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Massenrevolte in der Bretagne

Vorbote neuer Kämpfe

Marc Lassalle, Neue Internationale 185, Dezember 2013/Januar 2014

Im Herbst 2013 wurden der „sozialistische“ Präsident François Hollande und Ministerpräsident Jean-Marc Ayrault mit einem Klassenkampfaufschwung konfrontiert. Dank der Gewerkschaften und der Studentengewerkschaft UNEF haben sie bis vor kurzem erfolgreich alle sozialen und Arbeiterkämpfe gestoppt oder gebremst. Die Regierung Hollande hatte versprochen, die Wirtschaft anzukurbeln und eine Alternative zur Politik des rechten Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy anzubieten. Doch praktisch von ersten Tag an verwaltete Hollande das System weiter mittels derselben Politik wie sein Vorgänger: Staatssubventionen für die Bosse und Einschnitte für die ArbeiterInnen.

Trotz des schmählichen Bruchs seiner Wahlversprechen wurden Hollandes Mehrwertsteuererhöhung und seine Angriffe auf gesetzliche Arbeiterrechte ohne ernsthafte Opposition von Seiten der offiziellen Arbeiterbewegung verabschiedet. Hinzufügen müssen wir noch das rassistische Anbiedern an die WählerInnen von Marine le Pens „Front National“. So forderte Innenminister Manuel Valls die meisten der 20.000 Roma Frankreichs auf, „nach Hause“ zu gehen und „dort integriert zu werden“ - und drohte, sie gewaltsam abzuschieben.

Aktionen

Im September beteiligten sich 370.000 Protestierende an 200 Demonstrationen in ganz Frankreich gegen die Regierungsvorlagen zur Rentenreform. Eine noch kämpferischere Reaktion erfolgte Ende Oktober, als die sozialistische Regierung die Lunte der Revolte zündelte: sie verordnete die Abschiebung zweier OberschülerInnen, der 15jährigen Roma Léonarda Dibrani und des 19jährigen Armeniers Katchik Katchatryan. Wie so oft in den letzten 10 Jahren waren es die GymnasiastInnen, die entschiedene Aktionen starteten. In ganz Frankreich traten sie in großer Zahl in den Ausstand und demonstrierten gegen dieses grausame Vorgehen.

Nun haben sogar bürgerliche KommentatorInnen begonnen, vor einer neuen sozialen Explosion zu warnen. In einem vertraulichen Memorandum an die Regierung beschrieben unlängst mehrere Präfekte (ProvinzgouverneurInnen) „eine von Spannungen, Erbitterung und Wut gequälte Gesellschaft. Diese Mischung aus Unzufriedenheit und Resignation findet ihren Ausdruck in spontanen Entladungen, einer Aufeinanderfolge schneller, explosiver Ausfälle von Ärger und nicht mittels einer strukturierten Gesellschaftsbewegung“.

Eine Woche später gingen in der Bretagne zornige ArbeiterInnen, die von Entlassungen und Arbeitslosigkeit bedroht sind, auf die Straße und mobilisierten auch Bauern und KleineigentümerInnen. Die Krise hat die Bretagne besonders heftig erwischt. Es ist die Geschichte einer unterentwickelten Region, deren Ökonomie großteils auf Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie beruht. Ein Reihe Schließungen kleiner Industriebetriebe hat die Gegend hart getroffen. Sie sind oft die einzigen „Arbeitgeber“ einer Mittel- oder Kleinstadt.

Auf einer Solidaritätsversammlung gegen diese Stilllegungen beschlossen die ArbeiterInnen, am 2. November zu einer Demonstration nach Quimper aufzurufen. Diese Demo war ein großer Erfolg. 30.000 Leute verlangten „Möglichkeiten für Arbeit und Leben in der Bretagne“.

Da es sich nur um ein Regionalereignis handelte und keine landesweite politische Kraft dazu aufrief, verwunderte kaum, dass die Demo eine ausgesprochen regionalistische Komponente aufwies mit vielen schwarz-weißen bretonischen „Nationalfahnen“ und „kultur-patriotischen“ Bewegungen und Parteien. Die Bewegung in der Bretagne zeigt das Potenzial und die Gefahr in der aktuellen Situation. Ihre AnhängerInnen wurden „bonnets rouges“ (Rotmützen) genannt, weil sie sich das Symbol einer Steuerrevolte von 1675 gegen die zentralisierende Monarchie Ludwigs XIV. zu eigen machten.

