bürokratische Normerhöhung von 10% musste zurückgenommen werden, die meisten inhaftierten Arbeiter wurden wieder freigelassen, der Investitionsfonds für die Schwerindustrie wurde zugunsten gewisser sozialer Maßnahmen (Wohnungsbau) angezapft, 50% des Schwerindustriefonds für die Gebrauchs- und Leichtgüterbranche verwandt (Ministerratsbeschluss vom 26.6.). Die Arbeiter forderten weiter die Ablösung bestimmter Funktionäre. Grotewohl wurde auf einer Kundgebung des Transformatorenwerks Oberschöneweide scharf kritisiert, ebenso wie Ulbricht von Arbeitern der Maschinenfabriken Weißensee. Das „Neue Deutschland“ musste eine  Zeitlang kleine Brötchen backen. Am 2. Juli gestand Justizminister Max Lechner formell das Streikrecht zu und versicherte den Mitgliedern die Straffreiheit, während Ulbricht vor den Leunaer Arbeitern am 24.6. noch radikale Töne gespuckt hatte.

Die Gefährdung der bürokratischen Herrschaft

Wir kennzeichnen den Arbeiteraufstand vom 17. Juni als revolutionäre Situation.

“Eine revolutionäre Krise entsteht, wenn die Gesellschaft eine Sackgasse erreicht: Die Bourgeoisie ist gespalten und von Regierungskrisen heimgesucht, die Massen sind nicht mehr bereit, das alte Regime zu tolerieren, und demonstrieren wiederholt ihren Willen und die Bereitschaft, alles zu opfern, um den Kapitalismus zu besiegen." (1)

Wendet man diese Formulierung des Trotzkistischen Manifests auf die stalinistische Bürokratie und die degenerierten Arbeiterstaaten an, sieht man unsere Definition bestätigt. Das Fehlen einer revolutionären Arbeiterpartei verhinderte, dass sich die embryonalen Doppelmachtorgane - im wesentlichen Streikkomitees - zu nationalen Räten vereinigten und bewaffneten, kurz, die politische Revolution erfolgreich, durchgeführt werden konnte.

Der Ansatz einer politisch-antibürokratischen Revolution in der DDR war das Signal für die Arbeiter anderer „Volksdemokratien“, die gebrechliche Herrschaft der Bürokratie in Frage zu stellen. Unruhen, Aufstände und Revolutionen sahen wir 1953 in Workuta (UdSSR), 1956 in Ungarn, Polen und der CSSR (Brünn, Pilsen), 1968 wiederum in der CSSR („Prager Frühling“), 1970, 1976 und 1980/81 in Polen sowie nach 1989 in ganz Osteuropa und der UdSSR. Konnten sich die Herrschenden noch bis 1989 mit Gewalt und dem Austausch der Führungskräfte an der Macht halten, so zeigten doch schon die Ereignisse ab 1953, was heute vollends Gewissheit ist: die soziale Unsicherheit und innere Mobilität der stalinistischen Kaste ist sehr groß. Ihre Stabilität ist viel geringer als die einer Klasse, weil sie eben kein eigenes soziales Fundament und darauf gegründete politische Legitimation besitzt! Sie ist ein parasitärer Auswuchs auf den vom Proletariat 1917 erkämpften sozialen Grundlagen. In ihrer Rolle als politischer Agentur des Imperialismus innerhalb der degenerierten Arbeiterstaaten verteidigt sie diese Grundlagen nur auf Kosten des Verrats an der internationalen Revolution und nur solange, sie die enormen Privilegien der Nomenklatura garantieren.

Alliierte Deutschlandinteressen nach 1945

Wie wir später sehen werden, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Ereignisse um den 17. Juni 1953  die Deutschlandpolitik der Sowjetunion und ihr zeitweiliger Widerspruch zur SED-Führung um Ulbricht.

Das Besondere an 2. Weltkrieg war nicht der innerimperialistische Konflikt, sondern das Bündnis der USA, Großbritanniens und Frankreichs mit dem Staat, den sie bei dessen Entstehung noch zu zerschlagen versucht hatten - der UdSSR.

Die Anti-Hitler-Koalition stand im Zeichen der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie. Eine Voraussetzung dafür war der VII. Weltkongreß der Komintern 1935, der diese Verteidigung gegen den Faschismus als erste Kampfaufgabe definierte. Die andere bildete der innerimperialistische Gegensatz zwischen den westlichen bürgerlichen Demokratien und den „zu spät gekommenen“ Imperialismen Deutschland, Italien und Japan, allesamt Länder, deren moderne Entwicklung sich auf verspäteten und unvollkommenen bürgerlichen Revolutionen gründete.

Am Tag ihrer Niederlage mussten die Gegensätze zwischen den Alliierten, v.a. der Klassengegensatz zum Arbeiterstaat UdSSR, wieder aufbrechen. Der 'Kalte Krieg' war vorprogrammiert: das Kräfteverhältnis innerhalb des imperialistischen Lagers hatte sich klar zugunsten der USA verschoben. Andererseits wurde ihre Herrschaft durch antikoloniale Bewegungen und die Ausdehnung der sowjetischen Einflusssphäre bedroht. Letzteres fand seinen Ausdruck im Geheimabkommen zwischen Churchill und Stalin, im Oktober 1944 und der Anerkennung Osteuropas als Einflussgebiet der UdSSR auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945. Die Liquidierung oder zumindest Eindämmung dieser Einflusssphäre wurde zum Ziel der US-Strategie.

Im Potsdamer Abkommen vom August 1945 einigten sich die Alliierten auf folgende Ziele und Prinzipien der Besetzung Deutschlands: völlige Abrüstung und Entmilitarisierung, Ausschaltung der Kriegsproduktion, Beseitigung der Monopolunternehmen, Wiedererrichtung des politischen Lebens auf demokratischer Grundlage, Behandlung Deutschlands als wirtschaftliche Einheit. Die stalinistische Geschichtsschreibung sieht das Abkommen als Beweis für ein mögliches Weiterbestehen der Koalition über den Krieg hinaus. Dabei wird übersehen, dass hinter der formaljuristischen Einigung auf den Vertragstext keine realen einheitlichen Interessen standen. Wenn schon das Kriegsbündnis nur angesichts der Eroberungspläne Hitlers zustande kam, konnte die Einigkeit kaum gewahrt bleiben, wenn der Grund seines Zustandekommens entfiel. Als innerhalb der Westalliierten noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten herrschten, verfolgte die Sowjetbürokratie zwei klare Ziele: Sicherheit und Reparationen.

