Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Ambulante Altenpflege

Profit statt Menschenrecht

Thomas von Berlin, Neue Internationale 91, Juni 2004

Die Diskussion um die "Überalterung Deutschlands" in den bürgerlichen Medien will nicht enden. Einerseits wird hier deutlich, dass in der kapitalistischen Gesellschaft zu Wenige Kinder wollen oder sich leisten können. Der medizinische Fortschritt, das steigende Lebensalter der Menschen, wird nicht nur in der Rentendiskussion zum Problem gemacht. Können wir uns die Alten noch leisten? Der verschleiernde Begriff des "demographischen Faktors" zielt auf Rentenkürzungen bei steigenden Beiträgen. So zeigt sich im Umgang mit den Alten die Begrenztheit der auf der Profitlogik basierenden Gesellschaft: trotz steigender Produktivität sinkt der Lebensstandard der Massen! Die Generation der über 70jährigen - aufgewachsen in der NS-Zeit - hat oft selbst die Auffassung, wer nicht arbeitet, taugt nichts, verinnerlicht.

Endstation

Erschreckende Parallelen zur NS-Zeit - Stichwort Euthanasie - tauchen in der Diskussion immer wieder auf. Ein Ärztekammerpräsident spricht von "sozial verträglichem Ableben", Operations- und Therapieeinschränkungen ab einem Alter von 75 werden von MedizinerInnen - unter dem Kostendruck der Kassen - diskutiert. Der allgemeine Aufschrei der bürgerlichen Öffentlichkeit hält sich in Grenzen.

Die Praxis in der Altenpflege hat sich dementsprechend in den letzten zehn Jahren stark verändert und der neoliberale Angriff hier ist noch längst nicht beendet. Milliardenlöcher in der Pflegeversicherung "schreien" nach weiteren Sparmaßnahmen.

Schockierende Berichte aus stationären Pflegeeinrichtungen über Verwahrlosung, Entmündigung, Zwangsernährung und Überlastung des Personals sind an der Tagesordnung. Der Schuldige wird oft im hart arbeitenden Pflegepersonal gesehen - weitere Konsequenzen werden nicht gezogen.

Aber auch die Versorgung der Alten zu Hause, die ambulante Pflege, bewegt sich längst im Schattenbereich bürgerlicher Legalität. Das Reformprojekt der Sozialstationen im Stadtteil der 1970er Jahre, entstanden aus den damaligen sozialen Kämpfen, ist untergegangen im Sog der kapitalistischen Konkurrenz. Längst regiert der Markt mit seinen Zwängen, nicht aber die Effizienz der Versorgung.

Türöffner der Umstrukturierung war die in den 1990er Jahren eingeführte, damals in der Öffentlichkeit gefeierte Pflegeversicherung von CDU-Minister Blüm. Die paritätische Finanzierung wurde aufgebrochen, die Kapitalseite mit der Abschaffung eines Feiertags entschädigt. Ambulante Pflegeklitschen schossen erst wie Pilze aus dem Boden dieses anscheinend lukrativen Marktes - und gingen Pleite. Heute herrscht die Agonie knallharter Konkurrenz und Finanzmisere. Folge ist Überausbeutung der Beschäftigten und Vernachlässigung der Alten.

Auf dem kapitalistischen Markt haben sich die Einrichtungen der Kirchen - Diakonie und Caritas - anscheinend durchgesetzt. Unter dem Deckmantel der christlichen Nächstenliebe herrschen hier längst neoliberale Managementmethoden. Als Tendenzbetriebe unterliegen sie nicht den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes. So haben die Mitarbeitervertretungen nicht einmal die Mitbestimmungsrechte anderer kapitalistischer Betriebe. Die Verkündigungspflicht schränkt die politische Freiheit der Beschäftigten zusätzlich ein, in Zeiten des Sozialabbaus und weitreichender Sparmaßnahmen geradezu ein Maulkorb für kritische Geister, neuerdings verstärkt durch die starke Konkurrenz im Pflegebereich.

