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Tarifabschluss Öffentlicher Dienst

Zahnloser Tiger Ver.di

Helga Müller, Neue Internationale 99, April 2005

Sowohl ver.di Chef Bsirske als auch die Verhandlungsführer der öffentlichen "Arbeitgeber" zeigten sich über den Tarifabschluss vom Februar 2005 befriedigt. Bsirske sprach von einem "runden Konzept mit ganz wichtigen Weichenstellungen für die Zukunft".

Sein Verhandlungs-Pendant Otto Schily sprach ganz offen aus, um was es ihm beim Tarifabschluss ging: "In seiner Ausrichtung an der individuellen Leistung der Beschäftigten kann er nicht nur Beispiel für andere Bereiche des öffentlichen Dienstes sein, sondern braucht auch keinen Vergleich mit Tarifverträgen der Privatwirtschaft zu scheuen."

Dass der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst nach zweijähriger Verhandlung ein verheerendes Ergebnis und damit katastrophale Auswirkungen auf sämtliche Bereiche haben wird, werden nicht nur die KollegInnen öffentlichen Dienst zu spüren bekommen, sondern auch die Belegschaften in anderen Bereichen, die sich gerade in Tarifverhandlungen befinden.

Das gilt vor allem für die Beschäftigten in der Druckindustrie, in der Papierverarbeitung, in Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchverlagen, die in Tarifverhandlungen sind.

Der Abschluss

Viele Landesbezirke darunter NRW, BaWü und Bayern kritisierten den Tarifabschluss völlig zurecht. Wenn man einige der schlimmsten Bestimmungen anschaut, wird deutlich, warum die Kritik mehr als berechtigt ist:

Kernstück dieser "Tarifreform" ist eine neue Einkommenstabelle mit 15 Entgeltgruppen und sechs Entwicklungsstufen, deren Auswirkungen noch nicht klar sind, da die neuen Eingrup-pierungsregelungen bis zum 31.12.06 durch sog. Redaktionsverhandlungen erst erarbeitet werden sollen.

Für nach dem 1.10.05 neu eingestellte Beschäftigte scheint die Situation so zu sein, dass sie nach dem ersten Jahr mehr, danach - gegenüber dem bisherigen Modell - wieder weniger Lohn erhalten. Auf das Lebenseinkommen bezogen, stellt dies eine klare Verschlechterung der Einkommenssituation dar.

Zukünftig erfolgt die Bezahlung nicht mehr nach Lebensalter, Familienstand und Kinderzahl, sondern nach individueller Leistung und Berufserfahrung.

Leistungsbezogene Entgeltbestandteile sollen ab 2007 1% und langfristig 8% der gesamten Lohn-summe ausmachen.

Im Gegensatz zur Ankündigung der ver.di-Verhandlungsführer soll dieser Leistungslohn nicht "on top", also zusätzlich zum bisherigen Einkommen gezahlt werden, sondern als Lohnvariante von 96 bis 104 %. D.h. Willkür und Ungleichheit bei der Verteilung sind damit Tür und Tor geöffnet. Finanziert wird dies durch den Wegfall der Kinderzuschläge und der Reduzierung des Weihnachts- und Urlaubsgeldes.

Letztere werden ab 2007 zu einer Jahressonderzahlung zusammengefasst und im Volumen (zwischen 60 und 90% des Bruttomonatslohnes) abgesenkt - eine drastische Kürzung gegenüber dem alten Tarif.

Hiermit wird das niedrigere Einkommen für die Beschäftigten in Ostdeutschland auf 75% des West-niveaus festgeschrieben.

Es wird eine "Niedriglohngruppe" von 1.286€ im Westen bzw. 1.189,55 € im Osten neu eingeführt. Tarifkommission und Vorstand verteidigen diese Maßnahme als Schutz vor Privatisierung und Out-sourcing. Doch das Gegenteil wird der Fall sein, die Spirale nach unten wird sich noch schneller drehen!

Was sollte private oder öffentliche "Arbeitgeber" davon abhalten, weiter auszulagern, wenn es woanders niedrigere Löhne gibt? So sind weitere Angriffe vorprogrammiert!

Arbeitszeitregelung

Am heftigsten umstritten war die Arbeitszeit. Der Beschluss der Bundestarifkommission vom 27. Januar, der jede Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich ablehnte, wurde von dieser Neuregelung glatt unterlaufen.

Die Arbeitszeit wurde für die Bundesbeschäftigten einheitlich für Ost und West auf 39 Stunden festgelegt. Für den Westen bedeutet dies eine Verlängerung um eine halbe Stunde ohne Lohnausgleich! Für den Osten allerdings eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit um 1 Stunde bei vollem Lohnausgleich.

Insgesamt bedeutet das ein Einsparpotential für den Bund  von etwa 0,7 % der Gesamtkosten, wie Innenminister Schily frohlockt. Für die Angestellten und ArbeiterInnen in den Kommunen wurde eine Öffnungsklausel vereinbart. Hier kann die Arbeitszeit auf Landesebene auf bis zu 40 Stunden erhöht werden!

Die Arbeitszeiten werden für alle flexibilisiert. Es kann ein Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Stunden in der Woche und eine tägliche Arbeitszeit von bis zu 12 Stunden vereinbart werden. Dabei fallen die Überstundenzuschläge, die bisher für ArbeiterInnen ab der ersten Überstunde gegolten hatten, weg.

