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200. Todestag Kants

Freiheit, philosophisch betrachtet

Markus Lehner, Neue Internationale 88, März 2004

Es gibt geistesgeschichtliche Jubiläen, die vor allem Feuilletons und Zeitgeist-Magazine beschäftigen. Der 200. Todestag des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) erreicht durchaus auch die "Straße". So konnte man in Berlin bei den Warnstreiks der IG Metall vernehmen, dass wir gegenüber der permanenten, entmündigenden neoliberalen Propaganda die Ermutigung des alten Aufklärers gebrauchen könnten: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!". So sehr unsere "Vormünder" auch mächtig und unsere "Unmündigkeit" als naturgegeben erscheint, so sehr haben wir doch den Verstand und die Fähigkeiten, selbstbewusst unseren eigenen Standpunkt zu vertreten - wenn wir nur den Mut dazu hätten (siehe Kants Pamphlet "Was ist Aufklärung?").

Der Bezug auf Kant hat eine lange Tradition in der Arbeiterbewegung. Nach den Unverbindlichkeiten und dem defaitistischen Skeptizismus der Post-Moderne, die noch im letzten Jahrzehnt die philosophische Bühne bestimmten, zeigt die Kant-Renaissance auch eine Rückbesinnung auf die Möglichkeit der Verwirklichung der Versprechen der Moderne.

Französische Revolution

Marx nannte einmal Kant den "deutschen Philosophen der französischen Revolution". Dies mag erstaunen, angesichts des landläufigen und von interessierter Seite verbreiteten Bildes vom weltfremden preußischen Staats-Aufklärer, der fern von der realen Welt Theorien entwickelte, die nur für Eingeweihte interessant seien. Tatsächlich räumen eine Reihe von Biographien und Monographien, die im Rahmen des Jubiläums erschienen sind (bei Rowohlt, C.H.Beck; oder Oskar Negts "Kant und Marx") gehörig mit diesem Bild auf.

Kant reagierte enthusiastisch auf die französische Revolution, verfolgte eingehend über die französische Presse die politischen Ereignisse und diskutierte leidenschaftlich ihre Wendungen. Als Johann Wolfgang von Goethe und Konsorten nach den reaktionären Truppen riefen, um "dem Spuk ein Ende zu setzen", verteidigte der alte Kant - unbesehen der materiellen Gefahren, die damit verbunden waren - öffentlich die Politik der Jakobiner. Freunde berichteten 1794 schockiert, dass Kant sich "nicht abschrecken ließ, selbst an den vornehmsten Tafeln der Revolution das Wort zu reden".

Tatsächlich war die Revolution für Kant ein epochaler Wendepunkt, der ihm das Wirklichwerden seiner philosophischen Bestrebungen anzeigte. In einem Brief formulierte er diese Hoffnung mit ironisch-religiösem Anklang: "Sie haben Ideen in Bewegung gebracht, verbreitet, die nicht auszutilgen sein werden ... Nun schwebt der Geist der Revolution über den Wassern und wird nach und nach scheiden und ordnen".

Diese "Unumkehrbarkeit" der Revolution findet sich auch in seinem letzten großen öffentlichen Werk von 1798 wieder: "Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergisst sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte" (Streit der Fakultäten).

Hier finden sich mehrere Elemente einer tiefergreifenden Bewertung der französischen Revolution. Einerseits geht es um das Praktisch-Werden der philosophisch begründeten Vernunft: "Diese Revolution ist der erste praktische Triumph der Philosophie, das erste Beispiel einer Regierungsform, die auf Prinzipien und auf ein zusammenhängendes, konsequentes System gegründet wird".

Die von Kant in unzähligen Abhandlungen beschriebene Vision, dass das Zusammenleben der Menschen ohne Vermittlung durch irgendwelche "höheren Wesen", ohne Berufung auf eine Gottheit und ihre diversen Vertreter auf Erden möglich ist, durch selbstbestimmte, "Natur und Freiheit" vermittelnde, vernunft-bestimmte Regeln (zusammengefasst in seinem "kategorischen Imperativ") - für all dies sieht er mit der Revolution nun die Zeit gekommen.

