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Linksradikale in der Antikrisenbewegung

Keine Forderung ist keine Lösung

Theo Tiger, Neue Internationale 148, April 2010

Autonome, anarchistische und auch antideutsche Gruppierungen in der antikapitalistischen Bewegung bezeichnen sich selbst gern als „linksradikal“. Wie radikal sie wirklich sind, wollen wir in diesem Artikel beleuchten.

Obwohl zwischen diesen Gruppierungen inhaltliche Unterschiede bestehen, gibt es auch gemeinsame Positionen und Taktiken, z.B. Forderungen wie „Kapitalismus abschaffen!“ oder „Staat, Nation, Kapital sind Scheiße“.

Solche Slogans verbinden viele dieser Gruppen zu gemeinsamen Demos, Blöcken und Bündnissen. Dabei wird sehr verschwenderisch mit dem Begriff Kommunismus hantiert. Es gibt jedoch kaum eine Forderung unterhalb der Revolution - Hauptsache, der Kapitalismus hört auf und wir kriegen eine schöne neue Welt.

Mit dieser Verbalradikalität sind speziell die autonomen Gruppen attraktiv für Jugendliche - das aktuelle System soll beendet werden, dies klingt radikal und militant, allerdings wird bewusst offen gelassen, wie dieses System „abgeschafft“ werden könnte.

Bei ihren Strategien Richtung Revolution finden wir einen klassischen anarchistischen Mix aus direkter Aktion und intellektueller Bewusstseinsfindung für Wenige. In Bündnissen wird die Aufstellung von konkreten Forderungen (wie z.B. im Kampf gegen die Krise) abgelehnt, stattdessen wird etwas Abstraktes, Ungefähres und Positives gefordert, z.B. „für eine Gesellschaft, deren Reichtum allen gehört“ oder „Gegen die Verwertungslogik“.

Dass dies klar im Widerspruch zu der selbst erdachten Radikalität und Militanz steht, fällt eigentlich nur Außenstehenden auf. Innerhalb des Milieus gibt es dafür einige „Theorien“, warum bei gesellschaftlichen Kämpfen auf Forderungen verzichtet werden sollte.

Die Gruppe „Theorie Organisation Praxis“ (TOP) z.B. stellt ihre Position folgendermaßen dar:

„Wegen ihres beschränkten Horizonts sind soziale Kämpfe in bürgerlicher Form die Ideologie ihrer Verhinderung. Die Durchsetzung und das Erkämpfen sozialer Rechte kann natürlich die Kapitalakkumulation zum stottern bringen. Aber sie sind kein Ansatzpunkt für eine gesellschaftliche Emanzipation, da dieser Ansatz sich notwendigerweise um die Machtfrage drückt. Er ruft den Souverän an, der die Warenförmigkeit des gesellschaftlichen Reichtums garantiert. Auch ein - natürlich begrüßenswerter - größerer Teil dieses Kuchens ändert nichts daran, dass die Menschen unter der Kontrolle der gesellschaftlichen Bewegung von Sachen bleiben“.

„Bürgerliche Form“ heißt dabei Forderungen, die sich an den bestehenden, bürgerlichen Staat oder an die herrschende Klasse richten. Diese seien per se nicht progressiv. Deshalb lehnen sie z.B. die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche mit vollem Lohn- und Personalausgleich ab. Vielmehr wird festgestellt dass, das „Erkämpfen sozialer Rechte kein Ansatzpunkt für eine gesellschaftliche Emanzipation sein kann“.

Damit werden knapp 200 Jahre gewerkschaftliche und politische Kämpfe der Arbeiterklasse denunziert. Ohne diese Kämpfe hätte es wohl nie eine organisierte Arbeiterbewegung gegeben. Von Beginn an führte diese einen Kampf um soziale und politische Recht - sei es gegen Kinderarbeit, für den 8-Stunden-Tag oder die Lohnfortzahlung bei Krankheit, den allgemeinen Zugang zu Universitäten, das Wahlrecht oder den Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen, um nur einige zu nennen.

