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Gysi und Israel

Strammstehn vor der Staatsräson

Hannes Hohn, Neue Internationale 130, Juni 2008

Anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels referierte Gregor Gysi über „Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel.“ Bedeutsam ist Gysis Rede, weil sie versucht, die Haltung der Linkspartei zum Nahost-Konflikt und zu Israel zu bestimmen - aus mehreren Gründen. Erstens muss die LINKE in Hinsicht auf die angestrebte „linke“ Regierungskoalition mit SPD (und Grünen) auf Bundesebene eine in sich konsistente Politik in einer solch zentralen weltpolitischen Frage haben. Zweitens muss die Mitgliedschaft der LINKEN „auf Kurs“ gebracht werden, was bei Gysi so klingt:

„Zusammenfassend würde ich also behaupten wollen, dass der einstige Antiimperialismus in linken Diskursen (...) nicht mehr sinnvoll platziert werden kann.“

Vor allem aber geht - wie wir zeigen werden - darum, der Bourgeoisie zu signalisieren, dass auch eine Regierung mit der LINKEN keinen Bruch mit der bisherigen imperialistischen Außenpolitik der BRD in der Nahost-Frage anstrebt.

Irrungen und Wirrungen

Gysis Darstellung des „Antiimperialismus“ beginnt mit einem falschen Verständnis von Imperialismus.

„Die ökonomische Basis des Imperialismus war aus Sicht des damaligen marxistischen Denkens in der Rolle der Kolonien als Absatzmarkt und Rohstoffquelle zu lokalisieren.“

Die ökonomische Basis des Imperialismus lag natürlich nicht in den Kolonien, sondern in den Monopolen, in der Dominanz des Finanzkapitals. Auch ging es nicht nur um Handel, sondern v.a. um Export von Kapital. Daran hat sich heute, da die Welt überwiegend aus halbkolonialen Ländern besteht, wenig geändert. Im Gegenteil: die „Globalisierung“ hat die Internationalisierung und Verflechtung von Produktion, von Waren-, Geld- und Kapitalströmen immens erhöht. Gysi dagegen stellt einen ganz anderen Trend fest:

„Spätestens aber mit dem Eintritt der kapitalistischen Entwicklung in die ‚fordistische' Phase hat die Bedeutung der Kolonie als Absatzmarkt nachgelassen, da gerade der Binnenmarkt in seiner Bedeutung für die kapitalistische Akkumulation zugenommen hatte.“

Doch nach dem Ende des „langen Booms“ der „fordistischen Phase“ kam - die „Globalisierung.“ Die Entwicklung der USA, Japans, aber auch der BRD nach 1945 - die drei größten Ökonomien der Welt - sind gute Beispiele dafür, das wachsender Binnenmarkt und Weltmarktexpansion nicht nur eng miteinander verwoben waren und sind, sondern dass das Wachstum des kapitalistischen Weltmarktes eine wesentliche Voraussetzung für die Kapitalakkumulation im Inneren war und ist.

Indem Gysi suggeriert (von beweisen kann keine Rede sein!), dass der Imperialismus heute qualitativ „anders funktioniert,“ versucht er zu motivieren, dass auch der Antiimperialismus obsolet sei.

Antiimperialismus

Gysi konstruiert daher auch seine eigene Entwicklungsgeschichte des Antiimperialismus:

„Der Antiimperialismus sollte die ökonomische Dauerkrise des Kapitalismus in eine politische Krise transformieren und den Sozialismus auf die Tagesordnung setzen. Insofern ist der Antiimperialismus die damals aktuelle Form des Kampfes um den Sozialismus gewesen.“

Und weiter: „Rückblickend kann man sagen, dass die Hoffnungen auf soziale Emanzipation, die mit der Dekolonialisierung verbunden waren, sich wohl kaum erfüllt haben (...) Die praktische Wirklichkeit der erfolgreichen nationalen Befreiungsbewegungen belehrt häufig recht eindringlich, dass durch die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus die innige Verklammerung von Antiimperialismus und Sozialismus aufgelöst worden ist.“

Gysis etwas verquastes Deutsch soll wohl bedeuten, dass der bürgerliche oder klein-bürgerliche Antiimperialismus nicht zum Sozialismus geführt hat. Wie auch?! Doch Gysi nimmt dieses Faktum als Anlass, dass Kind mit dem Bade auszuschütten, sprich den Antiimperialismus per se zu entsorgen.