Proletarischer Internationalismus und sowjetische Besatzungspolitik

Angesichts der verheerenden Kriegsschäden war die Forderung der UdSSR nach Wiedergutmachung allzu verständlich. Stalin gelang es nicht, einen festen Wert an Reparationszahlungen ins Potsdamer Abkommen aufnehmen zu lassen. Die Ansprüche sollten durch Entnahme aus den jeweiligen Besatzungszonen befriedigt werden; zusätzlich sollte die SU aus den Westzonen erhalten: 10% der industriellen Ausrüstung, soweit sie für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig sind, ohne Bezahlung oder Gegenleistung und 15% im Austausch gegen einen entsprechenden Wert. Damit dies funktionierte, musste für ganz Deutschland eine gemeinsame Wirtschaftspolitik gefunden werden. Auf der Konferenz der Außenminister in Paris im Juni/Juli 1946 beanspruchte Molotow 10 Mrd. US-Dollar, die Hälfte der Gesamtsumme, auf die Stalin und Roosevelt sich für die alliierte Reparationskommission geeinigt hatten; ferner forderte er eine 40jährige Besatzung! Als Rechtfertigung diente die Kollektivschuldthese: das deutsche Volk als ganzes trage die Schuld an den Verbrechen Hitlers und Verantwortung für deren Folgen.

Die Reparationen erfüllten jedoch ihren Zweck nur unter der Bedingung, dass eine Wiederholung einer Aggression, wie sie z.B. der deutsche Imperialismus ausgeübt hatte, endgültig ausgeschaltet wurde. Das Kernland sollte gegenüber den USA durch 3 konzentrische Kreise abgeschirmt werden: direkte Annexionen (Baltikum, Ostpolen u.a.), einen „volksdemokratischen Gürtel“ von der SU weitgehend, aber nicht vollständig strukturell angeglichener Staaten (Polen, Rumänien, Bulgarien), schließlich die westlichste „Pufferzone“, in der die Gesellschaftsordnung sich am deutlichsten von der eigenen unterscheiden sollte. Für Deutschland bedeutete dies: Verkleinerung und dauernde Niederhaltung durch die Siegermächte. Hierauf gingen die USA nicht ein, sie verweigerten die Viermächtekontrolle über das Ruhrgebiet. Als Alternative zu einem voll in den imperialistischen Machtbereich eingegliederten Westdeutschland bot sich dann nur noch ein neutrales, abgerüstetes, entflochtenes und bestimmten militärischen und ökonomischen Auflagen unterworfenes Gesamtdeutschland an. Artikel 12 des Potsdamer Abkommens über die Entflechtung der Konzerne diente der sowjetischen Militärregierung in der Ostzone dazu, dieses Ziel zu verfolgen. Durch die angepeilte (Mit)Kontrolle des Ruhrgebiets beabsichtigte die UdSSR zudem, eine teilweise Mitsprache über die westeuropäische Gesamtwirtschaft auszuüben.

Die Amerikaner verfolgten zwar nicht mehr ihren Plan von Jalta, Deutschland zu zerstückeln; trotzdem wird aber schon am Wortlaut des Potsdamer Vertrages deutlich, dass es unterschiedliche Besatzerinteressen gab. Gesetzgebende und ausführende Gewalt wurden in die Hände der Mililitärgouverneure der jeweiligen Zone gelegt, die den Weisungen ihrer Regierungen folgten. Der gemeinsame Kontrollrat war nur ein Koordinationsgremium ohne Verwaltungs- oder Regierungsbefugnisse. Auch in punkto Reparationsregelungen entschied letztlich nicht die alliierte Reparationskommission, sondern der Oberbefehlshaber der Zone, aus der Güter entnommen werden sollten. So befahl General Clay am 3.5.46 die Einstellung der Lieferungen an die SU aus der US-Zone! Die entscheidende Differenz zwischen den USA und der UdSSR bestand darin, dass erstere die Integration Westdeutschlands in den von ihr hegemonisierten militärisch-ökonomischen Block, in eine Allianz auch gegen letztere also, von Anfang an gegenüber einer gesamtstaatlichen Puffervariante bevorzugte!

Eckhoff, auf dessen Analyse wir uns weitgehend stützen, irrt, wenn er meint, dass der Unterschied darin bestand, dass die SU "eine Veränderung der Klassenverhältnisse innerhalb Deutschlands zuungunsten der Grundbesitzer und Monopolkapitalisten" herbeiführen wollte, während die Amerikaner die "Ausschaltung eines imperialistischen Konkurrenten, politisch wie wirtschaftlich, aber unter Beibehaltung seiner Klassenstruktur” anvisierten. (2)

Darin bestand der Unterschied eben nicht, zumindest nicht vor Ende 1947, als bürokratische Arbeiterregierungen sich ans Werk der Zerschlagung der bürgerlichen Macht in Osteuropa nachten!

Der Widerspruch der sowjetischen Politik der Annexionen, Reparationen und Demontagen zum proletarischen Internationalismus, fällt ins Auge. Die Bolschewiki forderten im 1. Weltkrieg einen Frieden ohne Annexionen und Reparationen von den kriegführenden imperialistischen Staaten, während die SU nach dem 2. Weltkrieg Tribut vom imperialistischen Aggressor zum Wiederaufbau ihrer Planwirtschaft verlangte. Der Unterschied besteht aber nur in punkto Berechtigung ihrer Forderungen, nicht jedoch bezüglich der Auswirkung dieser Maßnahmen auf die Klassenbeziehungen zwischen deutschen Unternehmern und Arbeitern! Solange das Bürgertum nicht entmachtet war, konnte sie die Lasten auf das Proletariat abwälzen, schwächten diese Maßnahmen die Arbeiterklasse. Die Forderung von Revolutionären konnte nur die der Erklärung der Buchenwalder Trotzkisten sein: Keinen Mann, keinen Pfennig für die Kriegs- und Reparationsschulden der Bourgeoisie! Die Bourgeoisie muss zahlen! Vom Standpunkt einer zukünftigen sozialistischen Revolution bedeutet der Abbau der gerade von den Arbeitern wieder in Gang gesetzten Industrie Hemmung der Bewusstseinsentwicklung und Behinderung des proletarischen Internationalismus, denn die UdSSR erschien als genauso egoistische Siegermacht wie die Westalliierten. Ökonomisch waren die Demontagen darüber hinaus unsinnig. Die revolutionäre Antwort zur Beseitigung der Kriegsschäden hätte ein internationaler Wirtschaftsplan zwischen Rätedeutschland und der UdSSR sein müssen!

