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Brasilien

Boom auf tönernen Füßen

Rico Rodrigues, Neue Internationale 184, November 2013

Die Ereignisse im Juni 2003, als in Brasilien Millionen auf die Straße gingen, v.a. Jugendliche, haben der ganzen Welt gezeigt, dass der Aufschwung in Brasilien auf wackeligen Beinen steht. Den ökonomischen Erfolgen des Landes und der Verbesserung der Einkommenssituation einiger Teile der Arbeiterklasse stehen nach wie vor schreiende Ungleichheit, mangelnde Perspektiven für das Gros der Bevölkerung und riesige Probleme in den Städten - Infrastruktur, Wohnsituation und Umweltverschmutzung - gegenüber.

Die Bewegung im Juni hat der Welt auch die unrühmliche Rolle der FIFA und der Weltmeisterschaft vor Augen geführt. Längst nicht alle BrasilianerInnen sind im Fußballfieber blind für Menschenrechtsverletzungen und die Milliardenausgaben zugunsten der Fußballtempel und -priester. So sollen im Zuge der WM-Vorbereitung 170.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben worden sein. Die WM dient auch dazu, die Privatisierung von Flughäfen und Autobahnen zu rechtfertigen.

Ein Rückblick auf die Bewegung

Die Bewegung im Juni hat sich an den Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr entzündet, der in den Großstädten hoffnungslos überlastet, desorganisiert und dazu noch teuer ist. Dazu kamen weitere Probleme wie die ständige Marginalisierung der armen Bevölkerung oder das marode Bildungs- und Gesundheitssystem Organisiert wurden die Demos von der „Bewegung für eine freie Fahrt“ (MPL) und vielen linken Gruppen und Organisationen.

Der Staat antwortete mit Repression. Die Medien haben die Unterdrückung sorgfältig vorbereitet, indem sie täglich von „Vandalen“ und „Kriminellen“ berichteten. Der Gouverneur von Sao Paulo kündigte eine harte Vorgehensweise an. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Über 100 DemonstrantInnen wurden am 13. Juni teils schwer verletzt, über 200 wurden verhaftet. Daraufhin sind die Demos buchstäblich explodiert, auf über eine Million in ganz Brasilien.

Kurz danach sind die Provinz-Regierungen eingeknickt. Sao Paulo und Rio wurden die Fahrpreiserhöhung zurück genommen. Ihnen folgten 11 weitere Städte. Ein riesiger Erfolg für die Bewegung!

Doch gleichzeitig haben die Demos ihren Charakter gewandelt. Waren sie anfangs klar links, wurden jetzt linke Gruppen und Organisationen unterdrückt und die Demos nahmen einen nationalistischen Charakter an. Mit einem Wirrwarr von verschiedenen Forderungen, die plötzlich auf die Demos kamen, war man sich plötzlich nicht mehr sicher, mit wem man eigentlich auf der Straße steht. Rechte und faschistische Kräfte hatten die Demos infiltriert. Da wurde der MPL die Sache zu heiß und sie kündigte an, zu keinen weiteren Demos mehr aufzurufen. Obwohl auch danach noch Demos stattfanden, hat die Intensität stark nachgelassen.

Die „Aktionstage“ der Gewerkschaften

Doch diese zwei intensiven Wochen haben Brasilien verändert. Nicht nur, dass plötzlich  Millionen-Investitionen in den öffentlichen Verkehr flossen. Noch wichtiger war, dass die  Proteste die erste Massenbewegung seit den 1980ern waren, die nicht unter der Führung jener Organisationen stand, die damals aufgebaut worden waren: die Arbeiterpartei PT und der Gewerkschaftsdachverband CUT. Ja, sie richtete sich sogar gegen den PT-Bürgermeister in Sao Paulo und gegen die PT-Bundesregierung.

Die CUT-Bürokratie merkte, dass sie reagieren muss. Nachdem sie sich in 10 Jahren PT-Regierung absolut loyal verhalten hatte und nach rechts gegangen war, hat sie ihre führende Rolle in den sozialen Bewegungen eingebüßt. Als Reaktion darauf wurde ein Bündnis aus verschiedenen Gewerkschaftsdachverbänden geschmiedet und zu zwei bundesweiten Aktions- und Streiktagen aufgerufen: am 11. Juli und am 30. August.

Doch diese Proteste erhielten weit weniger Aufmerksamkeit als die Ereignisse im Juni. Dabei zählen sie zu den größten Gewerkschaftsmobilisierungen in der Geschichte Brasiliens. Am 11. Juli streikten allein in Sao Bernardo über 70.000. Im ganzen Land wurden wichtige Straßen stundenlang blockiert. Der Hafen von Santos, der größte Hafen in Lateinamerika, wurde 5 Stunden bestreikt. Am 30. August streikten u.a. 27.000 ArbeiterInnen in Sao José dos Campos, LehrerInnen aus vier Bundesstaaten, in mindestens sieben Landeshauptstädten wurde der öffentliche Verkehr bestreikt.

Das alles zeigt, dass die Gewerkschaften durchaus nach wie vor über Mobilisierungskraft verfügen. Im Unterschied zum Juni trafen diese Proteste die Kapitalisten auch da, wo es richtig weh tut: in der Produktion.