Andererseits ist diese Verwirklichung von praktischer Vernunft nicht etwas, was irgendein Denker oder Politiker durch seine klugen Reden und Schriften dem Gang der Ereignisse aufdrücken könnte. Sie drückt vielmehr ein geschichtlich entwickeltes Vermögen der Menschen zur Selbstbestimmung aus, das sich durch die alte Despotie nicht mehr aufhalten lässt. Schon 1784 ("Idee zu einer allgemeinen Geschichte") sprach Kant von der Unvermeidlichkeit von Revolution, um aus einem - vom gegenwärtigen Vermögen aus betrachteten - von Unvernunft beherrschten System ausbrechen zu können, um eine politische Ordnung höherer Vernunft erreichen zu können.

Möglichkeit von Freiheit

Das zentrale Problem, um das Kants Denken kreist, war das der Möglichkeit von Freiheit unter den Bedingungen einer von Naturgesetzen beherrschten Welt, von deren Wirken wir immer nur ein beschränktes Wissen erreichen können. Kant hat radikaler als seine neuzeitlichen Vorgänger, wie Descartes oder Spinoza, die metaphysischen Konsequenzen des naturwissenschaftlichen Zeitalters gesehen, das durch den Triumph der Newton’schen Physik eingeläutet wurde. Es gab kein höheres Wesen, keine überkommene Tradition und althergebrachte Vorstellungen, auf die sich unsere Erkenntnis begründen kann. Kant sah das Problem einer menschlichen Erkenntnis, die sich nun nur aus sich selbst begründen kann. Die Notwendigkeit einer selbstbegründeten Vernunft kann diese nur als ein umfassendes System, als eine Totalität gelten lassen.

Gleichzeitig erkennt aber Kant die notwendigen Gegensätze und die Grenzen der Begründbarkeit eines solchen Versuchs, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Diese Grenzen sind im Begriff des "Dings an sich" gefasst: Bei all unseren Erkenntnissen über die Phänomene um uns handelt es sich um eine Mischung aus sinnlicher Erfahrung und unserer verstandesmäßigen Verarbeitung dieser Erfahrungen; das "ich" ist bei jeder Erkenntnis mitzudenken; soviel wir auch unsere Erkenntnis über die Erscheinungen verbessern und verfeinern - es bleiben doch immer nur Erscheinungen vom Ding, nie das "Ding an sich selbst".

Kants Lösung des Problems besteht in der "kopernikanischen Wende" zu unseren produktiven geistigen Fähigkeiten, die Erkenntnisse auf der Basis unserer Erfahrungen zu konstruieren.

Daraus glaubte Kant ableiten zu können, was die menschliche Vernunft überhaupt zu begreifen in der Lage ist. Er gelangte umgekehrt (in der "transzendentalen Dialektik") zu den Dingen, die sich nie und nimmer ergründen ließen: der "Seinsgrund der Welt", Gott, Unendlichkeit, ein höherer Sinn des Lebens ... Insbesondere seine scharfe Widerlegung aller gängigen Gottesbeweise und der folgende Beweis von der Unmöglichkeit einer rationalen Begründung der Existenz Gottes, machten Kants "Kritik der reinen Vernunft" zu einem epochalen Werk. Für die zu seiner Zeit in Deutschland vorherrschenden Denkschulen, die so etwas wie eine "rationale Theologie" begründen wollten, wurde Kant zum vielzitierten "Alleszermalmer".

Antinomien des Bewusstseins

Die Möglichkeit von Freiheit, in einer von Kausalgesetzen bestimmten Welt, gehört zu den unlösbaren "Antinomien der reinen Vernunft".

Da Kant die Tatsache des "guten Willens", eines Strebens des Menschen, gemäß "sittlichen Gesetzen" zu handeln, als ebenso axiomatisch gegeben sah, wie die Gültigkeit von geometrischen Gesetzen, blieb für ihn auch für die "praktische Vernunft" nur die Lösung ein letztlich unerkennbares, aber für das menschliche Handeln zentrales "Dings an sich" zu behaupten. Das Subjekt selbst ist geteilt in den "empirischen Menschen" und den Menschen als Teil des Reichs der freien Zwecksetzung.