Unter Besatzungsbedingungen war die Aktionsfreiheit der Arbeiterklasse durch die Aufteilung in vier Zonen eingeschränkt. Da die SU nicht den Sozialismus förderte, sondern zunächst den Kapitalismus aufrechterhalten wollte, um ihn später in konterrevolutionär-bürokratischer Manier von oben abzuschaffen, konnte die Forderung nur sein: Abzug aller Besatzungstruppen, auch der Roten Armee! Wäre diese noch das Werkzeug eines revolutionären Arbeiterstaates gewesen, hätte sie außerhalb einer Situation des imperialistischen Angriffs gegen die UdSSR selbst auch nur im Lande bleiben dürfen, wenn eine anerkannte kommunistische Führung des deutschen Proletariats sie um Unterstützung beim Machtkampf gegen die Bourgeoisie gebeten hätte! Der antikapitalistische Kampf nach 1945 konnte nur erfolgreich sein, wenn die Arbeiterklasse weder mit der geschlagenen deutschen Bourgeoisie noch mit den Besatzungsmächten kollaborierte.

Die Volksfrontpolitik der Stalinisten nach 1945

Im Aufruf vom 11. Juni 1945 drückte die KPD das Interesse der Sowjetbürokratie an einer demokratischen, d.h. bürgerlichen Republik unter ausdrücklicher Ablehnung des Sowjetsystems aus. Damit steht er in der Kontinuität der Brüsseler Konferenz der Exil-KPD 1935 und der Berner Konferenz von 1935. Die 'Gegenwartsforderungen' in den 'Grundsätzen und Zielen der SED' des Vereinigungsparteitags von 21./ 22. April 1946 forderten in Auslegung der vieldeutigen Artikel des Potsdamer Abkommens die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und die Parzellierung des Großgrundbesitzes in den Händen der Volksfrontregierung.

Der antifaschistisch-demokratische Block sollte auf Grundlage der Einheit der Arbeiterklasse hergestellt werden. Zu diesem Zweck diente die Vereinigung mit der SPD. Doch auch der Zusammenschluss der 'vereinheitlichten Arbeiterklasse' mit Teilen des Bürgertums in der Volksfront geschieht auf der Grundlage eines bürgerlichen Programms! Zudem erfolgte der Zusammenschluss zur SED rein organisatorisch, nicht als Ergebnis programmatischer Diskussion, und bedeutete ebensowenig eine Vereinheitlichung der Arbeiterklasse, wie der am 14.7.45 gebildete Block aus KPD, SPD, LDPD und CDU tatsächlich ein Bündnis zwischen 'demokratischer' Bourgeoisie und Proletariat repräsentierte. Diese Zusammenschlüsse wurden vielmehr durch die Tatsache ermöglicht, dass die Staatsmacht in der SBZ in den Händen der Roten Armee lag.

Der Aufruf vom 11. Juni 1945 steht zudem in der Linie der Dimitroffschen Faschismus- und Volksfronttheorie, der zufolge der Faschismus nur die Diktatur der reaktionärsten Teile des Finanzkapitals sei. Sie verkennt, dass er eine spezielle Form der Diktatur der bürgerlichen Gesamtklasse darstellt. In einer tiefgehenden Krise überwiegen seine Vorteile für die ganze Bourgeoisie (Zerschlagung der Arbeiterbewegung, Senkung der Lohnkosten) die Nachteile der Regierung einer Bewegung des 'wildgewordenen' Kleinbürgertums. Der Sichtweise der Dimitroffs zufolge gilt es jedoch nicht mehr die Kapitalistenklasse als ganze zu bekämpfen, sondern nur ihre besonders schlimmen Exponenten. Das Kapitalverhältnis als allgemeines, die ganze Gesellschaft durchdringendes Grundverhältnis wird personalisiert und verschwindet aus den Augen. So sind es im Aufruf nur die Nazis, Kriegsverbrecher und Militaristen, gegen die es vorzugehen gilt.

Zugleich suggeriert der Text, dass die Beseitigung dieser Monopolisten die Abschaffung von Lohnarbeit und Kapital bedeute. Ebenso scheint die Aggressivität des deutschen Kapitals aus dem preußischen Militarismus hervorzugehen statt umgekehrt diesen als Produkt der späten Industrialisierung Deutschlands und seines dadurch bedingten Konkurrenznachteils auf dem Weltmarkt zu begreifen. Zwar gab es kaum einen Kapitaleigner, der nicht unter diese Kategorien fiel, aber der Begriff der Verstaatlichung wurde vermieden, um potentielle Bündnispartner nicht zu verschrecken. Die Aktionäre sollten nicht als Kapitalisten, sondern als Kriegsverbrecher usw. enteignet werden.

Im Westen verbreitete die KPD noch zwei Jahre nach der Niederlage Hitlers Illusionen in die gemeinsame Sache der Siegermächte und leugnete standhaft, dass sich zwischen den Alliierten eine Konfrontation anbahnte. Erst mit der Gründung des Einzonen-Wirtschaftsrates am 25.6.47 denunzierte sie die US-Militärregierung als Motor der Spaltung und Dienerin des US-Monopolkapitals. Mit der Herner Konferenz vom April 1948 stellte sie erstmals “Veränderungen in der internationalen Lage nach dem Zweiten Weltkrieg” fest. Deutschland sei ein Schnittpunkt, in dem die weltpolitischen Gegensätze aufeinander prallen. Diese Einschätzung kam erstens drei Jahre zu spät und reflektierte zweitens nicht mehr als den Übergang zu einer bürokratischen Arbeiterregierung in der SBZ, die sich unter dem Druck des Marshall-Plans und der Währungsreform in den Westzonen gezwungen sah, die Umwälzung der EigentumsverhäItnisse von oben und unter Ausschaltung der Eigenaktivität der Arbeiterklasse zu gehen, weil auf keine andere Weise verhindert werden konnte, dass Osteuropa und die deutsche Ostzone in eine gegen die UdSSR gerichtete wirtschaftliche, militärische, supranationale, imperialistische Allianz hineingezogen wurden.

Drittens fiel der West-KPD auch jetzt nichts grundsätzlich anderes ein, als die „demokratische Neuordnung  Westdeutschlands“ zu fordern, d.h. die alte Volksfrontpolitik, nur diesmal mit der Betonung des 'revolutionären Massenkampfs' garniert, weiterzuführen.