Dass es trotzdem nicht zur Ausweitung dieser Kämpfe kam, liegt daran, dass die Gewerkschaftsproteste von der Bürokratie kontrolliert werden. Die CUT hat für die PT die Kohlen aus dem Feuer geholt, indem sie gezeigt hat, dass sie ja auch noch „für Protest“ gut ist - um möglichst schnell wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Der Lehrerstreik in Rio und die Privatisierung des Öls

Im September brach dann in Rio eine heftige Auseinandersetzung zwischen den LehrerInnen und dem Bundesstaat aus. Nachdem Verhandlungen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen gescheitert waren, traten die LehrerInnen in den Streik. Bis in den Oktober hinein hielt dann eine der härtesten Arbeitskämpfe der letzten Jahre an. Die Streikbewegung wuchs an und mobilisierte auf ihrem Höhepunkt ca. 40.000 auf eine zentrale Demonstration.

Auch diese Bewegung wurde von der Repression getroffen. Nach dem brutalen Angriff der Polizei auf eine Demonstration wurde die Angelegenheit auf nationaler Ebene vor dem Verfassungsgericht geregelt. Die LehrerInnen bekamen eine Erhöhung von 8 Prozent und eine Rücknahme der  Repressionsmaßnahmen wurde zugesagt. Doch die anschließende Versammlung in Rio verlief tumultartig und äußerte massive Kritik an der Gewerkschaftsführung. Das Verhandlungsergebnis wurde mit 1085 zu 888 Stimmen relativ kapp angenommen. Damit war der Streik nach 77 Tagen zu Ende.

Am 21. Oktober fand in Rio die Versteigerung von Tiefsee-Ölfeldern statt. Es war die größte Öl-Privatisierung seit Jahrzehnten und eine der wichtigsten unter der PT-Regierung. Gegen die Versteigerung gab es einen Streik der ÖlarbeiterInnen und eine große Demo in Rio.

Schlussfolgerungen

V.a. der Streik der LehrerInnen in Rio hat gezeigt, dass die Kohlen vom Juni noch glühen, und ein Feuer jederzeit wieder ausbrechen kann, weil die großen Probleme in Brasilien weiterbestehen und die Forderungen der Gewerkschaften nicht erfüllt wurden. Dazu ist das Wirtschaftswachstum seit zwei Jahren auf nur noch ein Prozent eingebrochen. Auch wegen der hohen Staats-Verschuldung sehen sich viele der zuletzt besser gestellten ArbeiterInnen wieder in ihrem Standard bedroht.

Abhilfe für die Wirtschaftsflaute soll die WM im nächsten Jahr bringen. Doch genau diese könnte auch zum Problem werden. Die Ausgaben für das Spektakel waren schon ein Thema auf den Demonstrationen im Juni. Auch während der Spiele des „Confed-Cups“ fanden größere Demos statt. In allen WM-Städten gibt es „Volkskomitees zur WM“, die gegen Missstände mobilisieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese vor der WM wieder größere Ausmaße annehmen. Dazu kommt, dass im August Präsidentschafts- und Gouverneurswahlen sind.

Die Demos im Juni haben eine generelle Führungsschwäche offenbart. Zwar waren es die ersten Massenmobilisierungen, die sich von den reformistischen Führungen gelöst haben; doch in Abwesenheit einer demokratischen Struktur und einer darauf basierenden alternativen Führung konnte die Bewegung leicht durch reaktionäre Kräfte beeinflusst werden. Das muss der brasilianischen Linken eine Lehre sein!

Nachdem eine neue Generation von AktivistInnen entstanden ist, die in der PT nicht mehr ihre traditionelle Führung sehen, stehen diese vor der Aufgabe, eine neue aufzubauen.  Die Ideologie „keine Partei“, die sich als entscheidender Hebel der Rechten erwiesen hat, muss entschieden zurück gewiesen werden. Dafür müssen auch MPL und Co. in die Verantwortung genommen werden.

Sobald es wieder zu einer Massenmobilisierung kommt, müssen Stadtteilkomitees gegründet werden, um die Aktionen zu koordinieren, Forderungen zu diskutieren und demokratisch zu entscheiden. Die „Volkskomitees“ sind dafür gute Ansätze.

Die brasilianische Linke muss die Mobilisierungen auch dazu nutzen, eine neue politische Kraft aufzubauen: eine revolutionäre Partei!

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Nr. 184, November 2013
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*  Koalitionsverhandlungen: Für Frauen nichts zu lachen
*  Heile Welt
*  Tarifrunde Einzelhandel: Es steht Spitz auf Knopf
*  Norgren-Großbettlingen: Vom Streiken und Tricksen
*  Berliner GEW-Streik: Welche Perspektiven?
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*  Argentinien: Wie weiter für die "radikale Linke"?
*  Brasilien: Boom auf tönernen Füßen
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*  Revolutionärer Lesezirkel: Klassenkampf an die Uni tragen
*  Nachruf auf eine Genossin: Michaela hat uns verlassen
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