All das waren Kämpfe, welche die Selbstorganisierung der Klasse erforderten und diese gegen Kapital und Staat in Stellung brachten. Darauf verzichten heißt im Endeffekt, auf jede Forderung, jeden Kampf innerhalb der kapitalistischen Ordnung zu verzichten; es heißt frei gewählte Kapitulation, denn hiermit wird der ArbeiterInnenbewegung abgesprochen, sich gegen Angriffe, Missstände, Unterdrückung, Ausbeutung konkret zu wehren.

Mehr noch: Es wird gar nicht der Versuch gemacht, noch unorganisierte oder noch abwartende Teile der Klasse zu gewinnen. Das wäre natürlich nur möglich, wenn - eben auch mit konkreten Forderungen - an deren reale Lebensprobleme angeknüpft würde. Könnte man das mit der „Wertproblematik“ oder mit richtigen, aber abstrakten Anti-Kapitalismus-Losungen, wäre das sehr schön.

Nur: es würde eine Arbeiterklasse voraussetzen, deren Bewusstsein schon antikapitalistisch und vollständig revolutionär ist. Eine solche Arbeiterklasse gibt es nicht!

Schon Marx bewies, dass die Realität der bürgerlichen Klassengesellschaft auch ein bürgerliches (Massen)bewusstsein erzeugt. Daher ist es notwendig, kommunistisches, revolutionäres Bewusstsein von Außen in die Klasse zu tragen. Konkret heißt das, in den täglichen Kämpfen am Bewusstsein der Klasse (und v.a. deren Vorhut) anzuknüpfen und mit der Erkenntnis zu verbinden, dass der Kapitalismus gestürzt werden muss.

Diese „Erkenntnis“ ist jedoch alles andere als abstrakt, sie besteht letztlich in nichts anderem als konkreten Vorschlägen, wie die Klasse kämpfen soll, wie sie sich organisieren soll, welche Ideologien, Führungen usw. ihr dabei im Wege stehen.

Die scheinradikalen Parolen der „Linken“ in der Bewegung richten sich - wenn überhaupt - an eine abstrakte Klasse, die es so nicht gibt. Sie glauben, die realen Mühen, Hindernisse und Konflikte des Klassenkampfes quasi durch einen archimedischen Hebel überwinden zu können. Doch der Klassenkampf funktioniert nicht wie die Mechanik.

Die „radikalen“ Linken reden von einem „beschränkten Horizont“ des Bewusstseins der Massen wie von einem Ärgernis, mit dem man nicht gern zu tun hat. Doch der „beschränkte Horizont“ ist nur die ideelle Spiegelung der Realität. Das nicht zu verstehen und nichts davon zu verstehen, wie dieses Dilemma überwunden werden kann, außer dass man es überwinden will - das ist der „beschränkte Horizont“ dieser Linken.

Sicherlich bietet die Aussage „Kapitalismus abschaffen“ einen sehr breiten Horizont an, doch werden wesentliche politische Fragen (wie, warum, welche Alternative usw.) damit nicht beantwortet.

Interessant scheint auch, dass trotz der Ablehnung dieser Kämpfe ein größerer Teil des „Kuchens begrüßenswert ist“ - gemäß der eigenen Argumentation hätte die Klasse doch eigentlich auf solche Brosamen verzichten müssen. Bei diesem „Kampf um den Kuchen“ geht es für MarxistInnen nicht nur um die Größe des Stückes, v.a. geht es darum, dass die Klasse lernt, dass und wie der Kuchen verteilt wird, warum die Mehrheit immer die Krümel bekommt und die Minderheit immer die besten Stücke. Es geht darum, dass die Klasse lernt wie es in der ganzen Bäckerei zugeht und wie man den ganzen Laden selbst organisieren kann.

Davon, dass das Verständnis fürs Backen manchmal mit der Kenntnis eines Rezepts beginnt, haben die „Radikalen“ wenig Verständnis. Kein Problem haben sie allerdings damit, dass „ein größeres Stück vom Kuchen“ als an sich nur reformistische Losung gefordert wird. Hier zeigt sich ganz klar, dass das ganze Revoluzzertum immer schön Hand in Hand geht mit ganz simplem Reformertum.