Lt. stalinistischer Geschichtsschreibung scheint dagegen in der Ostzone der friedliche Übergang zum Sozialismus in Etappen vom Potsdamer Abkommen über die antifaschistisch-demokratische Periode bis zum Beschluss des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus auf der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 gelungen zu sein. Dieser Weg sei auch für Westdeutschland möglich gewesen. In Wirklichkeit hat nur der Faktor Rote Armee, die Tatsache, dass Deutschland kein souveräner Staat mehr war, die Bourgeoisie keinen Staat und keine Armee zu ihrer direkten Verfügung hatte, die soziale Umwälzung ohne revolutionären Bürgerkrieg ermöglicht. In Ländern, wo das Bürgertum noch die Macht besaß (Frankreich, Griechenland, Italien) oder die ausländische Bourgeoisie die einheimische vertrat (Westdeutschland), scheiterte die Volksfrontstrategie mit der Machtergreifung der Arbeiterklasse wie in Frankreich und Spanien in den 30er oder in Chile in den 70er Jahren.

Ein friedlicher Weg zum Sozialismus?

Der Anschein einer friedlichen und etappenweisen Enteignung der Kapitalistenklasse in der Ostzone kann nur entstehen, wenn ausgeblendet wird, dass die Rote Armee stellvertretend die Staatsmacht in Händen hielt. Für Konrad Eckhoff ist damit auch schon der Klassencharakter der Ostzone und späteren DDR besiegelt: "Der antagonistische Klassencharakter der Besatzungsmächte entschied auch über den antagonistischen Charakter der staatsähnlichen Verwaltungen, später der Staaten, die sich unter ihrem Schutz herausbildeten.“ (3)

Und weiter: „In der SBZ nahmen dieselben Verstaatlichungen (der Schlüsselindustrie, der Bodenschlitze und Banken; Anm. d. Verf.) von vornherein einen antikapitalistischen Charakter an, weil die verstaatlichten Betriebe in die Hände von Länderverwaltungen kamen, die an die Stelle der alten bürgerlichen Staatsmaschine getreten waren und deren entscheidende Positionen von deutschen Stalinisten als Agenten der sowjetischen Deutschlandpolitik besetzt waren. Wenn dies begriffen ist, wird auch klar, dass es in der SBZ/DDR niemals eine antifaschistische-demokratische Etappe gegeben hat, die  einen von der gesellschaftlichen Ordnung nach der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 unterschiedlichen Charakter gehabt hätte. Unter der Besetzung durch die Armee eines Arbeiterstaates fügten sich die antifaschistisch-demokratischen Verstaatlichung der VEB, Säuberung der Verwaltungen - mit der seit 1948 beginnenden Planwirtschaft und der Gründung der staatlichen Handelsorganisation (HO) zu Bausteinen des Aufbaus der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus zusammen, längst bevor die SED im Juli 1952 formell beschloss, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.“ (4)

Der Kardinalfehler in dieser Argumentation liegt in einer unzulässigen Gleichsetzung der Situation in Osteuropa unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg mit der Einverleibung Ostpolens 1939 in die UdSSR. Im letzteren Fall fand eine strukturelle Assimilation statt, d.h. die Eigentumsverhältnisse und der Charakter der Staatsmacht änderten sich. Es erfolgte eine bürokratisch kontrollierte soziale Revolution von oben, weil die Sowjetunion diese Gebiete sich selbst einverleibt: d.h. weil sich das Territorium, auf dem ein degenerierter Arbeiterstaat und eine bürokratische Planwirtschaft herrschten, ausdehnte. Gemäß Eckhoffs Logik hätte aber in den nach dem 2. Weltkrieg von der UdSSR besetzten Gebieten wie Ostösterreich, Thüringen, Port Arthur oder Nordiran nach deren Rückzug eine soziale Konterrevolution stattgefunden!

Eckhoff ist allerdings zuzustimmen, wenn er die Umwandlung der DDR in einen degenerierten Arbeiterstaat vor die 2. Parteikonferenz verlegt, denn diese brachte als neues Moment nur die Kollektivierung. Niemand käme aber auf die Idee, die Periode der NEP in Russland als antizaristisch-demokratische Diktatur zu bezeichnen, nur weil dort ein im übrigen erheblich größerer privater Wirtschaftssektor als in der DDR vor 1952 existierte. Er zeigt auch richtig auf, dass die Arbeiterklasse nur in Gastalt des Rätesystems wirklich zum Subjekt der Geschichte werden und zum Bewusstsein ihrer selbst kommen kann. Die eine entfremdete Form, der Diktatur der Arbeiterklasse in Form einer sie substituierenden und unterdrückenden Bürokratie bedingte auch eine Entfremdung der Massen von 'ihrem' Staat. Sie erlebten die gesellschaftlichen Unwälzungen als Objekt, nicht als Resultat ihres eigenen Handelns, einer selbst durchgeführten Revolution.

Konterrevolutionäre Form der sozialen Umwälzung

Während des 2. Weltkriegs konzentrierten sich, die Westalliierten auf die Rückeroberung ihrer an Deutschland und Japan verlorenen Kolonien. Die USA gewährten Waffenhilfe und Kredite an die UdSSR, verfolgten aber das Ziel, die Achsenmächte zu besiegen und ihren sowjetischen Verbündeten abzunutzen, indem sie lange die Eröffnung einer zweiten Front in Europa verzögerten. Noch 1942 herrschte die Einschätzung vor, die US-Kontrolle über ganz Europa nach Kriegsende mittels Übernahme des von den Deutschen installierten administrativen Apparates erreichen zu können. Erst der Vormarsch der Roten Armee zwang die USA zu taktischen Zugeständnissen und machte die Konferenzen in Teheran, Jalta und Potsdam notwendig. Teile ihrer herrschenden Klasse stimmten gegen solche Zugeständnisse und forderten eine Entscheidung gegen die SU, bevor diese sich stabilisieren und ihr gewaltiges Potential entwickeln konnte (Staatssekretär Joseph Grew noch vor Jalta).

Die Explosion der ersten Atombombe während der Potsdamer Konferenz veränderte das militärische Kräfteverhältnis, ein sowjetischer Zugriff  auf Japan wurde dadurch überflüssig und abgewendet. Churchill war begeistert und spielte mit dem Gedanken, die Wehrmacht als Bollwerk gegen die UdSSR wieder aufzubauen. Die Reparationen waren deshalb der entscheidende Punkt in Potsdam, weil Stalin dringend seine Wirtschaft zum Schutz gegen diese äußere Gefahr wie auch gegen drohende Revolten der eigenen Arbeiter wiederaufbauen wollte. Kurz vor der Konferenz, im Juni 1945, stoppten die USA ihre Hilfsleistungen an die SU und nahmen fortan eine harte Haltung in der Reparationsfrage ein. Zu einem Krieg mochten sie sich jedoch nicht entschließen. Zum einen erschien ihnen das militärische Risiko zu hoch. Die Kriegsmüdigkeit zuhause war groß, die eigenen Verbündeten fielen militärisch nahezu aus, weil ihre Wirtschaft am Boden lag. Dasselbe galt in noch größerem Ausmaß für Deutschland und Japan, ohne deren Kriegsbeteiligung eine Eroberung der SU schon aus logistischen Gründen wohl kaum erfolgreich hätte sein können. Im Fall der ehemaligen Achsenmächte mussten die Westalliierten außerdem Vorsorge treffen, dass deren aggressiver imperialistischer Charakter entschärft wurde, der ja während des 2. Weltkrieges die  Hauptgefahr für die anglo-amerikanischen Pfründe darstellte. Folglich existierten zunächst Pläne wie der Morgenthaus, die auf die Kolonialisierung der ehemaligen Kriegsgegner abzielten: Deutschland sollte Industriepotential verlieren und zum Agrarland werden. Vor einer Lösung dieser Frage konnte die US-Hegemonialmacht jedenfalls nicht einen unbeschwerten „Ostlandritt“ unternehmen!