Die strenge hierarchische Organisation der Wohlfahrtsverbände, mangelnde Offenheit im Rechnungswesen und fehlende demokratische Kontrolle auf allen Ebenen bilden zusammen mit dem äußerst geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad eine autoritäre Struktur, die die in der "normalen" Wirtschaft übertrifft. Im Zeichen eines angeblichen "Sonderweges" zwischen Kapitalismus und Sozialismus werden die Beschäftigten entwaffnet.

Sondertarifverträge der Kirchen bedeuten Schlechterstellung nicht nur bezüglich verzögerter Übernahme der Tariferhöhungen des öffentlichen Dienstes und geringerer Entlohnung. Nur zu gerne schließen sich die kirchlichen Träger der allgemeinen Spardiskussion an und kappen die Gehälter. Dabei wird oftmals mit der Schließung gedroht, z.B. bei der Diakonie-Sozialstation in Berlin-Neukölln.

Auswirkungen

Von je her gehört die Altenpflege zu den am schlechtesten bezahlten Berufen in Deutschland. Gerade Frauen wird unter Hinweis auf ihr soziales Gewissen enorme Arbeitsleistung abgepresst. In den letzten Jahren verstärkte sich zudem die Prekarisierung der Arbeit, Festeinstellungen werden gestoppt, Zeitverträge und ungarantierte Einstellungen vorgenommen. Entlassungen "auf kirchliche Art", d.h. in gegenseitigem "Einverständnis" durch Kesseltreiben gegenüber einzelnen KollegInnen, sollen die allgemeine Furcht vor Kündigungen anfachen. Mit Arbeitskräften aus Osteuropa wurden die Lohnkosten gesenkt. Ständig neue Einspardrohungen (Lohnverzicht, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Feiertagsbezahlung) führen zu wachsender Unruhe in den Belegschaften.

Gleichzeitig entwickelt sich eine typisch neoliberale Bürokratie der Pflegeversicherungen.

Unter der "Autorität" der berüchtigten Vertrauensärzte der Krankenkassen wird die Arbeit in der ambulanten Pflege formalisiert und taylorisiert, umfangreiche Pflegedossiers werden eingeführt, ständig neue, unsinnige Formulare führen zur Verunsicherung der Alten und der PflegerInnen. Pro "Kundeneinsatz" werden bis zu dreißig Unterschriften verlangt!

Die neoliberale Bürokratie lässt selbst den Stalinismus oft vergleichbar effektiv erscheinen: Die mittlere Hierarchie reagiert auf Spardruck von oben, baut ihre Position weiter aus und gibt den Druck weiter auf die ArbeiterInnen. Die Arbeitsintensität und Flexibilität (entsprechend den Wünschen von oben) steigen enorm.

Durch die Pflegeversicherung hat die Anzahl der Einsätze pro Tag in der ambulanten Pflege stark zugenommen, während die Einsatzzeiten drastisch gekürzt wurden. So werden die Alten bis zu sieben Mal durch Kurzbesuche aufgeschreckt, kennen oftmals aber nicht einmal den Namen der BesucherInnen, Zeit für Gespräche, Spaziergänge etc. bleibt nicht mehr. Die Alten flüchten sich angesichts ihres jämmerlichen Daseins in die Demenz. Die Einrichtungen haben trotz steigendem Arbeitsaufwands oftmals Einstellungsstopp, aus Kostengründen wird mit Notbelegschaften gearbeitet. So wechseln die PflegerInnen ständig.

Erklärtes Ziel der Qualitätssicherung ist denn auch die Austauschbarkeit der BetreuerInnen, was in Wirklichkeit zu starker Qualitätsminderung führt. Die Patienten werden normiert, unterschiedliche Sauberkeitswünsche "gleichgeschaltet", was oft zur Anhäufung unsinniger Pflegetätigkeiten führt. Jeder Teller in der Küche etwa wird einzeln gespült, während dem Bettlägerigen die Möglichkeit genommen wird, diese überhaupt zu betreten. Die Kontrolleure der Versicherung finden jedoch Alles sauber vor.