Wohlgemerkt: nicht die Forderung nach mehr Kuchen ist falsch, falsch ist, diese Forderung nicht im Zusammenhang zu sehen mit dem ganzen Geschehen in der Bäckerei und der Frage, wie man mehr Kuchen bekommt und die Bäckerei obendrein.

Jeder Kampf - und drehe er sich um noch so kleine Fragen - ist (objektiv) auch immer ein Kampf um politische Rechte, Organisationsformen usw.

Bei der Argumentation dieser Linken gegen aktuelle Forderungen, wie die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich wird gern angemerkt, dass dies im Kapitalismus unrealistisch sei und daher keine Perspektive öffnen würde. Dabei offenbaren diese Gruppen auch ein merkwürdiges Verständnis vom politischen Kampf. Die Forderungen sollen ja nicht etwa darauf ausgerichtet sein, den bürgerlichen Staat zu „überzeugen“; sie sollen die Klasse und ihre Organe mobilisieren und befähigen, diesen Kampf gegen die Interessen von Staat und Kapital zu gewinnen.

Die Perspektive von RevolutionärInnen in sozialen Kämpfen ist es ja gerade, die „Machtfrage“ einzubringen, mit den konkreten Kämpfen zu verbinden und eine weiterreichende Perspektive zu eröffnen. Nach Meinung von TOP und Co. reicht es wohl, bei möglichst allgemein und plakativ klingenden Aussagen zu bleiben - als ob der Kampf „ums Ganze“ irgendeine konkrete Perspektive oder Möglichkeit bieten würde!

Die Frage nach dem „Wie“ wird hier ausgeklammert. Anstelle dessen wird eine verschwommene Zielperspektive gemalt - ganz ähnlich den rein reformistischen und unverbindlichen Forderungen aus dem Gewerkschaftsbereich wie „Her mit dem schönen Leben“ - nur hier übertüncht mit „Radikalität“ und „Militanz“.

Ein System von Übergangsforderungen

Dem stellen revolutionäre MarxistInnen ein Programm von Übergangsforderungen entgegen, ein Programm, welches die aktuellen sozialen Kämpfe mit der Perspektive der Arbeitermacht und der Revolution verbindet. Nur dies kann die Klasse von den reformistischen Führungen brechen, nur dies kann revolutionäre und klassenkämpferische Basisorgane bewirken - die Grundlage jeglicher „Machtfrage“.

Die Machtfrage können wir in kleinen linken Zirkeln diskutieren; doch entschieden wird diese Frage von der Klasse und deren Kämpfen. Diese Frage müssen wir in die Klasse hinein tragen und dort verankern.

Dabei gibt es noch ganz spezifische Probleme einiger „radikaler“ Gruppen, die sich als anti-deutsch/national bezeichnen. Sie gehen davon aus, das so etwas wie die Arbeiterklasse in Deutschland nicht existiert und das Proletariat hier stets im faschistischen Konstrukt der „Volksgemeinschaft“ auftritt.

Diese Gruppen treten dann in Bündnissen hauptsächlich auf, um andere Gruppen zu denunzieren, jede personalisierte Kritik und jeder Bezug zu Massenaktionen kann mit „Antisemitismus“ verleumdet werden. Bei einer solchen politischen „Taktik und Theorie“ ist es in der Tat verwunderlich, wie der selbst formulierte revolutionäre Anspruch zum Tragen kommen soll. Kein Bezug zur Klasse, keine Forderungen für die Klasse - nur abstrakte klein- und bildungsbürgerliche „Radikalitäten“ werden abgesondert.

Damit unterwerfen sich diese Gruppen im Endeffekt der reformistischen Führung in der Klasse; indem sie keinen Kampf um die Klasse führen, überlassen sie der Bürokratie die Kontrolle. Indem sie keine Teil -und Übergangsforderungen in der Klasse vertreten, kämpfen sie nicht für ein revolutionäres Bewusstsein oder gar eine revolutionäre Praxis der Klasse. Indem sie den Kampf in der bürgerlichen Gesellschaft verneinen, akzeptieren sie praktisch die bürgerliche Herrschaft - allerdings „kritisch“.

