Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Kirchenskandal

Vergewaltigung mit Heiligenschein

Gerald Waidhofer, Neue Internationale 148, April 2010

Nachdem eine beispiellose Wirtschaftskrise das Gefüge der Welt erschüttert, gesellt sich jetzt auch noch eine moralische Krise hinzu. Je länger das Thema des sexuellen Missbrauchs in kirchlichen Einrichtungen in die Öffentlichkeit gebracht wird, desto mehr ergibt sich der Eindruck, dass es sich hier nur um die Spitze eines Eisbergs handelt.

Immerhin hat diese Spitze bereits eine Spannbreite vom einfachen Kirchendiener bis zum Papst; aus zunächst wenigen Fällen ergab sich eine international ständig wachsende Anzahl. Wenn Marx die Religiosität als einen „Seufzer der bedrängten Kreatur“ beschrieb, dann erhält diese Beschreibung angesichts der kirchlichen Missbrauchspraxis noch eine ganz besondere konkrete Bedeutung.

Auffällig ist, dass diese spezielle Form der „Nächstenliebe“ eine deutliche Konzentration in katholischen Einrichtungen aufweist, die nicht mehr nur Zufall sein kann. Zunächst mag dies eher verwundern, weil die katholische Kirche als besonders strenge moralische Instanz auftritt und einer eigenen sexuellen Praxis besonders entrückt erscheint.

Der teilweise grotsk wirkende ethische Anspruch beruht aber letztlich nur auf einer besonderen Hartnäckigkeit des im Katholizismus ausgedrückten religiösen Bewusstseins gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung. Wie ist es nun zu verstehen, dass ausgerechnet in kirchlichen Einrichtungen sich so häufig unmoralische Verhältnisse finden?

Der Streit um das Zölibat

Ein erster Erklärungsversuch rückt das Zölibat in den Vordergrund und sieht in der damit verbundenen Einschränkung den Grund für die Umwege klerikalen Sexuallebens. Dabei wird angenommen, dass die Sexualpraktiken Erwachsener unter dem Druck einschränkender Bedingungen relativ beliebige andere Umsetzungsformen finden. Eine solche Flexibilität der Sexualität ist aber in Wirklichkeit kaum anzutreffen.

Was hat es mit dem Zölibat auf sich und weshalb haben die Rufe nach einer Aufhebung dieser Einschränkung kein Echo? Es wird dazu die Bibel zuhilfe genommen und daran erinnert, dass es für einen Menschen gut sei, keine Frau zu berühren (1. Korinther 7:1). Immerhin sei es verständlich, dass sich Ungebundene nicht um irdische Belange kümmern müssen. Und allgemein diene es der Absicht, religiöse Rituale des Geistes aufzuwerten durch ihre Trennung von den niedrigen Begierden des Fleisches.

Tatsächlich ergab sich das Zölibat aber weniger aus der Sorge um den religiösen Geist als der um die weltliche Grundlage der Kirche. Sobald sich die christliche Kirche nämlich als materielle Institution ausbildete, begann sie neben ihrem Vertrauen auf göttliche Fügung rasch mit der Absicherung und Erweiterung ihrer weltlichen Macht.

Der frühchristliche Klerus kannte noch kein Zölibat als Voraussetzung für ein Priesteramt und selbst eine formale Bindung oder monogame Beziehung war keine Bedingung dafür. Und noch im Mittelalter waren Nonnenklöster häufig Bordelle. Um jedoch die Kirche als materielle Macht zu erweitern, war es bedeutsam, dass ehelose Kirchenbedienstete billiger als jene mit Familie sind. Und v.a. ging es darum, dass die Kinder der Priester keine Kirchengüter erben dürfen.

Das erste Zölibatsdekret wurde im 4. Jahrhundert in der Synode von Elvira erlassen. Die Durchsetzung erfolgte aber nur schrittweise über mehr als ein Jahrtausend hinweg und keineswegs reibungslos und ohne Zwangsmittel. Die Initiativen dazu reichten vom bloßen Verbot des Geschlechtsverkehrs mit den Ehefrauen bis hin zum Verbot jedweden Kontaktes zu Frauen. Die Frauen der Priester wurden nicht nur enterbt, sondern auch häufig vertrieben, verkauft oder versklavt.