Klar ist, dass all diese Maßnahmen dazu dienen, Einspareffekte für die Kommunen und für den Bund zu erzielen und gleichzeitig kein neues Personal einzusetzen.

Im Gegenteil: auch im öffentlichen Dienst kann es durch die Arbeitszeitverlängerung und -flexibilisierung zu betriebsbedingten Kündigungen kommen. Einmütig stellten Schily und Bsirske in Bezug auf den noch geltenden besonderen Kündigungsschutz für langjährig Beschäftigte fest, dass es auch unter dem geltenden Recht Möglichkeiten gibt, Arbeitsverhältnisse aus betrieblichen Gründen zu beenden.

Einsparungen

Zum anderen dient diese Neuregelung dazu, die Einheit der Beschäftigten und damit deren Kampfkraft zu schwächen, indem zumindest für neu Angestellte andere Arbeitsbedingungen gelten als für langjährig Beschäftigte. Außerdem werden gerade die kampfstarken ArbeiterInnenbereiche durch die Abschaffung der Überstundenzuschläge im Rahmen der Arbeitszeitflexibilisierung besonders hart getroffen. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Gewerkschaftsspitzen mit ihren Abschlüssen die Mobilisierbarkeit der Basis permanent untergraben.

Der Gipfel der Verblödung der Kolleginnen und Kollegen ist aber die Einführung der "Meistbegünstigungsklausel", die ihre Wirkung in den noch laufenden Tarifverhandlungen mit den Ländern, die schon seit längerem aus der sogenannten Prozessvereinbarung ausgestiegen sind, zeigen wird.

Was besagt diese Vereinbarung? Wenn ver.di für ein oder mehrere Bundesländer in den Bereichen Arbeitszeit und Sonderzahlung einen Tarifvertrag, der abweichende Inhalte oder beim Entgelt einen für die "Arbeitgeber" günstigeren Tarifvertrag abschließt, gilt dieser Abschluss zugleich als unwiderrufliches Angebot an den Bund und die Kommunen, diese Regelung zu übernehmen! D.h., dass ein Abschluss bei den Ländern direkt Auswirkungen auf die Beschäftigten in Bund und Kommunen haben, ohne dass diese irgendeine Einflussmöglichkeit darauf hätten.

Dieser Abschluss ist ein Schlag ins Gesicht aller Beschäftigten, ein Schlag ins Gesicht für alle aktiven GewerkschafterInnen, die noch von einem grundsätzlichen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital ausgehen. Die ver.di-Verhandlungsführung hat sich vollkommen - ohne sich auch nur den Anschein von Gegenwehr zu geben - der Wettbewerbslogik der Gegenseite und dem Ausverkauf des öffentlichen Dienstes inkl. seiner besonderen Schutzrechte für die Beschäftigen untergeordnet!

Darüber hinaus - nur so konnte dieser Abschluss überhaupt durchgezogen werden - wurde die Gewerkschaftsdemokratie vollkommen ausgehebelt. Beschlüsse von ver.di-Gremien wurden missachtet, die Mitglieder und Beschäftigten wurden nicht ausreichend informiert, Geheimverhandlungen fanden statt, selbst die Tarifkommission wurde nicht sofort und ausführlich über die Verhandlungsergebnisse informiert.

Fazit

Das alles zeigt, wie notwendig es ist, eine politische Neuausrichtung der Gewerkschaft vorzunehmen. Das wiederum wird nur möglich sein, wenn die alte Führung durch eine klassenkämpferisch orientierte alternative Führung herausgefordert und schließlich ersetzt wird.

Ein erster Schritt dazu wäre, dass sich jene GewerkschafterInnen, die eine kampfstarke Gewerkschaft wollen, zusammenschließen, eigene Forderungen aufstellen, eigene Kampagnen durchführen und - wo möglich - selbständige Aktionen aus den Betrieben heraus organisieren.

Dafür ist es notwendig, wieder gewerkschaftliche Strukturen in den Betrieben aufzubauen oder wieder zu beleben. Auch die Frage demokratischer Strukturen - Zusammensetzung der Tarifkommissionen, Rechenschaftspflicht gegenüber den Mitgliedern in den betroffenen Betrieben u.ä. - muss neu aufgeworfen werden.

Doch eine Wiederbelebung gewerkschaftlicher Strukturen allein reicht nicht! Damit verbunden muss eine handlungsfähige Struktur aufgebaut werden, die zunächst die kritischsten und aktivsten KollegInnen umfasst: eine klassenkämpferische Gewerkschaftsopposition. Nur ein solche Struktur ist in der Lage, unabhängig, ja gegen den Ausverkauf von Bsirske und Co. eine kämpferische Orientierung zu vertreten und in der Praxis umzusetzen.

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Nr. 99, April 2005

*  Arbeitslosigkeit: Schwarze Bilanz von Rot/Grün
*  Erster Mai: Klassenkämpferische Opposition sichtbar machen!
*  Tarifabschluss Öffentlicher Dienst: Zahnloser Tiger Ver.di
*  Heile Welt
*  Wahlalternative: Aktiv - gegen Linke
*  NRW-Wahlen: Schröder am Ende?
*  China: Boom und Billigjobs
*  100 Jahre Relativitätstheorie: Relativ revolutionär
*  Libanon: Nein zur imperialistischen Intervention!
*  Arbeitskämpfe in Frankreich: Eine neue Einheit