Nicht minder wichtig für die USA war die Auflösung der britischen und französischen Kolonialreiche. Nicht umsonst hatte Trotzki bis kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs den innerimperialistischen Hauptwiderspruch zwischen Großbritannien und der USA festgemacht. Die während des Kriegs eingetretene Verschuldung Großbritanniens gab den USA einen Hebel, ihre absolute wirtschaftliche Vorherrschaft in Form eines Freihandelsweltmarktes umzusetzen, auf dem für Kolonialreiche kein Platz mehr war. Die USA mussten einen Beitrag zum Wiederaufbau Frankreichs und Großbritanniens leisten und konnten gleichzeitig entscheidende Zugeständnisse abtrotzen, die einen Rückfall in alte protektionistische Blöcke verhinderten. In Europa war der Wiederaufbau Deutschlands mittels Marshall-Plan also nicht nur eine ökonomische Notwendigkeit, um überschüssigem US-Kapital eine profitable Anlagesphäre zu verschaffen, sondern auch ein politisches Instrument, um die westlichen Partner der Anti Hitlerkoalition gefügig zu machen. Die supranationalen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Strukturen (UNO, NATO, IWF, GATT) drücken das Gelingen dieses Plans aus. Auch nach dem Abrücken von der vollständigen Demontage Deutschlands haben die USA also nur eine Rekonstruktion des deutschen Imperialismus unter Einbeziehung in einen von ihr hegemonisierten Block gestattet, was gleichzeitig zur Integration aller anderen westeuropäischen lmperialismen beitrug!

Ein irgendwie geartetes Gesamtdeutschland, selbst als bürgerlicher Staat, war also von Anfang an eine Utopie, der die Stalinisten allerdings lange anhingen.

Geht aus dem vorher Gesagten schon hervor, dass die USA nach Kriegsende zuerst innerimperialistische Probleme lösen mussten, bevor sie an die Eroberung Osteuropas und der UdSSR auch nur ernsthaft denken konnten, so hinderte sie ein weiterer entscheidender Faktor an der Umsetzung dieses Projekts: der Kreml wurde gebraucht, um die revolutionären Situationen in Italien, Frankreich und Griechenland abzuwürgen, die antifaschistischen und antikapitalistischen  Massenbewegungen in Osteuropa zu zerstören, wo die Stalinisten das Privateigentum schützten, ja teils sogar wieder einsetzten und die Beschlagnahmung durch Arbeiter und Bauern verhinderten. Wo Arbeiter Fabriken in ihre Hände nahmen, benutzten die Stalinisten die Verstaatlichung als Mittel, ihnen die direkte Kontrolle zu entreißen.

Die Periode von 1944-47 bezeichnen wir als Situation der Doppelherrschaft, die auch das Kräftegleichgewicht zwischen der Weltbourgeoisie und der UdSSR widerspiegelte. Die politische Macht in Osteuropa war zwischen Stalinisten und Bürgertum aufgeteilt: erstere besaßen das Monopol auf den Unterdrückungsapparat, aber die Unternehmer waren durch ihre Kontrolle über die stark verstaatlichte Wirtschaft in den politischen Überbau reintegriert. Je weniger einheimische Bourgeoisie und Stalinisten wirkliche soziale Kräfte im Land repräsentierten, desto bonapartistischer waren die Regierungen. Die Schwäche und Abhängigkeit der Kapitalisten von den Stalinisten, um ihr Privateigentum aufrecht zu erhalten; die Notwendigkeit eines Verhandlungskompromisses Stalins mit dem Imperialismus, um Wirtschaftshilfe zu bekommen; die Unterdrückung der unabhängigen Aktivität der Arbeiterklasse diktierten die Notwendigkeit, aber auch die Instabilität der Doppelmachtphase. Die Auflösung der Balance ohne Bürgerkrieg, also in kalter Manier, war nach 1948 nur aufgrund des Waffenmonopols der stalinistischen Kräfte möglich.

Die osteuropäischen Nachkriegsregierungen schützten die extrem verwundbaren Kapitalisten vor der Enteignung durch genuine Arbeitermacht. Die Stalinisten regierten zu diesem Zweck entweder in Form einer bürgerlichen Arbeiterregierung anstelle der Bourgeoisie (SBZ) oder zogen diese in offene Koalitionen (Volksfronten) wie in der Tschechoslowakei oder Rumänien. Eine Beendigung der Doppelherrschaft durch Machtübernahme  revolutionärer Arbeiterräte musste verhindert werden, um nicht auch die Herrschaft der Stalinbürokratie in der SU selbst in Gefahr zu bringen. Zwei andere Möglichkeiten blieben: die volle Rekonstruktion eines kapitalistischen Staates mit dem Rausschmiss der KPen aus der Regierung oder eine von Beginn an bürokratische soziale Umwälzung, in der das Proletariat von der direkten Machtausübung ausgeschlossen blieb, und die folglich konterrevolutionär bezüglich ihrer Auswirkungen auf das Klassenbewusstsein war. Erstere Variante bevorzugten die Stalinisten, wo immer die unabhängige Klassenaktivität der Arbeiter- und Bauernmassen eine in Ansätzen alternative revolutionäre Führung hervorbrachte und ihr über den Kopf zu wachsen drohte (Vietnam 1945).

Unter der Bedingung, dass der Weltimperialismus viel stärker als der isolierte degenerierte Arbeiterstaat Sowjetunion war, musste die Vorherrschaft der Stalinisten unter Beibehaltung der wirtschaftlichen Macht der einheimischen Unternehmer über längere Zeit eine reaktionäre Utopie bleiben.