Die neunte Synode von Toledo im 7. Jahrhundert verhinderte nicht nur, dass die Kinder der Priester von der Kirche erben könnten, sondern regelte es so, dass die Kinder den Kirchen als Sklaven gehörten, in denen ihre Väter dienten. Diese Kinder durften auch nicht mit ihren Vätern leben und von ihnen erzogen werden. Die Synode von Pavia im 11. Jahrhundert sorgte zusätzlich für die Versklavung der Kinder von Konkubinen der Priester. Kaiser Heinrich II. verschärfte dies im deutschsprachigen Raum, indem er die Richter, welche die Priesterkinder für frei erklärten, mit Enteignung und Verbannung bedrohte. Die Synode von Tyrnau befahl noch im 17. Jahrhundert, die Priesterkinder zu verunehren und lebenslänglich in Haft zu behalten.

So gesehen ist im Zölibat weniger die Gefahr einer grenzenlosen Kinderliebe angelegt, als die Gefahr der materiellen Ansprüche von Kindern gebannt. Es drückt eher eine Angst aus, eine erreichte Macht an Kinder zu verlieren, während die Missbrauchsfälle eher eine Lust zeigen, Macht gegenüber Kindern auszuüben.

Die Kirche und der Sex

Ein weiterer Erklärungsversuch bezieht sich allgemein auf die Auswirkung religiöser Ideologie, welche letztlich die menschliche Sexualität zu perversen Ausdrucksmöglichkeiten geleite. Immerhin passt die katholische Kirche mit ihrem feudalen Gepräge immer weniger in die heutigen bürgerlichen Verhältnisse und die religiösen Ideale stehen in zunehmend weniger vermittelbaren Gegensatz zum Zeitgeist. Aber auch hieraus ergeben sich nur vage zu ahnende Zusammenhänge zwischen Lebensverhältnissen, Vorstellungen und Sexualpraktiken.

Die religiösen Vorstellungen sind auch nicht von sich aus so überzeugend oder mächtig, dass sie durch ihre geistige Kraft neue Wege für die menschlichen Bedürfnisse erfinden könnten. Immerhin verdeutlicht eine genauere Betrachtung, wie die längst überholten Moralvorstellungen ihren Weg bis in unsere Gegenwart fanden: mit einer ausgedehnten materiellen Grundlage, einer straffen inneren Struktur, einer staatlichen Unterstützung und einer Doppelmoral, die im feudalen Gepräge der katholischen Kirche ansehnlich gedeihen kann.

Die Reichtümer der katholischen Kirche lassen immer noch selbst Großkonzerne blass aussehen und die damit verbundene ökonomische Macht ist schon als solche ein wesentlicher Faktor. Das obrigkeitsorientierte interne Regime der Kirche lässt diese gewissermaßen wie ein Staat im Staat funktionieren.

Die staatliche Hilfe reicht von der Erhebung der Kirchensteuer bis zur Ausgestaltung öffentlicher Aufgabenbereiche mit kirchlichen Institutionen. Die Doppelmoral schließlich bedeutet eine anspruchsvolle offizielle Ethik für andere in Kombination mit einem weniger anspruchsvollen Gewissen für sich. Als ob der Gott der KatholikInnen das nicht sehen könnte, was die anderen nicht sehen dürfen.

Mit solcher ökonomischer Grundlage, solchem politischen Rückhalt, solcher inneren Struktur und solchen ideologischen Ausdrucksformen ergibt sich zwangsläufig eine Anziehungskraft für Menschen, die dadurch ganz besondere Möglichkeiten vorfinden, ihr Leben zu gestalten. Ein besseres Verständnis ergibt sich damit mithilfe eines Erklärungsansatzes vom Resultat des Missbrauchs aus.

Es gibt zwar sicherlich wesentliche Einflussnahmen auf die Ausgestaltung des Sexuallebens durch religiöse Vorgaben, aber für die konkreten Missbrauchsfälle ist es naheliegender, davon auszugehen, dass die kirchlichen Bedingungen anziehend für Menschen mit sexuellen Vorlieben wirkten, die unter anderen Umständen weniger leicht ausgelebt werden könnten. Es ist also weniger die Wirkung einer sexuellen Einschränkung, welche zu Missbrauch führt, sondern vielmehr wirkt die Einschränkung anziehend auf Menschen, die speziell unter solchen Bedingungen für ihre sexuellen Bedürfnisse ideale Verhältnisse vorfinden.

