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Gewerkschaften

Kampf oder Friedenspflicht?

Frederik Haber, Neue Internationale 84, Oktober 2003

Der Chef lädt zur Betriebsversammlung. Mit dramatischen Worten erklärt er der Belegschaft die schwierige wirtschaftliche Lage. Ein Schließung des Betriebes, wahlweise auch die Verlagerung oder Massenentlassungen, seien unumgänglich. Rettung sei nur möglich, wenn die Belegschaft 3 Stunden länger pro Woche arbeite und 15% Lohnkürzung akzeptiere. In einer freien Abstimmung sofort nach dieser Rede stimmen 70 % für Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerung.

Heute wäre so etwas illegal und nur eine böse Zukunftsvision. Doch das soll sich ändern. Deutschland soll entfesselt werden!

In den letzten Wochen haben CDU/CSU und die FDP Gesetzesentwürfe vorgelegt, welche die Tarifverträge unterhöhlen sollen.

Die Zeit scheint günstig. Nach dem Streikabbruch im Osten und der abgewürgten Mobilisierung gegen die Agenda 2010 sind die Gewerkschaften, vor allem die IG Metall, in einer Krise.

Schröder und die SPD-Bundestagsfraktion machen eine Politik, welche die Wähler der SPD gerade verhindern wollten, während die SPD-Linke ihr nächstes Zurückweichen vorbereitet.

Reformen für das Kapital!

Im September hat die Regierung das Kündigungsschutzgesetz gelockert; ein ohnehin schwaches Schutzgesetz, das mitnichten vor Kündigung schützt. Es regelt lediglich die Form der Entlassung, verlangt, dass Gründe dafür genannt werden müssen und legt Kriterien fest, in welcher Reihenfolge Kündigungen zu erfolgen haben. Schon Kohl hatte dieses Schutzgesetz auf Betriebe mit über 20 Beschäftigten beschränkt.

Eine der wenigen sozialen Taten von Rot-Grün war es, den alten Zustand - Mindestgröße 5 Beschäftigte - wiederherzustellen. Jetzt wird die Grenze de facto auf 10 heraufgesetzt, da jeder Kleinbetrieb bis zu 5 befristet Beschäftigte einstellen kann, die nicht mitgezählt werden.

So harmlos diese Verschlechterung erscheint, sie ist ein Auftakt dafür, die Arbeitsbeziehungen massiv zu ändern. Während die SPD sich an die Zerstörung dessen macht, was sie selbst aufgebaut hat, schmieden andere schon neue Plänen.

"Für ein attraktives Deutschland - Freiheit wagen - Fesseln sprengen" heißt der Programmentwurf des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). "Zu wenig z.B. nach Qualifikation, Region oder Rentabilität der Unternehmen differenzierte Löhne auf hohem Niveau sind die zentrale Ursache für Arbeitslosigkeit. ... Der Vertrag zwischen mündigen Bürgern muss zum Leitbild werden. Ein freier, entfesselter Arbeitsmarkt....wird der Eckstein in der Wachstumsstrategie für Europa sein." Die Vereinigung derer, die in den letzten Jahren Hunderttausende Arbeitsplätze zerstört haben, belehrt uns: "Die Strategie der Gewerkschaften ... ist unsolidarisch und hat zu hoher Arbeitslosigkeit geführt. ... Die Attraktivität Deutschlands für Investoren, die Arbeitsplätze schaffen wollen, verlangt niedrige Steuern und Abgaben sowie noch deutlich mehr Differenzierungsmöglichkeiten in der Lohn- und Arbeitszeitpolitik." Es geht natürlich um Differenzierung nach unten, denn: "Die schmalen Renditen in Deutschland sind dafür ein Indiz."

Flexibilisierung

Im entsprechenden Kapitel werden die Herren konkret: "Weitere Flexibilisierungsspielräume müssen geschaffen werden, z.B. durch die Aufsplittung der Entgelte in Grundlohn und ertragsabhängige Lohnbestandteile, die Festlegung niedrigerer Einstiegstarife für Arbeitslose oder wirksame Öffnungsklauseln. Nur so haben die Flächentarife langfristigen Bestand. Erste positive Ansätze sind die abgesenkten Einstiegstarife für Langzeitarbeitslose und Berufsanfänger in der chemischen Industrie; dort kann auch die tarifliche Jahresleistung über freiwillige Betriebsvereinbarungen erfolgsabhängig gestaltet werden. Das ist nur der Anfang...."

Weiter heißt es: "Der Flächentarifvertrag sollte durch betriebliche Vereinbarungen ergänzt werden. Dies bedeutet ausdrücklich nicht die Abschaffung des Flächentarifvertrages, wohl aber seine entschiedene Öffnung. ...Unternehmen und Beschäftigte sollen die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen dafür vorfinden, davon abzuweichen.

Damit hätten es die Betriebsparteien in der Hand, betriebliche Bündnisse für Arbeit abzuschließen und für Löhne und Arbeitszeit abweichende Vereinbarungen zu treffen."