Schrumpfender Welthandel und Risse in der globalen imperialistischen Ökonomie schwächten die  Beziehungen zwischen dem anglo-amerikanischen Imperialismus und den osteuropäischen Bourgeoisien bis 1947. Das Gespenst der europäischen Nachkriegsrevolution trat dank tatkräftiger Hilfe des Kreml in den Hintergrund. Mit der Truman-Doktrin 1947 und dem sie begleitenden Marshall-Plan schlugen die USA mehrere Fliegen mit einer Klappe: Rekonstruktion der Weltwirtschaft mit massivem US-Einfluss  auf Innen- und Außenpolitik auch ihrer imperialistischen Konkurrenten; Säuberung der Stalinisten aus den Koalitionsregierungen in Frankreich und Italien; Eindämmung und Zurückdrängen des Einflusses der SU, aber kein offener Krieg. Marshallhilfe und Währungsunion in Westdeutschland stellten dem Kreml die Gretchenfrage: Rückzug oder komplette Enteignung der osteuropäischen Kapitalisten. Mehrere „Bruder“parteien befürworteten die Annahme des Marshallplans. Molotow arrangierte ein Handelsabkommen dagegen. Stalin brachte die Satellitenparteien auf Kurs und ordnete die Eliminierung der bürgerlichen Herrschaft in seinem Einflussbereich an.

Ein notwendiger und vorbereitender Schritt zur Liquidierung des Kapitalismus in Osteuropa war die komplette bürokratische Kontrolle der nationalen KPen über die Arbeiterschaft, erzielt durch Fusionen mit der rivalisierenden Sozialdemokratie. Führende bürgerliche Figuren wurden verhaftet oder exekutiert; anstelle der Volksfront- oder bürgerlichen Arbeiterregierungen traten antikapitalistische bürokratische Arbeiterregierungen. Die qualitative Transformation zu degenerierten Arbeiterstaaten war aber erst zu dem Zeitpunkt gegeben, als die Planprinzipien sich das Wertgesetz untergeordnet hatten. Dieser Aspekt der von Geburt an degenerierten, Arbeiterstaaten unterscheidet sich von Sowjetrussland nach der Oktoberrevolution, wo die Staatsmacht in Händen der Räte und der Arbeitermilizen lag, bevor Nationalisierung und Planwirtschaft eingeführt waren!

Weil das stalinistische Programm im Unterschied zum bolschewistischen der Erhaltung bürgerlicher und der Unterdrückung proletarischer Staatsformen verpflichtet ist, auch wenn die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse gestürzt sein sollten, konnte man Russland schon seit Oktober 1917 als Diktatur des Proletariats bezeichnen, die Länder Osteuropas aber erst mit der Durchsetzung der Planwirtschaft auf dem Boden der radikalen Enteignung und Entmachtung der Bosse, des Außenhandelsmonopols und der Verstaatlichung. Selbst während der Phase der bürokratischen Arbeiterregierungen wäre unter anderen politischen Bedingungen der Übergang zum degenerierten Arbeiterstaat von den Stalinisten gestoppt und in Richtung voller Rekonstruktion bürgerlicher Macht in Gang gesetzt worden, um ihre Verhandlungsposition gegenüber dem Weltimperialismus zu stärken. (5)

Dem widersprüchlichen Charakter der Stalinbürokratie, als Agentur des Weltimperialismus auf dem Boden eines Arbeiterstaates, dem komplexen Geschehen nach 1945 von der Doppelherrschaft üher die  Arbeiterregierungen bis zur Etablierung einer deformierten Diktatur des Proletariats wird also eine Auffassung nicht gerecht, die den 8. Mai 1945 als Übergang der Staatsmacht in die Hände der Arbeiterklasse begreift. (6) Erst mit der Einführung der 5-Jahres-Pläne war der eben geschilderte gesellschaftliche Umwandlungsprozess abgeschlossen. In der DDR können wir erst mit Inkrafttreten des ersten langfristigen Wirtschaftsplans 1951 von einem Arbeiterstaat sprechen. Der vorhergegangene diente dagegen nur dem Ingangbringen der kapitalistischen Wirtschaft mit dem zusätzlichen Ziel, Reparationen zu erstatten. Abstimmung mit den RGW-Staaten und detailistische Mengenplanung waren dagegen bestimmende Merkmale des 5-Jahr-Plans. Ende 1950 trat die staatliche Plankommission an die Stelle des Ministeriums für Planung, alle VEB wurden unmittelbar den Hauptverwaltungen der zuständigen Fachministerien unterstellt, viele Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB) aufgelöst bzw. aus den Landes-VVBs ausgegliedert. Mitspracherechte von Arbeitern, Angestellten und Gewerkschaften beschränkten sich nur noch auf Betriebsebene und auch hier blieb nur ein schmaler Spielraum, weil alle Entscheidungen über Produktion, Verteilung und Investitionen der Zentrale bzw. übergeordneten Instanzen vorbehalten waren. Den Betrieben oblag nur noch die organisatorisch-technische Realisierung in Form von Betriebsplänen. Da im Plan bereits die Gesamtlohnsumme festgelegt war, konnten die verschiedenen Kollektivverträge der Gewerkschaften nur noch unbedeutende Details aushandeln. (7)

Bewegungen für die deutsche Einheit

Im Unterschied zum übrigen Glacisgürtel überwog in Deutschland als Hauptziel des Kreml immer noch die Verhinderung der Einbeziehung der Westzonen in einen antisowjetischen Block. Nach Anschluss an den Marshall-Plan war diese Strategie hoffnungsloser und defensiver denn je. (8) Die erste Kampagne stand noch ganz im Zeichen Potsdams und der antifaschistischen Ordnung. SED und KPD beriefen für den 6./7. Dezember 1947 (!) den „1. Deutschen Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden“ nach Berlin ein. Der ständige Ausschuss, später „Deutscher Volksrat“ genannt, sollte alliierter Gesprächspartner beim Abschluss eines Friedensvertrages für ein neutrales, ungeteiltes Deutschland sein. Tatsächlich spiegelte die ganze Inszenierung weder eine Massenbewegung für die Einheit in den Westzonen noch auch nur eine Strömung der deutschen Bourgeoisie wider. Auch innerhalb der westdeutschen Arbeiterbewegung hatte die KPD damit nur minimalen Einfluss. Faschismus, antikommunistische Hetze des beginnenden Kalten Kriegs und die Erfahrung mit der Praxis das Stalinismus im Osten trugen dazu bei.