Hinter dieser Auslassung von Ablehnungsgefühl steckt die Wirklichkeit von Prekarität und Unterbeschäftigung, die von der schlechten Konjunktur noch verschlimmert wurde. Allein im letzten Jahr haben ca. 1.000 Massenentlassungen hunderttausende Arbeitsplätze vernichtet. Selbst große Betriebe wie Air France, Alcatel-Lucent, Sanofi und PSA haben Stellen abgebaut. Der Staatspräsident hat versprochen, dass die Arbeitslosigkeit gegen Ende des Jahres zu sinken beginnt. Doch sie ist nie so hoch gewesen, und die Aussichten für nächstes Jahr sind genauso arg.

Parallele Prozesse

Tatsächlich laufen zwei Prozesse gleichzeitig ab. Auf der einen Seite haben Rechtskräfte versucht, die Führung der Bewegung zu erringen. So wurden die Proteste von den Medien auch als gegen die Steuerpolitik gerichtet beschrieben, besonders gegen die „Ökosteuer“ - eine von Sarkozy verfügte Maßnahme, die Hollande jetzt umsetzt. Diese erhebt eine Abgabe auf alle LKW. Die Regierung gaukelt vor, sie sei für den Umweltschutz erhoben. Doch die Einkünfte daraus werden für Straßenbau und -unterhalt ausgegeben. Mehr noch, als typisches Beispiel für staatlich-private „Partnerschaft“ behält das Gemeinschaftsunternehmen, das sie eintreibt (die Staatseisenbahn SNCF u.a. große private Unternehmen), einen großen Teil (20%) als Gewinn ein. In vielen Kleinstädten war die Hauptaktion auf die Verbrennung der Ausrüstung für die Ökosteuererhebung gerichtet.

Andererseits liegt das viel größere Problem darin, dass die schweren Bataillone der Arbeiterbewegung die protestierenden ArbeiterInnen von Quimper den Rechten überließen. Die CGT organisierte am gleichen Tag eine gesonderte, viel kleinere Demo in Carhaix, 70 km von Quimper entfernt. Selbst der radikalere Verband SUD spielte dabei mit. Der Vorsitzende der Parti de Gauche (Linkspartei), Jean-Luc Mélenchon, verunglimpfte die Kundgebung von Quimper als „Sklaven, die hinter ihren Herren marschieren“.

Zum Glück schloss sich der Sprecher und frühere Präsidentschaftskandidat der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA; Neue Antikapitalistische Partei), Philippe Poutou, dem Aufmarsch in Quimper an. Diese Entscheidung war - trotz des sozial heterogenen Charakters der Beteiligten - gerechtfertigt. Die meisten DemonstrantInnen stammten aus der Arbeiterschaft oder aus anderen, vom System unterdrückten und ausgebeuteten Klassen. Abseits ihres Kampfes zu bleiben, würde einfach den Rechtskräften wie der FN den Weg öffnen, die Bewegung zu dominieren. Mélenchons verbaler Angriff auf den Marsch war typisch für dessen leere Demagogie.

Es überraschte nicht, dass die Tageszeitung der KP, l'Humanité, sich in die Vorwürfe gegen die NPA einreihte, in Quimper „zusammen mit der FN und den Bossen“ gelaufen zu sein - ein starker Tobak seitens dieser Praktiker der Volksfront. Diese vorgebliche Klassenreinheit ist nicht das, als was sie daherkommt. In Wirklichkeit schielt die KPF auf die SP auf in der Hoffnung, bei den im März anstehenden Kommunalwahlen Sitze zu ergattern. Dies um so mehr, als ein regelrechtes Wettrennen zwischen ihr und Mélenchon eingesetzt hat.

Hauptgefahr

Die Gefahr für die bretonische Bewegung und vielleicht andere, die in schwer von Arbeitslosigkeit heimgesuchten Regionen aufkommen werden, besteht darin, dass die Arbeiterklasse die Hauptkräfte für diesen Protest stellt, aber nicht mit einer unabhängigen politischen Perspektive bewaffnet ist, sondern von Kräften abgelenkt wird, die ihren Klasseninteressen feindlich gegenüberstehen und mit Rassismus und Chauvinismus agieren.