Gewerkschaft Ade?

Heute regelt das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) im § 77 Abs.3, dass der Betriebsrat keine Betriebsvereinbarungen mit dem Unternehmer abschließen darf zur Regelung von Arbeitsbedingungen, die üblicherweise in Tarifverträgen geregelt werden. Im §4 des Tarifvertragsgesetz heißt es:" Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten."

Diese Gesetze stellen klar, dass beispielsweise die Dauer der wöchentlichen Arbeitzeit, die in einem Tarifvertrag geregelt ist, also zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband, nicht innerhalb eines Betriebes zwischen Betriebsrat und Unternehmer geändert werden kann. Selbst wenn der Unternehmer nicht Mitglied im Arbeitgeberverband ist, muss er die Arbeitszeit mit der zuständigen Gewerkschaft regeln. Das hat gute Gründe.

In der Bundesrepublik wurde gezielt ein System aufgebaut, das die Gewerkschaften aus dem Betrieb heraushält. Dazu bediente sich die deutsche Bourgeoisie der Betriebsräte, die ursprünglich als Kampforgane der ArbeiterInnen in der Revolution 1918/19 aufgetaucht waren. Schon in der Weimarer Republik wurden sie auf das Betriebswohl festgelegt.

Unter Adenauer wurde das perfektioniert. Das BetrVG gewährt Betriebsräten Kündigungsschutz, Zeit zur Erledigung ihrer Arbeit und bezahlte Bildungsmöglichkeiten. Für GewerkschafterInnen gibt es nichts davon.

Die Folge: Die Gewerkschaften machen ihre Arbeit im Betrieb in erster Linie über die Betriebsräte, Gewerkschaftsgruppen und gewerkschaftliche Vertrauensleute spielen, wenn sie überhaupt existieren, die zweite Geige.

Aber gerade, weil die Betriebsräte auf die "vertrauensvolle Zusammenarbeit" festgelegt wurden und keine Kampfmassnahmen, z.B. Streiks, organisieren dürfen, musste dieser Bereich den Gewerkschaften überlassen werden. Nur sie dürfen Tarifverträge abschießen und dafür die nötigen Kampfmassnahmen organisieren. Die Stärke der Arbeiterklasse in Deutschland hat allerdings dazu geführt, dass über diese Tarifverträge, die bundesweit oder regional als Flächentarife abgeschlossen wurden und werden, einen hohen Standard an Löhnen und Gehältern und bei den sonstigen Arbeitsbedingen erreichten.

Aber selbst dieses hohe Niveau stellte für das deutsche Kapital lange kein Problem dar. Ein hohes Lohnniveau zwingt zur Rationalisierung. In der wirtschaftlichen Wachstumsphase sorgte das dafür, dass deutsche Technologie weltweit führend war.

Über den flächendeckenden Tarif wurden die Unternehmen ausgeschaltet, die nicht mithalten konnten. Andererseits sorgte der Flächentarif für vergleichsweise geringe Ausfälle durch Streiks, denn er ist an die Friedenspflicht gekoppelt: Solange ein Tarifvertrag läuft, darf zu dem darin geregelten Thema nicht gestreikt werden.

Jetzt aber sollen die Gewerkschaften ganz marginalisiert werden. Wer sollte noch für Flächentarife kämpfen, die permanent durchlöchert werden können? Betriebsräte und Belegschaften werden völlig der Erpressung durch die Unternehmer ausgeliefert und die durch Verlängerung der Arbeitszeit gesteigerte Arbeitslosigkeit tut ein Übriges. Nur eines soll der Flächentarif noch erfüllen: das Streikverbot der Friedenspflicht aufrecht erhalten.

Globalisierung

In Zeiten der Globalisierung reicht dem Kapital der alte Klassenkompromiss nicht mehr. Die Renditen sind zu niedrig, stellt der BDI fest und legt auch dar: " In Amerika lag die Pro-Kopf-Produktion im Jahr 2001 um ein Drittel höher als in Deutschland. 1990 war die Wirtschaft der USA 3,7 mal so groß wie die deutsche. Inzwischen ist sie fünfmal so groß und der Abstand wächst."

Vermutlich sind die Zahlen propagandistisch gefälscht. Aber klar ist eines: Es geht um die Konkurrenz mit dem US-Imperialismus, er ist der Maßstab. So beginnt das Strategiepapier folgerichtig mit der Erklärung von Lissabon: "Die Europäische Union hat sich auf der Ratstagung am 24.März 2000 in Lissabon das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Erde zu werden. ... Ob die EU das Ziel erreicht, hängt wesentlich von Deutschland ab."

Mit der EU hat das deutsche Kapital dem US-Imperialismus den Kampf angesagt und der erste Gegner, der erledigt werden muss, ist die deutsche Arbeiterklasse.

Die Spitzen der Gewerkschaften haben sich dem Gesamtprogramm 2010 längst untergeordnet. Nicht umsonst nennt die IG Metall ihr Zukunftsmanifest jetzt "Offensive 2010". Aber auf die konkreten Angriffe reagieren sie feige.

