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SPD mit neuer Spitze

Wechsel ohne Wandel

Hannes Hohn, Neue Internationale 88, März 2004

Der König ist tot! Es lebe der König! Nachdem Schröder als SPD-Vorsitzender zurückgetreten ist, heißt der Chef nun Müntefering. Er soll den Sturzflug der Partei seit Schröders Amtsantritt stoppen.

Fast alle Wahlen endeten seitdem für die SPD im Desaster. Selbst von ihren Hochburgen in Nordrhein-Westfalen verlor sie immer mehr an die CDU. Die Wiederwahl zum Kanzler 2002 konnte nur äußerst knapp gesichert werden, weil das Nein zum Irak-Krieg und das Hochwasser gerade noch genug Stimmen in die Wahlurnen spülten. 2003 verlor die SPD fast 70.000 Mitglieder - rund ein Zehntel ihres Bestands. Doch der Abwärtstrend begann schon lange vorher. Seit 1990 warf fast ein Drittel (!) der Mitglieder ihr Parteibuch hin. Die aktuellen Wahlprognosen sehen die SPD bundesweit bei 24% - ein historischer Tiefststand nach 1945!

Dilemma

Freilich hat Müntefering gleich klargestellt, dass der Kurs Schröders grundsätzlich richtig ist. Das hinderte die SPD-"Linke" jedoch nicht, auf Kritik zu verzichten, um "dem Neuen eine Chance zu geben." Der alte Parteisoldat Müntefering steht nicht für einen Kurswechsel, sondern für den Versuch, die SPD wieder zu stabilisieren. Er soll absichern, dass sie nicht vollends ihren Einfluss über die Arbeiterklasse und den Gewerkschaftsapparat verliert, denn das würde bedeuten, dass damit auch die Unterordnung des Proletariats unter das Kapital und dessen Einbindung ins System insgesamt gefährdet wird. Diesen Zugriff auf die Klasse aufrecht zu erhalten - die spezifische Funktion der SPD - macht aber ihren eigentlichen Wert für die Bourgeoisie aus.

Die Aufgabe Münteferings ist ein Balanceakt: einerseits darf die Umsetzung der strategischen Angriffe - der Agenda - nicht behindert, andererseits soll das Parteivolk bei der Stange gehalten werden.

Verursacht wurden die Wahldebakel der SPD wesentlich dadurch, dass viele ArbeiterInnen aus Enttäuschung über die SPD nicht mehr wählen gingen. Das spiegelt sich auch in den niedrigen Wahlbeteiligungen wider. Bei den letzten zwei Bundestagswahlen gaben die Wahlkampagnen des DGB letztlich den Ausschlag für Schröders Siege. Doch die ArbeiterInnen - vor allem die gewerkschaftlich organisierten, bewußteren Teile - haben die Schnauze voll von Schröders Agenda 2010 und den Angriffen auf das Sozialsystem.

Anders als bei offen bürgerlichen Parteien zeigt sich nun die Ambivalenz der SPD. Als bürgerliche Arbeiterpartei (in ihrer Politik bürgerlich, sozial überwiegend auf die Gewerkschaften bzw. deren Apparat gestützt) ist sie gezwungen, in einem gewissen Maß die Hoffnungen ihrer Arbeiterbasis zu berücksichtigen. Wenn die SPD aber von der gepolsterten Oppositionsbank auf das harte Regierungsgestühl wechselt, zählen nicht mehr linke Phrasen, sondern Taten. Jede Regierung - ob von SPD oder CDU geführt - handelt aber im Interesse der Bourgeoisie und muss deshalb - gerade in Zeiten der Krise - die Arbeiterklasse und die Massen angreifen.

Sicher: Niemand glaubt heute mehr, dass die SPD den Sozialismus einführt. Doch sogar die Erwartung, eine SPD-Regierung sei das kleinere Übel gegenüber der CDU, wird enttäuscht. Wenn die SPD selbst regieren muss, anstatt "linke" Opposition spielen zu können, erodiert die ihr Rückhalt in der Arbeiterschaft.

Existenzkrise

Dass für Schröders Crash-Kurs sogar die Existenz der SPD selbst aufs Spiel gesetzt wird, zeigt, wie weit die Servilität der Sozialdemokraten gegenüber dem Kapital geht und wie sehr sie mit dem bürgerlichen Staatsapparat verbunden sind. Es ist aber auch eine Situation, welche die Ablösung der ArbeiterInnen vom Reformismus erleichtert.