Dieser gute und freie Wille lässt sich letztlich nie inhaltlich fassen, sondern nur formal eingrenzen. Etwa durch solche Gesetzmäßigkeiten wie den "kategorischen Imperativ": "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst".

Bei Kant werden die Antinomien (inneren Widersprüche) des bürgerlichen Bewusstseins in extremer Konsequenz formuliert. So wie Kant in seinem Enthusiasmus über die mit der französischen Revolution heranbrechende Durchsetzung der Vernunft die sich in den gesellschaftlichen Beziehungen selbst festsetzende Unvernunft kapitalistischer Produktionsverhältnisse übersah, so übersah er notwendigerweise in seiner "Zertrümmerung der überkommenen Dogmatik" die eigenen dogmatischen Vorurteile der bürgerlichen Epoche: die Verengung des Problems der Vernunft auf das rein Gedankliche, die rationell-formalistische Erkenntnisweise (Wissenschaft gemäß dem Vorbild der mathematischen Physik) einerseits und die Reduktion des Problems der Freiheit auf die Perspektive des "vereinzelten Einzelnen".

Dass die Herrschaft von Unvernunft, Unmündigkeit, das systematische Nicht-Verstehen des Offensichtlichen etc. ein notwendiges Produkt entfremdeter, die lebendige Wirklichkeit verdinglichender Produktions- und Herrschaftsverhältnisse ist, bleibt einem solchen Ausgangspunkt unbegreiflich.

In ihm müssen die - ja nicht selbst produzierten - Verschleierungen von Wirklichkeit ewig undurchdringlich bleiben, so wie sich Befreiung auf nicht begründbare, zufällige Willensakte reduziert. Mit solchen Ausgangsbedingungen werden die eigentlichen selbstverschuldeten Ursachen von Unvernunft und unfreier Praxis gar nicht Thema, um sich in den Paradoxien einer selbst-genügsamen nicht-gesellschaftlichen, vereinzelten Vernunft zu verfangen. Der Rationalismus rettet sich in den philosophischen Idealismus.

In der kleinbürgerlichen Linken wurde Kant in Folge immer wieder als Kronzeuge gegen den "Marx'schen Geschichtsdeterminismus" und für die Möglichkeit einer "fortschrittlichen Moral" im Rahmen des Sozialismus herangezogen. So etwa in Bernsteins "ethischem Sozialismus" oder heute bei Oskar Negt.

Auch bei Theoretikern der "Anti-Globalisierungsbewegung" wird die Frage eines "neuen ethischen Bewusstseins", das als Grundlage einer "vernünftigen Weltordnung" notwendig sei, wieder mit der Kant'schen Tradition in Verbindung gebracht. Kant selbst hat gegenüber diesen Kantianern den Vorzug, zumindest gleichzeitig die problematische Grundlage einer solchen Ausrichtung schonungslos klar zu legen.

Wie Lukacs in "Geschichte und Klassenbewusstsein" zeigt, lässt sich ein rationales System, eine Totalität von Praxis und Erkenntnis, erst von einem Standpunkt aus entwickeln, wo das Subjekt des Handelns und Erkennens zugleich das Objekt der (Selbst-)Produktion ist.

Perspektive

Erst eine sich bewusst selbst-organisierte Arbeiterklasse, die mit der Kontrolle über die Produktionsmitteln zur Herausbildung einer freien Assoziation von Produzenten fortschreitet, hat das Vermögen, ein nicht mehr entfremdetes Verhältnis zu den Voraussetzungen und Folgen des gesellschaftlichen Handelns zu finden und tatsächlich zu einer vernünftigen Vermittlung von Natur und Freiheit zu finden, nachdem der Philosoph rein gedanklich vergeblich suchen musste.

Erst in einer kommunistischen Gesellschaft wird ein "Reich der Freiheit" möglich, in dem Kants kategorischer Imperativ wie eine natürliche Regel wirkt. Bis dahin ist das höchste moralische Prinzip die Herausbildung und der erfolgreiche Kampf gerade dieses selbst-emanzipatorischen Subjekts. D.h. solange gilt ein anderer Imperativ: "... der kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Marx, "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung").

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Nr. 88, März 2004

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