Erbärmliche Reformisten

Das Kapital braucht mehr Flexibilisierung? Aber bitte, wir sind doch schon flexibel! Die IG Metall verweist auf Hunderte verschiedener regionaler und branchenweiter Tarifverträge, Hunderte Haustarifverträge. "Ferner enthalten die IG Metall-Tarifverträge bereits heute Bestimmungen, wonach die Tarifvertragsparteien zur Beschäftigungssicherung von den vereinbarten Tarifregelungen abweichen könnten.", sagt IG Metall-Chef Peters (IGM Homepage).

Die Gewerkschaft sei ein Hindernis im weltweiten Konkurrenzkampf? "Die Tarifautonomie hat an den deutschen DC-Standorten erfolgreiche betriebliche Bündnisse ermöglicht. Sie wurden in der Regel im Rahmen der gültigen Tarifverträge getroffen und haben eine Personalflexibilität in den PKW- und Nutzfahrzeugwerken erzielt, Kosten gespart und Beschäftigung gesichert." so DaimlerChrylser-Gesamtbetriebsratschef Klemm (Metall 10/2003)

Dennoch gehen die Angriffe natürlich auch den reformistischen Gewerkschaftsführern zu weit. Sie wollen nicht überflüssig werden. Deshalb mobilisieren sie zaghaft. Vor allem, um die SPD bei der Stange zu halten. Schröder wie Clement hatten ihrerseits schon gedroht, dass die Gewerkschaften freiwillig den Flächentarif weiter öffnen müssten, aber noch kann die SPD nicht selbst zur offenen Bekämpfung der Gewerkschaften übergehen. Aber die Gewerkschaftsführer sehen die reale Gefahr, dass im Zuge der Reformvorhaben die Tarifautonomie in einem Großen-Koalitions-Gemauschel erledigt wird. Also hat die IG Metall bescheidenen Widerstand angekündigt.

Selbstverständlich unterstützen wir jeden Widerstand gegen die Offensive des deutschen Imperialismus. Die ArbeiterInnen müssen verstehen, dass es nicht nur die Feigheit oder Korruptheit ihrer Führer ist, die effektiven Widerstand verhindert, sondern weil sie insgesamt dem Projekt einer Weltmacht Deutschland zustimmen.

Genauso wichtig ist es, die Aktionen zur Verteidigung der Tarifautonomie mit dem Kampf gegen die Agenda 2010, die Gesundheits- und die Rentenreform zu verbinden.

Erstens hängt das zusammen. Zweitens stärkt das die Mobilisierung, weil diese Angriffe die Massen direkter treffen und zwar die gesamte Arbeiterklasse: im Betrieb und außerhalb. Drittens müssen wir das Scheißspiel der sozialdemokratischen Gewerkschafter durchkreuzen, die jetzt gern CDU/CSU und FDP angreifen, um die Regierung aus der Schusslinie zu halten.

Wir fordern und fördern betriebliche Kampfaktionen: Nur Klassenkampf sichert Rechte und Errungenschaften, nicht das Preisen des "Sozialen Friedens". Die Basis kann und muss sich einmischen, nur von unten wird die Krise der Gewerkschaft überwunden. Aus den Teilen der Gewerkschaft, die heute den Kampf aufnehmen und führen wollen, muss sich eine kämpferische Basisbewegung bilden: das ist der einzige Weg, die Manöver der Führung, das Abwürgen von Streiks und Protesten, zu bekämpfen.

Revolutionäre Taktik

Wir, die Gruppe Arbeitermacht, wenden uns an alle, die so wie wir sehen, dass es die Unterordnung unter die Bedürfnisse des (deutschen) Kapitals ist, welche die Reformisten zu Verrätern macht: Bauen wir eine revolutionäre Fraktion in den Gewerkschaften auf, die die Errungenschaften der deutschen Arbeiterklasse verteidigt, diese aber von den Fesseln wie Friedenspflicht und vertrauensvoller Zusammenarbeit befreit.

Auch die Arbeiterklasse hat Fesseln zu sprengen - jene, die sie an den Kapitalismus binden!

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Nr. 84, Oktober 2003

*  Demo am 1. November: Heißer Herbst für Schröder!
*  Gewerkschaften: Kampf oder Friedenspflicht?
*  Heile Welt
*  München: Braune Terroristen, blinder Staat
*  Brasilien: Lulas Weg nach Rechts
*  Volksfront in Brasilien: Vierte Internationale regiert mit
*  30. Jahrestag des Pinochet-Putsches: Vom Traum zum Trauma
*  Palästina: Verteidigt die Intifada-AktivistInnen!
*  27. September: Aktionstag ohne Action
*  Die SAV und der Antikapitalismus: Global daneben
*  WTO-Gipfel in Cancún: No pasarán!
*  Europäisches Sozialforum: Auf nach Paris!