Der Niedergang der SPD resultiert nicht nur aus der aktuellen Politik Schröders. Sie ist vielmehr Ausdruck der vertieften Krise des Kapitalismus. Nach 1945 schien vielen ArbeiterInnen Westdeutschlands die reformistische Politik der SPD und des mit ihr verquickten Gewerkschaftsapparates Garant für wachsenden Lebensstandard und stabiles Wachstum zu sein.

Der lange, durch den Marshallplan wie durch extrem niedrige Löhne angeregte wirtschaftliche Boom nach 1945 führte zu einer Verbesserung der Lebenslage des Proletariats. Auf der Basis dieses Wirtschaftsaufschwungs strukturierte sich auch die deutsche Arbeiterklasse. Ein großer Teil (vor allem in den Großunternehmen) gehört zur Arbeiteraristokratie, ist relativ besser gestellt als der Rest der Klasse. Die Arbeiteraristokratie ist die soziale Basis des Reformismus; aus ihr und den lohnabhängigen Mittelschichten rekrutiert sich ein Grossteil der Arbeiterbürokratie (Betriebsräte, Funktionäre von SPD und DGB).

Historische Ursachen

Nach dem doppelten Trauma der kampflosen Niederlage gegen Hitler und der Zerschlagung der Arbeiterbewegung erlebte die deutsche Arbeiterklasse die Wiederauferstehung von KPD, SPD und Gewerkschaften und die bürgerliche Demokratie nach 1945 als Erfolg und Genugtuung.

Doch die nach Kriegsende einsetzende politische Stabilisierung war trotz der Niederschlagung des Faschismus reaktionär. Revolutionäre Krisen konnten Dank der zwei Flügel des internationalen Reformismus - der Sozialdemokratie und des Stalinismus - entschärft oder verhindert werden. Die antikapitalistischen Ambitionen der deutschen Arbeiterklasse wurden von den Reformisten in eine systemkonforme Richtung abgebogen - die "Mitbestimmung".

Die deutsche Arbeiterklasse litt besonders unter dem fast völligen Fehlen einer Alternative zur SPD. Die westdeutsche KPD scheiterte nach 1945 als einzige größere Arbeiterpartei jenseits der SPD an ihrer stalinistischen Politik und wurde 1956 verboten. Auch die später (wieder)gegründete DKP oder die diversen linken Gruppen nach 1968 waren keine ernste Gefahr für die SPD. Selbst im DGB gab und gibt es keine Fraktionen, die SPD dominiert direkt und indirekt - allerdings formell unausgewiesen (!) - die Gewerkschaften. Der fatale Einfluss des Stalinismus auf die Politik der revolutionären Alternative zur SPD, der KPD, schon vor 1933 und umso mehr die Existenz des "realen" DDR-Sozialismus" vertieften Ignoranz und Ablehnung der ArbeiterInnen gegenüber Sozialismus und Revolution.

Von steigendem Lebensstandard und stabilem Wachstum kann heute nicht mehr gesprochen werden. Der Druck auf die Profitraten, stärkere internationale Konkurrenz und der Zwang zur Gewinnoptimierung führen dazu, dass der Verteilungsspielraum des Reformismus stetig kleiner wird. Das drückt sich u.a. in den Klagen aus, dass "das Geld für soziale Leistungen und öffentliche Investitionen fehle".

Andere Zeiten

Die DGB-BürokratInnen glauben immer noch, das alte Konsens-Spielchen mit dem Kapital könne so wie früher weiter gehen. Doch das Kapital muss und will diesen Konsens aufkündigen - das shake hands wird von Faustschlägen abgelöst. Traditionelle Strukturen wie das Tarifvertragswesen, der Kündigungsschutz usw. werden vom Kapital bewusst angegriffen und sollen einem flexibleren System des Heuern und Feuern Platz machen.

Damit gerät aber auch das aufwendige System institutionalisierter Sozialpartnerschaft unter Beschuss - die strukturelle Basis des Reformismus. Immer mehr Betriebe existieren außerhalb von Tarifbindungen und ohne Betriebsräte, von aktiven und lebendigen Basisstrukturen der Gewerkschaften ganz zu schweigen.