Tatsächlich war der Kampf gegen den Imperialismus, waren nationale Befreiungsbewegungen immer auch Bewegungen, in denen verschiedene Klassen um die Führung gekämpft haben. Das war Lenin, Trotzki u.a. Führern der Kommunistischen Internationale - anders als Gysi - sehr wohl klar.

Daher war der Kampf gegen den Imperialismus, war Antiimperialismus immer mit dem Kampf um die proletarische Führung in solchen Kämpfen verbunden. Die taktischen Bündnisse des Proletariats, der armen Bauern usw. mit der vom imperialistischen Kapital benachteiligten nationalen Bourgeoisie bzw. dem Kleinbürgertum dienten im engeren Sinn dem Kampf für Unabhängigkeit und gegen die Herrschaft des Imperialismus. Im weiteren Sinn war sie natürlich Teil des allgemeinen Klassenkampfes des Proletariats gegen den Kapitalismus und um die Führung über die nicht-proletarischen Massen.

Gysi blendet diesen revolutionären Zusammenhang aus und unterschiebt den Antiimperialisten und Internationalisten, dass diese davon ausgegangen waren oder wären, dass dieser Kampf automatisch zum Sozialismus führen würde.

Gemäß der Permanenten Revolution können in der imperialistischen Ära die bürgerlich-demokratischen Aufgaben, darunter auch die nationale Befreiung, letztlich nur gelöst werden, wenn das Proletariat die Führung im Kampf und schließlich die Macht übernimmt. Geschieht dies nicht, führt die antiimperialistische Bewegung - die unter Führung der nationalen Bourgeoisie steht - von selbst niemals zum Sozialismus.

Empirismus als Alternative

Hat Gysi seine „Herleitung“ von Imperialismus und Antiimperialismus einmal erledigt, so präsentiert er den nächsten Taschenspielertrick.

„Sind konkrete Konfliktbeurteilungen ohnehin nicht hilfreicher für politische Stellungnahmen zu Konflikten als abstrakte Vorentscheidungen? (...) Ich sehe keine Möglichkeit, konkrete Konfliktbeurteilungen mit abstrakten Vorentscheidungen auf irgendeine rational akzeptable Weise verträglich zu gestalten.“

Lenin und andere MarxistInnen bestanden immer auf einer konkreten Analyse konkreter Verhältnisse. Die Imperialismustheorie diente jedoch - wie jedes begriffliche und theoretische Instrumentarium - hinter den Schein der Phänomene zu dringen und sie zu verstehen.

Die Ablehnung „abstrakter Vorentscheidungen“ ist ein Popanz, den Gysi aufbaut, um seine eigene „Vorentscheidung“ - grundsätzliche Ablehnung des antiimperialistischen Kampfes - zu begründen.

Und warum das alles?

„Vielmehr sollte uns ausschließlich interessieren, wie Konfliktsituationen so bearbeitet und in stabilere Zustände geführt werden können, dass der Weg der militärischen Auseinandersetzung nicht bzw. nicht wieder beschritten wird.“

Im Klartext heißt das: Ablehnung jedes wirklich konsequenten, d.h. bewaffneten Kampfes gegen den Imperialismus - zugunsten „stabilerer Zustände,“ also einer vom Imperialismus beherrschten und ausgeplünderten Welt. Gysis Ideologiekritik führt also schnurstraks zum Kniefall vor den herrschenden Verhältnissen.

Das wirkt vor dem Hintergrund der immer zerstörerischeren Auswirkungen der kapitalistischen Globalisierung und des „Krieges gegen den Terror“ umso abstoßender - und ist illusorisch dazu, weil der Verzicht auf den antiimperialistischen Kampf eben nicht eine Ära des Friedens einläutet, sondern nur ein noch aggressiveres Vorgehen des Imperialismus ermöglicht.