Lockte das Feindbild Faschismus niemanden mehr hinter dem Ofen hervor, mussten eine neue Begründung und Volksfrontbewegung her. Kurz vor Gründung der BRD, am 10.4.1949, übergaben die  Westalliierten dem Parlamentarischen Rat das Besatzungsstatut, das den Siegermächten wesentliche Kontroll- und Entscheidungsgewalt ließ und die staatliche Souveränität Westdeutschlands in punkto Ruhrfrage, Außenhandel, Außenpolitik und Abrüstung beschnitt. Am 28. April entzog das Abkommen über die Errichtung einer Ruhrbehörde der deutschen Bourgeoisie die Verfügungsgewalt über die Ruhr-Industrie. Aus diesen Vorfällen schloss die SED, dass Deutschland auf die Stufe einer Kolonie des US-Monopolkapitals zurückgefallen war.

Auch die Verkleidung als Patrioten, die Ausrufung der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, nutzte der KPD bei den Bundestagswahlen nichts. Erst nach ihrer Schlappe lieferte sie die Begründung ihrer Theorie, der zufolge sich im Verlauf des innerimperialistischen Kampfes ehemalige Unterdrückerländer in unterdrückte verwandelten. Unmittelbar nach Kriegsende hatten auch die IV. Internationale und August Thalheimer davon gesprochen, dass Deutschland zur Kolonie der Sieger geworden, in vier Kolonialgebiete zerstückelt sei. Ungleich KPD und SED leiteten diese Kräfte daraus jedoch keine Politik der Klassenkollaboration mit dem einheimischen Monopolkapital ab. Zudem verfügten damals Befürworter der Rückverwandlung Deutschlands in ein Agrarland noch über großen Einfluss (Morgenthau, Vansittart). Trotzdem ist die Koloniallandhypothese auch 1945 schon falsch gewesen!

Ein imperialistisches Land ändert seinen Charakter weder durch militärische Niederlage noch Besatzung. Während die „3. Welt“ niemals eine selbstständige industrielle Entwicklung durchlief und mit dem Weltmarkt v.a. als Rohstofflieferant verknüpft ist, ist Deutschland industriell mit dem Weltmarkt verflochten, bildet einen unerlässlichen Bestandteil einer funktionsfähigen europäischen Wirtschaft. Eine Deindustrialisierung musste also letztlich auch für die USA schwerwiegende Folgen haben. Deutschlands Produktionsanlagen mussten schon im Interesse des gesamteuropäischen Wiederaufbaus ebenso wie sein Markt für den Import von Kapital und Waren rekonstruiert werden. Doch selbst nach Einbezug in den Marshall-Plan, der Grundsatzentscheidung für die Rekonstruktion der deutschen Industrie, findet man noch Maßnahmen, die der Konkurrenzangst v.a. Großbritanniens und Frankreichs entsprangen wie  Demontagen und eingeschränkte DM-Konvertibilität. Dieses Nebeneinander von Auf- und Abbau drückt die utopische Strategie der Sieger aus, Deutschland wirtschaftlich zu stärken und in den antisowjetischen Block einzubeziehen, ohne zugleich den alten Konkurrenten wiederzubeleben.

Das Programm der Nationalen Front beinhaltete Forderungen nach wirtschaftlicher und politischer Einheit, Friedensvertrag und Abzug aller Besatzungstruppen, Verbot der Einbeziehung in NATO und Europa-Union und Aufhebung sämtlicher Einschränkungen von staatlicher Souveränität und wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit. Dies erfolgte noch zu einem Zeitpunkt, als die Erstarkung Deutschlands begonnen hatte und Adenauer einen Weg zur Wiedererlangung der Verfügungsgewalt über die eigene Industrie aufzeigte.

Vier Wochen nach der Veröffentlichung der NF-Plattform erzielte er mit dem Petersberger Abkommen vom 22. 11.49 einen ersten Erfolg. Für die Zusage des Beitritts der BRD zur internationalen Ruhrbehörde durfte sie Mitglied in internationalen Organisationen werden und Handelsabkommen abschließen. Außerdem bewegte Adenauer die britische Regierung, ihr Demontageprogramm einzuschränken. 1950 trat die BRD dem Europarat bei; im März 1951 beschloss die New Yorker Außenministerkonferenz, die Erlaubnis zur Errichtung diplomatischer Vertretungen zu erteilen; der Generalvertrag vom Mai 1952 hob praktisch das Besatzungsstatut auf wie das Inkrafttreten der Montan-Union im Juli des Jahres das Ruhrstatut. Die Gegenleistung bestand in der Wiederbewaffnung Westdeutschlands, der Beteiligung an der zunächst geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) als Teil der NATO. Genau dies konnten die SED/KPD-Stalinisten, die sonst zu jeder Schandtat bereit waren, weder tolerieren noch anbieten.

Der Kampf um Stalins Nachfolge, die deutsche Einheit und  der 17. Juni 1953

Aber die UdSSR konnte etwas anbieten, um die Westintegration der BRD zu verhindern. Am 10.3.52 forderte Stalin den Abschluss eines Friedensvertrags mit einem neutralen Deutschland, das nach Abzug aller Besatzungstruppen auch eigene Streitkräfte erhalten sollte. Freie Wahlen unter Viermächtekontrolle sollten ebenfalls stattfinden. Zwar hatte auch Grotewohl 1951 ähnliches vorgeschlagen. Aber es war ein Unterschied, ob die SED damit taktisch die EVG-Verhandlungen verzögern wollte oder die SU mit den anderen Siegermächten eine Regelung suchte und zum ersten Mal bereit war, um den Preis eines gegenseitigen Truppenrückzugs den Status Quo von Potsdam und Jalta aufzugeben. Der Westen ging auf das Angebot aber nicht ein. Er wollte erst sein Bündnis schmieden, um dann von einer Position der Stärke aus Zugeständnisse zu erzwingen. Die Westintegration der BRD hatte Vorrang vor der Wiedervereinigung.

Stalins Angebot ließ bei der SED-Bürokratie die Alarmglocken schrillen. Ihr dominanter Flügel um Ulbricht wollte mit der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 in halsbrecherischem Galopp Tatsachen schaffen, die später nicht mehr so leicht rückgängig zu machen gewesen wären. Die offiziellen Gründe Ulbrichts und der späteren DDR-Geschichtsschreibung für die Proklamation des Aufbaus das Sozialismus sind alle nicht stichhaltig. Bekanntlich war schon 1951 der staatliche Sektor zur festen Grundlage der neuen Ordnung geworden, die Staatsmacht und die „führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse“ war auch schon eher gefestigt und die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus entsprach auch nicht erst seit Juli 1952 den Bedürfnissen der werktätigen Bevölkerung. Die Unterzeichnung des Deutschland- und EVG-Vertrages markierte zudem keine qualitativ tieferen Differenzen zwischen beiden Staatsführungen, als die Gründung der BRD 1949 oder der Beitritt zur Europa-Union 1950. Außerdem existierte die EVG noch gar nicht und kam, auch wegen des Einspruchs Frankreichs, nie aus den Startblöcken!