Dementsprechend sind den „Radikalen“ auch die Konzepte der Einheitsfront fremd. Diese Taktik der revolutionären Arbeiterbewegung - mit der viele dieser „radikalen“ Linken meinen, sich damit nicht beschäftigen zu müssen - besagt Zweierlei. Erstens fordert sie das Bündnis aller Arbeiterorganisationen und Linken im Kampf für konkrete Ziele. Zweitens verbinden sie damit aber die Freiheit der politischen Propaganda und Kritik.

D.h. die Einheitsfronttaktik ist eine Taktik, um die Kräfte auf der eigenen Seite der Barrikade zu stärken. Sie ist aber auch ein Mittel, um den Verrat, die Halbherzigkeit und Untauglichkeit des Reformismus im Kampf zu offenbaren. Die Einheitsfronttaktik ist insofern auch ein Mittel, die Kräfte der Revolution zu stärken.

Als Revolutionäre MarxistInnen gehen wir in solche Bündnisse, um die Klasse zu mobilisieren, aber natürlich auch, um offen Kritik an Bündnispartnern und deren Politik und Programmatik zu üben. Deswegen schließen wir uns nicht reformistischen Illusionen oder radikalen Phrasen an, sondern kämpfen auch im Bündnis für ein revolutionäres Programm und für eine revolutionäre Praxis.

Das heißt im Gegensatz zu den Linksradikalen, dass wir einem Bündnis nicht möglichst viele Forderungen unseres Programms als Grundlage reindrücken wollen oder möglichst viel „radikale“ Kritik unterbringen wollen. Wir wollen vielmehr, dass das Bündnis sich darauf konzentriert gemeinsame Aktionen für gemeinsame Ziele und Forderungen zu machen.

Alles anders sollen die verschiedenen Gruppierungen in ihren Zeitungen, in ihren Reden, in Polemiken oder was auch immer zum Ausdruck bringen.

Diese gemeinsam Konzentration auf die Aktion gegen einen Gegner (Unternehmer, Regierung, Nazis, ...) bei gleichzeitiger Freiheit der Propaganda und Kritik auch an den Bündnispartnern ist für uns die Grundlage für die Einheitsfrontmethode und maßgeblich für unsere Arbeit in Bündnissen, aber auch um in der Klasse die verschiedenen politischen Ansätze klar aufzuzeigen, um schließlich Reformismus und Scheinradikalismus zu entlarven. Wenn die „Radikalen“ diese Politik ablehnen, sind sie bestenfalls das linke Feigenblatt der reformistischen Bürokratie, im worst case isolieren sie sich von allen gesellschaftlichen Kämpfen.

Diese Gruppierungen machen keine „neuen“ Fehler, seit 150 Jahren fehlt ihnen ein Konzept zum revolutionären Kampf - dies ist die Geschichte des Anarchismus und der verschiedenen post-operaistischen Strömungen, eine Geschichte ohne Programm und Partei zum Kampf gegen Staat und Kapital.

Lenin schrieb dazu 1901 in den Thesen zu Anarchismus und Sozialismus :

„Es fehlt (a) das Begreifen der Ursachen der Ausbeutung; (b) das Begreifen der gesellschaftlichen Entwicklung, die zum Sozialismus führt; (c) das Begreifen des Klassenkampfes als schöpferische Kraft zur Verwirklichung des Sozialismus“.

Hinter der vorgeblichen Radikalität und Militanz steht kein Programm des Klassenkampfes, hier wird der Klassenkampf negiert - hier gibt es kein Programm für die Revolution und kein Verständnis für den Kampf um den Sozialismus. Stattdessen wird das Endziel Kommunismus schemenhaft propagiert, die dazu notwendige Diktatur des Proletariats war diesen „Radikalen“ schon immer fremd, ebenso die Frage der Partei des Proletariats. Diese Radikalität ist nur Schein.

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Nr. 148, April 2010
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