Sicher können wir Gysi zustimmen, wenn er meint, dass Hamas oder Hisbollah weitgehend reaktionären, anti-emanzipatorischen Ideologien folgen. Das ist aber weder neu, noch umstritten. Ihm geht es dabei aber auch gar nicht um die Kritik der reaktionären Führungen nationaler Befreiungskämpfe. Es geht ihm schlicht und einfach darum, die Legitimität des  Kampfes der PalästinenserInnen gegen nationale Unterdrückung oder der Hisbollah gegen die  imperialistische und zionistische Aggression in Frage zu stellen. Gemäß Gysis Logik hätte die Hisbollah sich der Aggression Israels nicht widersetzen dürfen und die zionistische Mörder-Armee hätte schalten und walten können, wie sie wollte.

Indem er den berechtigten Kampf gegen nationale Unterdrückung ablehnt, stellt sich Gysi aber unwillkürlich auf die Seite der Unterdrücker.

Was ist Israel?

Obwohl Gysi kritisiert, dass Israel als Unterdrücker der PalästinenserInnen auftritt, verteidigt er nicht nur massiv das Existenzrecht Israels. Er unterstützt zugleich auch wesentliche zionistische Begründungen dafür.

„Die gescheiterte politische Emanzipation der Jüdinnen und Juden in den europäischen Nationalstaaten und insbesondere der Holocaust haben das Projekt der Gründung eines jüdischen Nationalstaats zwingend erforderlich gemacht.“

Falsch! Die Emanzipation der Juden war und ist grundsätzlich nur durch Überwindung des Kapitalismus möglich - eine These, die u.a. auch von den proletarisch-sozialistisch orientierten jüdischen Organisationen wie dem „Bund“ vertreten wurde. Darüber kein Wort von Gysi!

Davon abgesehen hat unter bürgerlichen Verhältnissen die Integration von JüdInnen in den USA durchaus „funktioniert“ und hat ihnen bessere und sicherere Lebensverhältnisse beschert als in Israel. Von „zwingend“ und „alternativlos“ kann also keine Rede sein!

Die Gründung des Staates Israel wäre ohne imperialistische Unterstützung und Neuordnung des Nahen Ostens zur Beherrschung des arabischen Raums und seiner Ölreserven nicht möglich gewesen. Von Beginn an ist die Existenz Israels untrennbar mit dieser Rolle als Vorposten des Imperialismus verbunden. Es ist im Grunde nur zynisch gegenüber dem jüdischen Volk zu suggerieren, dass die Schaffung eines rassistischen Siedlerstaates, der nur als Vorposten der westlichen Mächte existieren kann, irgendeine dauerhafte Sicherheit des jüdischen Volkes bedeuten könnte.

Gysi leugnet nicht, dass die Gründung und Entwicklung Israels untrennbar mit der Vertreibung und Unterdrückung der PalästinenserInnen verbunden ist. Doch er relativiert das:

„Aber auch das Flüchtlingsproblem, obwohl nicht von gleichem Rang, hat den Status einer notwendigen Bedingung für eine Friedenslösung. (...) Israel hat in seiner Geschichte des öfteren das Völkerrecht verletzt (...) mit der Annexion Westjordanlands und den Golan-Höhen und durch die Siedlungspolitik. (...) Das Existenzrecht Israels (...) ist in der Tat eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen einer stabilen Friedenslösung. Aber auch das Flüchtlingsproblem, obwohl nicht von gleichem Rang, hat den Status einer notwendigen Bedingung für eine Friedenslösung. Israel muss sich dazu durchringen, erst einmal anzuerkennen, dass es eine wesentliche Mitverantwortung am palästinensischen Flüchtlingsproblem trägt.“

Natürlich (?!), sagt Gysi, hat das Flüchlingsproblem nicht denselben Rang wie das Existenzrecht Israels. Hier erweist sich Gysi einfach als Rassist, dem die vermeintlichen Interessen der Juden höher stehen als jene der Palästinenser. Auch habe Israel nur eine „Mitverantwortung“ für die Vertreibung. Willkommen beim Kongress der Weißwäscher, Genosse Gysi!