Wer im Kirchendienst mit Kindern arbeitete, galt als besonders vertrauenswürdig und die kirchliche Geheimhaltungspflicht sicherte die Möglichkeit zu, skandalöse Vorgänge intern zu regeln. So erhielten die Täter oft erst den Schutz der Kirche und jetzt wegen der sogenannten Verjährung auch noch einen rechtlichen Schutz durch den Staat, während die Opfer infolge der nachhaltigen Folgewirkung gewissermaßen eine lebenslängliche Strafe verbüßen.

Sexueller Missbrauch und Perversionen verschiedenster Art in kirchlichen Einrichtungen sind keine bloße Erscheinung der letzten Jahrzehnte, sondern begleiten die Kirchengeschichte von Beginn an. Jugendliche dienten schon lange als Prostituierte im Kirchendienst und gelegentlich wurde einem Lustknaben dafür eine kirchliche Karriere bereitet. Je niedriger der kirchliche Rang war, desto höher fiel gegebenenfalls die Strafe dafür aus.

Konfession und Perversion

Menschliche Sexualität war immer schon mehr, als es für die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse erwünscht war. Prinzipiell sind „perverse“ Neigungen bei allen Menschen zu finden. Was im Sexualleben als abnorm gilt, war in der Geschichte ausgesprochen unterschiedlich und was heute als normal gilt, ist im historischen Zusammenhang gesehen ausgesprochen relativ.

Perverse fühlen sich in der Regel keineswegs krank und sind aufgrund des erreichbaren Lustgewinns auch einverstanden mit ihren speziellen sexuellen Wünschen. Perversionen sind Entwicklungsanomalien, in denen anstelle einer ausgereiften Sexualität eine frühere Form dominiert. Infolge verschiedener Enttäuschungen oder Ängste treten frühere Fixierungen wieder in den Vordergrund.

Bei einer Pädophilie geht es beispielsweise darum, die Ängste vor einer reiferen Form des Sexuallebens zu umgehen oder mittels einer Identifizierung mit einem jungen Menschen diesem in einer neuerlichen Inszenierung der eigenen kindliche Dramaturgie jene Wünsche zu unterstellen, welche sich in eigenen jungen Jahren herausbildeten. In der Regel wird bei einem Missbrauch von Kindern das vorgegeben Machtverhältnis ihnen gegenüber als grundlegende Voraussetzung der sexuellen Betätigung benutzt.

Nur unter den Bedingungen möglicher Ausbeutung und Unterdrückung eines hilflosen und beherrschbaren anderen können dann diese sexuellen Bedürfnisse ausgelebt werden. Innere Konflikte zu solchen Bedürfniskonstellationen münden in einer Neurose, die Billigung des Auslebens stellt eine Perversion dar. Und wer hierbei keine inneren Konflikte auszuhalten imstande ist, mag beispielsweise durch die äußerliche Unterstützung der Moral durch die Kirche eine attraktive Kompensation gefunden haben.

So ergibt sich, dass religiöse Ideale und kirchliche Institutionen zwar förderlich sein können für die Entstehung und Auslebung perverser Neigungen, aber insgesamt ist es eher so, dass die Möglichkeiten des Kirchendienstes anziehend wirken für Menschen mit speziellen Perversionen. Um künftig Kinder vor Missbrauch in kirchlichem Rahmen zu schützen, müsste die Kirche letztlich bereit sein, ihre organisatorischen und ideologischen Grundlagen in Frage zu stellen und auf ihre privilegierte Sonderstellung zu verzichten. Das wird aber durch noch so viele Missbrauchsfälle von ihr nicht zu erwarten sein.

Wenn sich jetzt der eine oder andere katholische Würdenträger für andere öffentlich entschuldigt, wäre das angesichts des zu verantwortenden Schadens eine wohl etwas zu billige Entschädigung. Zusätzlich wäre zumindest eine vollständige Übernahme aller Kosten angemessen, die in der Folge durch medizinische, psychologische und sozialen Versorgungen erforderlich wurden.

Trennung von Kirche und Staat!