Die 2. Parteikonferenz ist mutmaßlich ein Versuch der Gruppe um Ulbricht gewesen, der im Widerspruch zur sowjetischen Deutschlandpolitik stand. In der SED-Führung gab es eine erbitterten Streit um die Frage „Sozialismus“ in einem halben Land oder gesamtdeutsche Lösung. Für letztere machte sich die Opposition um Herrnstadt stark. Die Deklaration der Parteikonferenz fasste nur in Worte, was tatsächlich längst passierte: Die DDR war bereits kein bürgerlicher Staat mehr. Der verschärfte Angriff auf das Kleinbürgertum gefährdete die Sicherheit der Bürokratie allerdings mehr als er sie erhöhte: Binnen weniger Monate stiegen die Flüchtlingszahlen rapide, die ohnedies strapazierten Beziehungen der SED zur Kleinbourgeoisie rissen völlig, die Versorgung verschlechterte sich katastrophal mit schlimmen Auswirkungen auf das Lebensniveau der Arbeiter, für dessen Hebung das Primat der schwerindustriellen Entwicklung keinen Raum ließ.

Kurz nach Stalins Tod erneuerten Berija und Malenkow das Angebot vom März des Vorjahres. Der Abzug der US-Truppen aus Europa blieb nach wie vor das Hauptziel ihrer Diplomatie. Diesmal dachte man in imperialistischen Lager zumindest darüber nach. Churchill forderte eine neue Konferenz und die Amerikaner schwankten, ob sie die Schwäche der UdSSR-Führung nach Stalins Tod nicht durch Entgegenkommen ausnutzen sollten. Der „Neue Kurs“ der SED war also auch eine Reaktion auf die neue deutschlandpolitische Offerte. Die wirtschaftlichen Zugeständnisse ans Kleinbürgertum passten ja auch zu dieser Linie. Im Kommunique des Politbüros vom 9.6.53 wird von der Einheit Deutschlands gesprochen, die von beiden (!) Seiten entgegenkommende Maßnahmen erfordere.

Ulbricht soll zu diesem Zeitpunkt nur noch formal Generalsekretär gewesen sein. Nach einer Sitzung der SED-Führung mit dem Hohen Kommissar Semjonow sei Herrnstadt mit der Auswahl einer neuen Parteispitze beauftragt worden. (9)

Der Aufstand durchkreuzte diese Manöver. Er zwang die SU-Führung, sich vor Ulbricht und Grotewohl zu stellen. Berija wurde der Preisgabe der DDR an den Imperialismus bezichtigt und verlor seine Posten an Chruschtschow und Malenkow. Unter dem Druck der Ereignisse wurde das deutschlandpolitische Angebot zurückgezogen. Jeder Rückzug hätte für die unterdrückten Massen Osteuropas und der UdSSR wie ein Zeichen der Schwäche ausgesehen und womöglich das Startsignal für weitere Aufstände gegeben. Die Westmächte hofften genau darauf und ließen den Sowjets damit keine Chance, Zugeständnisse zu machen und trotzdem das Gesicht zu wahren. Paradoxerweise rettete die Arbeiterbewegung in der DDR so das Regime, das sie eigentlich stürzen wollte. Für lange Zeit stand auch die Existenz als bürokratisierter Arbeiterstaat nicht mehr in Frage, weil keine Pläne, die auf die Aufgabe der DDR hinausliefen, mehr entwickelt wurden.

Am 27.9.74 änderte die Volkskammer die Verfassung von 1968, der zufolge die Kommunisten die wahren Vorkämpfer für die Einheit Deutschlands seien. Die DDR ist danach nicht länger ein "sozialistischer Staat deutscher Nation", sondern "ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern". 1953 wurden noch die gesellschaftlichen Grundlagen der DDR bewahrt, obwohl die politische, antistalinistische Revolution scheiterte. Nur letztere hätte sie endgültig retten können, wie mittlerweile die Geschichte demonstriert hat.

Quellen

P.B., 'Die deutsche Frage im Lichte des Aufstandes vom 17. Juni 1953', in: 'Die Vierte Internationale', Hrg: Internationale Kommunisten Deutschlands, Nr.1, Jahrg.1, Juli 1970

Rudi Dutschke, 'Der Kommunismus, die despotische Verfremdung desselben in der UdSSR und der Weg der DDR zum Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953', in: R.Dutschke/M.Wilke (Hg.):'Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke'

Konrad Eckhoff, 'Die nationale Frage in Deutschland und die Politik der Stalinisten', in: 'Die Internationale', Hrg: Gruppe Internationale Marxisten, Nr. 5, Oktober 1974 Sibylle Plogstedt, 'Oppositionelle Strömungen in der DDR', ebda.

Anmerkungen

1) LRKI: Das Trotzkistische Manifest, S. 57

2) Konrad Eckhoff: Die nationale Frage in Deutschland und  die Politik der Stalinisten, in: Die Internationale (Herausgeber: Gruppe Internationale Marxisten -Deutsche Sektion der IV. Internationale) Nr, 5/ Oktober 1974, 5.19

3) a.a.O., S. 35

4) a.a.O., S. 36

5) vgl. Workers Power (B)/lrish Workers Group: The Degenerated Revolution, 1982, S. 38 - 47 sowie Die degenerierte Revolution, Materialien der Gruppe  Arbeitermacht (Deutschland)und Gruppe ArbeiterInnenstandpunkt (Österreich) Nr. 14, S. 8-12

6) So als einziger namhafter DDR-Historiker Stefan Döernberg, zit, n. Eckhoff, S. 37

7) Dietrich Staritz: Die Gründung der DDR, 2. Auflage September 1987, S. 170 - 172

8) Eckhoff, S.38 f; Im Widerspruch zu seinen vorherigen Ausführungen gesteht der Autor hier wenigstens ein, dass die 'Revolutionierung Osteuropas nur gezwungenermaßen unter den Druck der Truman-Doktrin und des Marshall-Plans vollzogen wurde.'

9) Heinz Brandt: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West. Mit einem Vorwort von Erich Fromm. München 1967, S. 209; zit. n. Eckhoff, S. 49

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DDR 1953: Aufstand der ArbeiterInnen gegen die stalinistische Bürokratie

Juni 2011

*  Vorwort
*  Der Aufstand der ArbeiterInnen gegen die stalinistische Bürokratie
*  Der Aufstand und die Analyse der Linken, Teil 1
*  Der Aufstand und die Analyse der Linken, Teil 2