Was ist die politische Schlussfolgerung: Israels Existenz als rassistischer Staat in der Funktion eines Kettenhundes des Imperialismus im Nahen Osten ist unantastbar, er soll aber friedlicher und weniger unterdrückerisch und rassistisch sein.

Unterm Strich bedeutet Gysis Position: Zweistaatenlösung und Weiterführung des „Friedensprozesses“ - also genau jener Politik, die seit Oslo die Hauptrichtung imperialistischer, auch deutscher imperialistischer Politik ist. Auf dem Altar dieser „Konfliktlösung“ werden die sozialen und nationalen Interessen der PalästinenserInnen (deren wesentlicher Teil das Rückkehrrecht ist) geopfert. Ein Palästinenserstaat „neben“ Israel wäre zudem in keiner Hinsicht lebensfähig und allenfalls ein Bantustan von Israels Gnaden.

Hinzu kommt, dass, wie auch Gysi, weiß, seit dem Osloer „Friedensprozess“ der zionistische Staat seine Grenzen weiter in palästinensische Gebiete verschoben hat, dass die Anzahl der zionistischen Siedlungen in den besetzten Gebieten drastisch gestiegen ist usw.

Es ist bezeichnend, dass in Gysis langer Rede kein einziges Wort über eine antikapitalistische Perspektive verloren wird. Ohne diese Perspektive fällt Gysis Fazit ernüchternd aus:

„Wer nur einen Staat für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser mit demokratischer Struktur will, akzeptierte damit heute, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser die Mehrheit stellten, alles besetzten und die Verfolgungen, Unterdrückungen und Pogrome gegen Jüdinnen und Juden (...) wieder begännen, nicht zu verhindern wären.

Ein multinationaler Staat würde also per se am Antisemitismus der AraberInnen scheitern? Wie ist dann zu erklären, dass beide Volksgruppen vor der Gründung und der damit notwendig verbundenen Aggressionspolitik Israels friedlich zusammen lebten? Auch hier outet sich Gysi wieder als Wiederkäuer anti-muslimischer rassistischer Ressentiments!

„Wer dagegen einen Staat für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser (...) unter bestehenden Herrschaftsverhältnissen will, akzeptierte damit, dass Palästinenserinnen und Palästinenser unterdrückt werden und ein Apartheidsregime entstünde.

Fazit

Das ist richtig, doch das heißt nicht weniger, als dass eine kapitalistische Ordnung weder für JüdInnen, noch für PalästinenserInnen eine Perspektive bietet. Damit widerlegt Gysi ungewollt selbst seine vorher vertretene Lösung mit zwei-Staaten, denn diese wären laut Gysi ja wohl auch bürgerliche Staaten?!

Gysi geht es letztlich darum, in der wichtigen Nahost-Frage zu bestimmen, wie die LINKE als Regierungspartei handeln müsste. Seine Schlussbemerkung ist - anders als viele nebulöse und unklare Passagen im Text - ganz klar:

„Wenn auch nur die Hälfte dessen stimmen sollte, was ich bisher insbesondere zu den Verpflichtungen, die aus der deutschen Geschichte resultieren, gesagt habe, dann ist auch der Handlungsspielraum der deutschen Linken äußerst begrenzt. Generell gilt, dass wir uns primär auf die Politik der Bundesregierung beziehen. Die können wir für richtig oder falsch, für ausreichend oder nicht ausreichend halten. Entsprechend müssen unsere Aktivitäten ausfallen.

Gerade in parlamentarischen Aktivitäten sollten wir nur Forderungen formulieren, von denen wir überzeugt sind, dass wir sie, wenn wir in einer Bundesregierung wären, auch tatsächlich umsetzten.“

Danke für Ihre Ausführungen, Genosse Außenminister der Bundesrepublik Deutschland!

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