Das enorme Ausmaß von Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen wirft auch eine Frage auf, welche Politik und Medien wie der Teufel das Weihwasser scheuen: die Trennung von Kirche und Staat. Als eigentlich bürgerlich-demokratische Forderung wird diese Trennung heute nicht eingefordert. Kein Wunder: Passt doch die Kirche mit ihren Moralvorstellungen und ihrer Autoritätsgläubigkeit sehr gut zu den sonstigen Unterdrückungs- und Herrschaftsinstrumenten der bürgerlichen Gesellschaft.

MarxistInnen haben dagegen schon immer gefordert, dass Religion Privatsache sein muss. D.h. die Kirche muss aus allen Bereichen, die über den Rahmen der Kirche hinausgehen, verschwinden: aus Schulen u.a. Erziehungseinrichtungen, aus der Kranken- und Altenpflege usw. Religiöse Menschen sollen diese Arbeiten weiter ausführen dürfen, aber die Kirche als Institution darf damit nichts zu tun haben. Auch jeder Religionsunterricht muss aus Schulen verbannt werden!

Die permanente jahrzehntelange Vertuschung von Missbrauchsfällen wirft auch ein grelles Licht auf  den „Rechtsstaat“. Während streikende ArbeiterInnen juristisch drangsaliert werden, während Beschäftigte wegen des „Diebstahls“ eines Firmen-Bleistifts gekündigt werden, können Vergewaltiger im Ordenskittel auf „Gnade“ hoffen.

Gegen diese unangebrachte „Milde“ der bürgerlichen Klassenjustiz - eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus - fordern wir Untersuchungsorgane aus Betroffenen und VertreterInnen von Gewerkschaften (z.B. der GEW), welche die Vorgänge untersuchen. Wie wäre es z.B. mit einer Untersuchungshaft für den Papst wegen Strafvereitelung im Amt?!

Doch der Skandal um die Missbrauchsfälle ist in Wirklichkeit kein Skandal. Die sexuellen Übergriffe und Gewalttaten von kirchlichen Amtsträgern sind schon seit Ewigkeiten so bekannt, dass es die Spatzen von den Dächern pfeifen. Auch dass die Kirche - und zwar alle Kirchen - ein gigantisches Treibhaus ist, wo Unsinn, Perversion, Machtmissbrauch und geistige Verkrüppelung gedeihen, ist nicht neu.

Der Skandal besteht darin, dass Medien, Politik und Justiz sich „erschrocken“ über etwas zeigen, was längst bekannt ist. Der Skandal besteht darin, dass sie außer nichtssagenden Floskeln und moralischen Gesten der „Empörung“ nichts, aber auch gar nichts unternehmen, um dem absonderlichen Treiben der Stellvertreter Gottes auf Erden Einhalt zu gebieten. Dieses Verhalten des Staates ist umso skandalöser, wenn wir es mit den Reaktionen auf andere „Bedrohungen“ vergleichen: da ist man schnell mit Begriffen wie „betriebsratsverseucht“ dabei, da wird jede zu große Zahnpastatube am Flughafen konfisziert.

In einem Punkt sind katholische Kirche und bürgerliche Gesellschaft gleich: sie sind Wurmfortsätze der Vergangenheit. Wir brauchen sie wie der Fisch das Fahrrad.

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 148, April 2010
*  Anti-Krisenbündnisse: Eine bittere Zwischenbilanz und ihre Lehren
*  IG Metall: Nach den Betriebsratswahlen
*  Unabhängige Betriebsgruppe Klinikum Bremen Mitte: Opposition ist möglich
*  Gegengipfel zum Treffen der EU-Bildungsminister: Bildung statt Bologna!
*  Bundeswehr an Schulen: Militarismus bekämpfen!
*  Honduras: Protestiert gegen den feigen Mord an Gewerkschaftsaktivist!
*  Volksbegehren in Thüringen: Gegen Kitaabbau und Herdprämie
*  Kirchenskandal: Vergewaltigung mit Heiligenschein
*  Heile Welt
*  Linksradikale in Antikrisenbewegung: Keine Forderung ist keine Lösung
*  Interview zu Südasien: Klassenkampf und revolutionäre Perspektiven
*  Cochabamba: Weltklimagipfel der sozialen Bewegungen
*  Griechenland: Im Würgegriff des deutschen Imperialismus