Nebenbei werden auch die Interessen der Industrie bedient, die Zahl der Pflegehilfen wie Krankenbetten, Krane, Einmalwindeln und Tücher ist explosionsartig angestiegen. Ein Witz am Rande: die Kosten für hautunverträgliche Windeln wird von den Kassen übernommen, die für die besseren Einlagen nicht.

Im Endeffekt wird das Pflege-, besser das Profitziel der Einrichtungen voll erreicht, die Alten werden am Leben und in Abhängigkeit gehalten, sie vegetieren und sichern den Verdienst. Dies aber nur, solange sich nicht übergeordnete gesellschaftliche Interessen durchsetzen und ein Ableben "verordnen".

Die Formalisierung der Pflege führt zu Vernachlässigung und Entmündigung der Patienten. Stichworte hier nur Demenzkrankheiten und Stuhl- und Harn-Inkontinenz. Dies erschwert wiederum die Pflege, die zur Fließbandarbeit wird. Ständige Arbeitsüberforderungen, Überstunden, ungesetzliche Doppelschichten und fehlende Wochenenden führen zum Ansteigen von Berufskrankheiten wie Rückenleiden und psychischen Erkrankungen. Das Verhältnis PflegerIn - PatientIn wird entmenschlicht. Hilfe zur Selbsthilfe, Mobilisierung von Kranken, Krankenhausnachbetreuung und Prävention sind Fremdworte in dieser durchkapitalisierten Pflege, hinter den vorgebeteten Menschlichkeitsparolen, Leitbild- und Qualitätssicherungsdiskussionen steht letztlich nur Profitdenken.

Die Kirchen meinen, Ökonomie und Nächstenliebe in Zeiten der "Moderne" verknüpfen zu können. In Wahrheit vermitteln ihre Obrigkeiten nur den neoliberalen Zwang durch ihre Weigerung, über die bürgerliche Gesellschaft hinaus zu denken.

Das Bild der barmherzigen Samariter wird bewusst gepflegt, obwohl sich sowohl Caritas als auch Diakonie jeden Aufwand bezahlen lassen. Der Staat, nicht die Kirchen, springt etwa bei den Kosten für die "psycho-soziale" Betreuung ein, die bezeichnenderweise durch die Pflegeversicherung nicht gedeckt werden. Die Kirchensteuer- und Spendeneinnahmen fließen wohl eher in die Missionierung Ungläubiger oder direkt in die Taschen der Eminenzen.

Die Sozialverbände haben sich gegen die, wie sie meinen, Privatisierung der Pflege ausgesprochen. Eine wirkliche Vergesellschaftung täte aber Not, sie würde auch mit weniger Mitteln auskommen.

Nur eine sozialistische Gesellschaft jenseits des Profits könnte den sozialen Zusammenhalt zwischen den Menschen - nicht in überkommenen Familienstrukturen - herstellen, der notwendig ist, um unseren Alten ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. Den Kampf dafür müssen die Beschäftigten, zusammen mit den Alten, vor Ort aufnehmen. Deshalb fordern wir:

Volle Mitbestimmungsrechte in Tendenzbetrieben! Uneingeschränktes Assoziationsrecht der Beschäftigten!

Qualifikation und Festeinstellung für Alle! Weg mit der Unterbezahlung!

Schluss mit den Tendenzbetrieben! Vergesellschaftung der Pflege unter Kontrolle der Alten und Belegschaften!

Leserbrief schreiben   zur Startseite

neue internationale
Nr. 91, Juni 2004

*  EU-Wahlen: Keine Stimme für Schröders SPD!
*  Wahlalternative: Neue Besen, alte Rezepte
*  Heile Welt
*  Berliner Volksbegehren: Hauptsache gegen den Senat?
*  Autoindustrie: Keine Zukunft ohne Kampf!
*  Ambulante Altenpflege: Profit statt Menschenrecht
*  Nach der EU-Osterweiterung: Billiglohnland Polen?
*  70. Jahrestag des Röhm-Putsches: Braun gegen Braun
*  Irak: Schluss mit der Besatzung!