Wenn die Arbeiterbewegung und die Linke nicht um die politische Ausrichtung solcher Bewegungen kämpfen, überlassen sie die von der Deklassierung bedrohten Schichten der extremen Rechten. Mehr noch: oft wachsen kleinbürgerliche und reaktionäre Kräfte in Europa. Meistens bieten sie scheinbar „einfache“ Antworten auf die Krise, verknüpfen häufig hohe Arbeitslosigkeit mit Einwanderung. Die Bewegung um Beppe Grillo in Italien oder die Anti-EU UKIP in Britannien sind dafür Beispiele. Die grundlegende Ursache dafür ist die schändliche Rolle der sozialdemokratischen Parteien. Durch Unterstützung der Bürgschaften zugunsten des Großkapitals und der Sparauflagen gegen ArbeiterInnen und die untere Mittelklasse verschaffen sie der Rechten eine günstige Gelegenheit. Zusätzlich beschränken die am engsten mit diesen Parteien verbündeten Gewerkschaften den Widerstand gegen die Einschnitte auf eintägige Aktionen - „ohne ein Morgen“, wie französische Lohnabhängige sagen.

Die Politik der NPA

Dieser Trend kann auch an der gegenwärtigen Position der Bonzen aller großen französischen Gewerkschaftsverbände festgestellt werden. CFDT, FO und CGT unterließen jedwede Unterstützung für die Basiskämpfe und stellen sich stattdessen vor Hollandes Regierung. Sie verhandeln alle weiter mit ihr und erscheinen total isoliert von ihrer Mitgliedschaft. Diese FührerInnen verurteilen, was sie „Populismus“ und „Korporatismus“ von Bewegungen wie der in der Bretagne nennen. Sie treten dagegen für eine „echt progressive Einkommensteuer“ ein. Doch sie unterließen die Organisierung selbst der kleinsten Demo gegen die Mehrwertsteuererhöhung, eine streng regressive Steuer, die besonders Arbeiterklasse und Arbeitslose trifft.

Die NPA bezog zur bretonischen Mobilisierung eine mutige und korrekte Haltung. Sie forderte ein Ende der Entlassungen und die Verstaatlichung aller Firmen, die sie ankündigten. Richtigerweise sprach sie sich für die Kampfeinheit der verschiedenen Teile der sozialen Revolte aus. Doch sie klärt nicht, was ihre zentrale Regierungsparole bedeutet - eine „Anti-Austeritätsregierung“. Klar, sie richtet sich an die Front de Gauche zwecks gemeinsamer politischer Aktivität. Aber bedeutet sie das Streben nach einer Arbeiterregierung, die aus einem Massenkampf und seinen Organen erwächst, oder heißt das nur eine reformistische Koalitionsregierung mit oder ohne Selbstbeteiligung? Das Spielen mit vagen Regierungslosungen ist nicht hilfreich.

Heute orientieren sich die Aktivitäten der NPA-Mitglieder mehr auf die Vorbereitung der nächsten Kommunalwahlen im März. Selbstverständlich stellt die NPA zurecht KandidatInnen auf und nutzt die Wahlkampagne, um eine Strategie des Widerstands populär zu machen. Aber sie sollte das Gros ihrer Kräfte für eine landesweite Kampagne nutzen, die auf einem Aktionsplan beruht, der ArbeiterInnen, LehrerInnen, die Jugend u.a. von der Krise gebeutelte Sektoren vereint, um die Sparpläne der Regierung zu stoppen. Das Potenzial für eine bedeutende soziale Explosion existiert.

Wenn jedoch ihre Entwicklung purer Spontaneität überlassen bleibt, könnte sie zu einer Niederlage der einzelnen Sektoren führen, statt landesweit kollektive Gegenwehr zu organisieren. Oder noch schlimmer: reaktionäre Gesellschaftskräfte werden die Initiative an sich reißen und die gewerkschaftlich nicht organisierte Mehrheit der Arbeiterschaft in die Irre leiten - mit ernsten Konsequenzen.

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Nr. 185, Dez. 13/Jan. 14
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*  Blockupy 2014: Blockade und Selbstblockade
*  Neue Anti-kapitalistische Organisation: Jahr der Bewährung
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*  Massenproteste in der Bretagne: Vorbote neuer Kämpfe
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