Parallel dazu hat die politische Anpassung des Reformismus an das kapitalistische System dazu geführt, dass er selbst immer direkter in das System strukturell integriert wurde (Posten in Aufsichtsräten, Sozialkassen, Abgeordnete etc.). Die Dominanz des reformistischen Apparats bewirkte zugleich auch, dass die Arbeiterbasis und ihre wichtigsten Organisationen, die Gewerkschaften, immer weniger kampffähig wurden. Der große Vorteil des Reformismus - die Dominanz über die Klasse - schlägt nun um in eine um so größere Enttäuschung der Klasse über ihre Führungen und deren Rezepte.

Die Bewegung gegen die Agenda, die Demo am 1.11.2003 in Berlin sind deutliche Zeichen dafür, dass sich die Vorhut der Klasse zum Kampf formiert - ohne Aufforderung und gegen die inaktive reformistische Bürokratie. Viele AktivistInnen, betriebliche und gewerkschaftliche Funktionäre, die früher noch zähneknirschend hinter der SPD standen, reden inzwischen offen darüber, dass man eine neue Arbeiterpartei brauche - eine Partei, die aktiv die Interessen der Lohnabhängigen vertritt, die gegen und nicht für das Kapital kämpft.

Momentan befinden wir uns noch am Anfang dieser Suche nach einer politischen Alternative zur SPD und der organisatorischen Formierung der kämpferischen und bewußteren Teile der Klasse. Letzteres spiegelt sich in der Entstehung einer Gewerkschaftslinken wider, es äußert sich in den Sozialforen, Anti-Hartz-Komitees usw. Diese Ansätze müssen zu einer klassenkämpferischen Basisbewegung zusammengeführt werden - jetzt!

Wie weit die Loslösung von der SPD gediehen ist, wie weit diese auch zu einem Bruch mit dem Reformismus insgesamt führt, wird sich u.a. darin zeigen, ob der Kampf im Rahmen von Protesten verbleibt oder aber zu politischen Massenstreiks vorankommt. Diese würden nämlich als quasi "illegale" Aktionen mit reformistischen "Traditionen" wie der Friedenspflicht usw. brechen.

Derzeit ist es entscheidend, dass der Prozess der Loslösung von der SPD einerseits mit Massenkämpfen verbunden und damit von einer Idee zu einer realen Kampfalternative wird. Gleichzeitig ist es zentral, dass jene Kräfte, die eine Alternative zur SPD suchen, eigene Strukturen bilden - Strukturen, die praktische Mobilisierungen mit politischen Diskussionen verbinden.

Alternativen

Die Krise der SPD - und in ihrem Windschatten auch die des gewerkschaftlichen Reformismus - stellt die Arbeiterklasse vor Alternativen.

Entweder sie erlebt, wie "ihre" Gewerkschaften und Vertretungsorgane - so unzureichend sie auch sind - vollends erodieren und wird selbst in den Strudel der Krise des Reformismus gezogen oder aber, sie schafft es, sich freizuschwimmen, sich eine neue Partei zu schaffen, die Gewerkschaften an Haupt und Gliedern zu erneuern und die Angriffe von Kapital und Regierung zurück zu schlagen.

Die Schaffung einer neuen Arbeiterpartei wird in den nächsten Jahren die zentrale Aufgabe im Klassenkampf in Deutschland sein. Wir müssen jeden Ansatz, der in diese Richtung geht, unterstützen. Aber zugleich steht die Frage, welchen Charakter, welche Programmatik eine solche Partei haben soll. Die Arbeiterklasse braucht keine weitere reformistische Partei. Daher kämpfen wir dafür, dass eine neue Partei von Beginn an einen revolutionären Charakter hat.

Frei nach Rosa Luxemburg meinen wir: "Eine revolutionäre Partei ist großartig, jede andere ist Quark."

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Nr. 88, März 2004

* Aktionstage am 2./3. April: DGB-Führung bremst
* Metall Tarifrunde 2004: Vergebene Chancen
* Heile Welt
* SPD mit neuer Spitze: Wechsel ohne Wandel
* Uni-Streiks: Eine Zwischenbilanz
* Studentenstreik: Bremer Erfahrung
* 200. Todestag Kants: Freiheit, philosophisch betrachtet
* Demokratischer Rassismus: Nein zum Kopftuchverbot!
* Slowakei: Hungeraufstand der Roma
* Wahlen im Iran: Weg mit dem Mullah-Regime!
* Brasilien: Tropischer Blairismus
* München: Solidarität mit den Festgenommenen!
* Deutschland rüstet nach: Militärische Globalisierung